Gerade wurde der schwarze Jesus mit verbundenen Händen herangeführt. Pontius Pilatus, gespielt vom in Italien legendären Schauspieler Marcello Fonte, steht im römischen Ornament des Präfekten vor der Kirche San Pietro Caveoso und fragt in die Menge, wen er freilassen soll: Jesus oder Barabbas? Wir wissen aus dem Neuen Testament, wie sich die Menge entscheidet.
Die legendäre Verurteilungsszene von Jesus durch die populistisch aufgeheizte Masse wird bei Milo Rau rassistisch gedeutet: Der Sohn Gottes kann doch kein Schwarzer sein. Das hat vor einigen Tagen übrigens auch die größte rechte Zeitung Italiens La Verita geschrieben, mit dem Jesus-Darsteller Yvan Sagnet auf dem Titelbild. Viele Touristen mischen sich in Matera unter die historisch gekleideten Statisten, machen Handy-Fotos und schreien mit.
Verdeckte Parallelgesellschaften als "Kreislauf der Gewalt"
Trotz der Kostüme aus dem Römischen Reich: Milo Raus Neuverfilmung des Evangeliums ist der Versuch, das Neue Testament radikal auf die Gegenwart zu beziehen – und da sind die reichen Touristen in der Stadt eine interessante symbolische Illustrierung der globalen Ungleichgewichte. Milo Rau:
"Als ich hierherkam, hab ich die Lager entdeckt. Und da hat sich das Wissen meiner Blase als null und nichtig erwiesen. Und plötzlich habe ich gemerkt: Wenn ich hier einen Jesus-Film mache, werde ich das Wort, aber nicht den Inhalt der Bibel verfilmen. Es gibt ja hier andere Sozialrevolution. Dann hab ich begonnen, einen Jesus zu suchen, Yvan Sagnet, einen Aktivisten, und auch von ihm war klar: das kann man schon machen, so einen Film, aber dann muss es ja irgendeinen Sinn haben, der über die Verfilmung der Schrift hinausgeht."
Nur wenige Kilometer entfernt von der europäischen Kulturhauptstadt Matera gibt es verdeckte Parallelgesellschaften, Milo Rau nennt das den "Kreislauf der Gewalt": Schwarze Migranten arbeiten hier unter unwürdigen Bedingungen auf Tomatenplantagen für die Versorgung des gesundheitsbewussten Europäers – der seinerseits afrikanische Märkte ruiniert, in dem er Billiggemüse nach Afrika schickt und Fluchtgründe schafft. Der Jesus-Darsteller in Milo Raus Film, Yvan Sagnet aus Kamerun, hat selbst dort gearbeitet. Seit zehn Jahren kämpft er für ihre Rechte:
"Bin ich wirklich in Italien?"
"Als ich dort ankam, habe ich wilde Camps entdeckt. Baracken aus Plastikplanen, ein System der Ausbeutung und totalen Kontrolle und hab mich gefragt: Bin ich wirklich in Italien? Sie zahlen dir 1 Euro in der Stunde, du arbeitest 12-14 Stunden pro Tag. Die Carporale, die Arbeitsvermittler, sind die Mafia und arbeiten für die Farmer. Für mich war das intolerierbar, das hat die menschliche Würde verletzt, nach einigen Tagen habe ich einen großen Streik organisiert, für echte Verträge und würdige Bedingungen. Wir waren etwa 1.000 Personen. Dieser Streik war der erste Streik der migrantischen Arbeiter in Italien."
Blutend wird Yvan Sagnet mit Dornenkrone die steilen Felsentreppen von Matera hinaufgetrieben, die Menge johlt rassistische Parolen. Doch Milo Raus Neuverfilmung will nicht nur Missstände anprangern, sondern verändern, Solidarität schaffen in einem System, das von Vereinzelung profitiert. Vielleicht eine neue Kunstmischung aus Fiktion, Dokumentation und politischem Aktivismus erschaffen: Jesus' zwölf Apostel sind Aktivisten und Kleinbauern, Ex-Prostituierte und Geflüchtete, die sich während der Dreharbeiten vernetzen. Petrus etwa wird von Hervé gespielt, 52 Jahre alt, aus dem Senegal. Er leitet die Casa Sankara in San Seveso, die vielen hundert Landarbeitern Unterkunft und Beratung anbietet:
Manifest einer Revolte der Würde
"Der Film hat uns zusammengebracht. Gerade gestern hatten wir ein Treffen: Vito, der einzige Italiener und Bauer unter den Aposteln, plant eine Kooperative mit fair gehandeltem Gemüse, sogar afrikanische Sorten. Das gefällt natürlich nicht den Carporali, wir werden oft bedroht. Aber – wir sind die Feinde der Kriminellen."
In wenigen Tagen zieht die Filmproduktion nach Rom: im Teatro Argentino soll die Auferstehung Jesu stattfinden, als Manifest einer "Rivolta della Dignita", Revolte der Würde – und sich möglichst zu einer global vernetzten Kampagne für die Rechte der migrantischen Landarbeiter ausweiten.