Die Brodyer Synagoge an der Leipziger Keilstraße. Dreimal täglich lädt Rabbiner Zsolt Balla hier zum Gebet ein, auch wenn wochentags nur wenige Gläubige kommen. Oftmals betet er alleine:
"Wir sind eine Einheitsgemeinde. Ich bin ein orthodoxer Rabbiner. Wir versuchen, für jeden einzelnen Menschen ein Ort zu sein, wo man beten kann. Wie der Prophet sagt: 'Ki weit, ti beit tefilah le chol haolamim' - 'mein Haus ist ein Gebetshaus für alle Völker.' Wir haben auch nichtjüdische Besucher. Wir versuchen eine sehr offene Atmosphäre, aber zugleich auch traditionelle Atmosphäre zu gestalten."
Die umlaufende Frauen-Empore wurde früher kaum genutzt. Erst seit sich die Leipziger Gemeinde wieder mehr dem orthodoxen Ritus zugewandt hat, sitzen Frauen und Männer im Gottesdienst getrennt. Hölzerne Säulen trennen die Seitenschiffe vom Hauptraum. Die Beter blicken auf maurische Ornamente. Davidsterne schmücken die goldfarbenen Gitter vor der Bima und dem Thoraschrein. Einzigartig der Stil, deutschlandweit.
Gott soll Frieden stiften
"Ein Jahr, zwischen 2009 und 2010, habe ich der Gemeinde als Besucher-Rabbiner gedient, und seit September 2010 sind wir nach Leipzig gezogen", sagt Zsolt Balla." Meine Frau ist nach Leipzig zurückgezogen. Sie ist hier aufgewachsen. Ich bin in diese Gemeinde eingeheiratet."
Der Name Brody-Synagoge geht auf galizische Pelzwarenhändler zurück, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts in der alten Messestadt ansiedelten. Weil sie zwischen normalen Stadthäusern steht, wurde im November 1938 zwar die Inneneinrichtung von den Nazis demoliert, der Bau aber blieb erhalten, fortan genutzt als Seifenfabrik. Aber bereits im Oktober 1945 feierte die Gemeinde hier wieder Gottesdienste.
"Und das freut uns, dass Judentum auch Teil dieser Gesellschaft ist, Teil von diesem alltäglichen Leben. Ich bin einfach dankbar."
Äußerlich ist die Synagoge kaum als solche zu erkennen. Ein Hinweis sind die Rosetten der hohen, kunstverglasten Fenster. Seit Beginn der Corona-Pandemie bietet Rabbiner Balla regelmäßig digitale Gottesdienste an. So bekommen auch Außenstehende Einblick in den neomaurischen Betsaal aus dem späten 19. Jahrhundert. Immer wieder greift der 42-Jährige zur Gitarre, wie hier am Ende der Amida, dem Hauptgebet des Gottesdienstes.
"Das Hauptgebet endet mit den berühmten Wörtern: Der in seinen Höhen Frieden stiftet, sollte für uns hier Frieden stiften und für ganz Israel, und wir sollen Amen sagen, Ose schalom bimrumav."
Der Vater war Offizier
1979 geboren wuchs Zsolt Balla in Budapest auf, als Kind einer systemtreuen, religionsfernen Familie: "Mein Vater - seligen Angedenkens - war ein Soldat, ein Oberstleutnant der ungarischen Armee." Als Kind habe er die Wochenenden oft auf der Basis verbracht, die sein Vater als Kommandeur befehligte, erzählt der Rabbiner. Vor ein paar Jahren ist er gestorben: "Und ich muss sagen, dass meine Erinnerung, natürlich, ich bin der Sohn des Kommandanten, meine Erinnerung ist die, dass er ziemlich beliebt und verehrt war auch von den kleinen Soldaten. Er hat immer jede einzelne Person mit großem Respekt behandelt. Das war für mich immer ein Vorbild."
"Es ist ein bisschen länger geworden"
Die allmähliche Auflösung des sozialistischen Systems erlebte Zsolt Balla als Neunjähriger. In dieser Zeit spielten die Kirchen auch in Ungarn eine immer größere Rolle. Als seine Mutter erfuhr, dass sich ihr Sohn einer christlichen Gemeinschaft anschließen wollte, klärte sie ihn über ihre und damit auch seine jüdische Herkunft auf. Statt in die Kirche ging Zsolt Balla von da an in die Synagoge.
Nach dem Abitur studierte er erst einmal Wirtschaftsingenieurwesen an der TH Budapest, beschäftigte sich aber nebenbei immer intensiver mit der jüdischen Religion. Mit dem Diplom in der Tasche ging er 2002 nach Berlin.
"Ich wollte nur ein Jahr in einer klassischen Talmud-Hochschule lernen, das war die Jeschiwa, später das Rabbiner-Seminar zu Berlin", erinnert sich Balla. "Ich bin für ein Jahr gekommen. Es ist ein bisschen länger geworden. Aber ich bin sehr, sehr glücklich."
Zusammen mit Avraham Radbil gehörte Zsolt Balla zu den ersten beiden Absolventen des damals neugegründeten orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin. Ordiniert wurde er 2009 in München. Inzwischen ist der Vater von drei Kindern Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz und Leiter des Instituts für Traditionelle Jüdische Liturgie Leipzig.
"Wir Militärrabbiner sind Zivilisten"
Als sächsischer Landesrabbiner arbeitet er eng mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden Dresden, Chemnitz und Leipzig zusammen. Das Amt des Militär-Bundesrabbiners übernimmt er zusätzlich. Denn obwohl sie bei der Bundeswehr sind, bleiben Militärrabbiner trotzdem Zivilisten, erklärt Balla: "Das ermöglicht uns, auf Augenhöhe zu sprechen mit jedem Soldaten. Das verpflichtet uns, für jeden Soldaten auch da zu sein."
Auch für Militärangehörige anderer Konfessionen und Atheisten, betont Zsolt Balla. Dabei ist nicht einmal ganz klar, wie viele jüdische Soldaten und Soldatinnen überhaupt in der Bundeswehr dienen, wird doch deren Religionszugehörigkeit nicht erfasst.
"Es ist auch schwer, das zu schätzen. Die Erwartung für mich ist eigentlich hauptsächlich, einen neuen Standard zu setzen. Dass in wenigen Jahren mit Gottes Hilfe auch jüdische Soldaten sich so fühlen wie in anderen NATO-Ländern, dass es kein Kuriosum ist, das Land durch bewaffnete Kräfte zu schützen. Wir müssen verstehen, dass die Zeiten sich geändert haben."
Präsenz zeigen im Kampf gegen Antisemitismus
Zsolt Balla will jüdische Soldaten ermutigen, offener mit ihrer religiösen Identität umzugehen. Aus Gesprächen mit jungen Jüdinnen und Juden weiß er jedoch, dass für sie ein Dienst in den Streitkräften nicht unbedingt erstrebenswert ist. Mit Sorge beobachtet er Vorfälle mit rechtsextremem oder antisemitischem Hintergrund in der Bundeswehr:
"Wir wissen, dass generell bei der rechtsextremistischen Szene eine größere Affinität zu den bewaffneten Kräften sind und bei dem liberalen und linken Teil der Gesellschaft weniger Bereitschaft ist, zu dienen. Wir müssen das wahrscheinlich auch ein bisschen ändern."
Eine seiner Aufgaben als Militärrabbiner wird es sein, Studierende an den Hochschulen der Bundeswehr im lebenskundlichen Unterricht mit jüdischer Geschichte und Religion vertraut zu machen. Es gehe um eine Bundeswehr, in der demokratische Werte gelebt und antisemitische Vorurteile abgebaut werden. Dies sei für ihn ein Motiv gewesen, das Amt überhaupt anzunehmen.
"Das ist auch sehr wichtig, die Ethik. Die Möglichkeit für uns, mit Soldaten zu sprechen, einander kennenzulernen. Der beste Weg, gegen diese Art von Antisemitismus zu kämpfen ist, präsent zu sein."
Unterstützt wird Militär-Bundesrabbiner Zsolt Balla schon bald von weiteren jüdischen Militärseelsorgern und -Seelsorgerinnen. Sie sollen einmal das gesamte jüdische Spektrum in der Bundewehr abbilden, von traditionell-orthodox bis liberal.