Ein Mann steht in der Mitte der Bühne und spricht zum Publikum. Ein paar Worte über das Theater und den Tod. Aber wenn der wunderbare Johan Leysen dann anschließend um Bühnenebel bittet und den Geist des Vaters aus Shakespeares "Hamlet" spielt, dann begreifen wir, wie sich die Bühne verwandelt vom simplen Raum der Pädagogik ins Reich der Poesie und Vorstellung. Transformationen wie diese sind zahlreich in Milo Raus "Reprise", dem ersten Stück einer Reihe, die er an Jean-Luc Godards "Histoire(s) du Cinema" anlehnt. Da hatte der Cineast, frei assoziierend, die Geschichte des Films mit der Zeitgeschichte und mit seinen Seherfahrungen verknüpft.
Grausamer Kriminalfall
Entsprechend ist hier eine Reflexion über das Theater zu erleben, eine Selbstbefragung zu den Grenzen des Sagbaren in einem grausamen Kriminalfall, dem im Jahre 2012 im belgischen Lüttich ein schwuler Mann mit maghrebinischschen Wurzeln zum Opfer fiel. Man erfährt auch so einiges über die vielen Arbeitslosen dort nach der Schließung der Stahlwerke. Aber bevor die eigentliche Tat reenactet wird, befragt sich das aus Laien und Profiakteuren zusammengesetzte Ensemble gegenseitig zu Biografischem und den ersten Erfahrungen mit der Bühnenkunst.
Noch reagiert das Publikum amüsiert als Tom Adjibi erklärt, als Schwarzer spiele man entweder einen Schwarzen, oder man mache kritisches Theater, in dem man kritisiert, dass man immer nur Schwarze spiele oder man mache Tanztheater. Später wird er in einem zunehmend stiller werdenden Abend das Opfer spielen: Ein grauer Polo wird jetzt auf die Bühne geschoben und die Kamera, die zuvor sympathische Einzelporträts der Performer eingefangen hatte, soll jetzt ans Kino erinnern in einer Folge rasch und mit einfachen Mitteln konstruierter Szenen: Wie Ihsane Jarfi vor einer Schwulenbar ins Gespräch kommt mit ein paar Männern, warum er in ihren Wagen einsteigt, wie die Männer während der Fahrt auf ihn einprügeln, ihn in den Kofferraum sperren und schließlich am Stadtrand nackt ausziehen, foltern und zurücklassen.
Unerträgliche Tat
Milo Rau geht es in diesem Metatheater um ein pädagogisches Projekt: Der Zuschauer soll sich selbst beobachten um Akt des Schauens. Er zeigt ihm die physische Wirklichkeit und eine veränderte, voraufgezeichnete Version auf der Leinwand. Varianten von Wirklichkeit, Spiele mit der Wahrnehmung. Der Zuschauer soll aber vor allem herausfinden, wann ihm das Betrachten einer Szene unerträglich wird, z.B. wenn ein einer der Darsteller seine Schauspielkollegin sexuell höchst übergriffig bedrängt. Wie weit kann das Theater gehen in der Darstellung von Gewalt?
Und es wird in der Tat ziemlich unerträglich, wenn auf den am Boden liegenden Tom Adjibi gepinkelt und gespuckt wird. Im Akt größter Erniedrigung soll auf symbolischer Ebene Ihsane Jarfi Gerechtigkeit widerfahren, sein einsames Leiden zur gesellschaftlichen Erfahrung werden. Natürlich ist Milo Rau im Kern ein Moralist, der die Banalität der Gewalt nicht hinnimmt und mit dem Theater gegen sie ins Feld zieht. Seine "Reprise", diese Tatortrekonstruktion ist Passion und Requiem zugleich. Passion, weil hier eine Leidensgeschichte erzählt wird und Requiem, weil uns die Seele des in kalter Agonie Gestorbenen in Purcells "Cold Song" wiederbegegnet:
"Let me freeze again ..."
Sympathische Zielsetzung
Eigentlich sollen die Zuschauer, wie sie in einem Monolog zu Beginn schon erfuhren, lernen, auf die Bühne zu springen und ins Geschehen einzugreifen. Eine theatrale Allegorie will das verdeutlichen. Ein ultimativer Akt von Theater wäre eine leere Bühne mit einem Akteur, einem Stuhl, und einem Strick, der von oben herabbaumelt. Mit dem käme der Schauspieler zu Tode, sollte kein Zuschauer aufspringen und ihn retten. In einem abschließenden, zusätzlichen, sechsten Akt ist all dies vor unseren Augen vorbereitet, Tom Adjibi, eben noch Opfer einer anderen Todesgeschichte, legt sich den Strick um den Hals, aber keiner springt auf und es wird auch schnell gnädig abgeblendet: Eine Rettung für Publikum und das Theater. "La Reprise" ist ein Theaterlabor mit sympathischer Zielsetzung, aber im Kern kaum mehr als performatives Dokumentartheater ohne große neue Erkenntnisse.