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Min Jin Lee: "Ein einfaches Leben"
Aufstieg durch Glücksspiel oder Bildung

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts leben viele Koreaner in Japan. Doch bis heute werden sie von Japanern schief angeschaut. Integration ist schwierig und gute Jobs rar. Min Jin Lee fächert eine fast ein ganzes Jahrhundert umspannende koreanisch-japanische Familiengeschichte auf.

Von Katharina Borchardt |
    Japaner spielen Pachinko in einer Spielhalle, in Tokio
    "Vier Prozent des japanischen Bruttoinlandsproduktes werden durch Pachinko generiert" (imageBROKER / Norbert Eisele-Hein )
    Pachinko ist ohrenbetäubend: ein japanisches Glücksspiel, bei dem ein ganzer Schwung Metallkugeln durch einen bunt blinkenden Automaten klackert. In manchen Pachinko-Hallen laufen Hunderte dieser Automaten zugleich. Geführt werden die Hallen meist von Koreanern, deren Familien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Japan eingewandert sind. Damals war Korea eine japanische Kolonie, und viele Koreaner gingen nach Japan: teils auf der Suche nach Bildung und Einkommen, teils verschleppt als Zwangsarbeiter. Gute Jobs bekamen sie selten. Deswegen verlegten sich viele auf den Glücksspielbetrieb. Davon erzählt Min Jin Lee in "Ein einfaches Leben". Im englischen Original heißt der Roman einfach "Pachinko". Das lag auf der Hand, sagt Min Jin Lee:
    "Pachinko ist ein japanischer Ausdruck. Das Spiel gibt es auch fast ausschließlich in Japan. Jede Straße, jeder Bahnhof hat eine eigene Pachinko-Halle. Vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden durch Pachinko generiert. Das sind gut 200 Milliarden Dollar im Jahr – zweimal so viel, wie die japanische Autoindustrie einfährt. Das ist also kein normales Glücksspiel, wie wir das im Westen kennen. Einer von elf Japanern geht einmal pro Woche Pachinko spielen: Hausfrauen, alte Leute, junge Leute – alle! Es ist einer der wenigen Geschäftszweige, in dem über die letzten vier Generationen Koreaner umstandslos angestellt wurden. Aber er wird als Unterschichtending angesehen, als kriminell, als schmutzig."
    Gutherzig, ehrlich, fleißig
    Und genau dagegen schreibt die Autorin an, die selbst koreanische Wurzeln hat. Ihre Japan-Koreaner sind gutherzig, ehrlich und auch fleißig. Problematisch sind nicht sie selbst, sondern die sozialen Verhältnisse, in denen sie sich bewegen. Im Mittelpunkt steht die Familie der jungen Sunja. Im ersten Teil des Romans lebt Sunja noch auf einer ärmlichen Insel vor der südkoreanischen Küste. Dann wird sie ungewollt schwanger, woraufhin der junge Prediger Isak anbietet, sie zu heiraten. Sie willigt ein, und so ziehen die beiden im Jahr 1939 gemeinsam nach Osaka, wo Isak in einer koreanischen Gemeinde arbeiten soll. Sunja bekommt zuerst Noa und dann Mozasu. Später wird Mozasu eine Spielhalle betreiben und im Pachinko sogar einen tieferen Sinn sehen:
    "Für Mozasu war das Leben wie ein Spiel, bei dem der Spieler die Rädchen einstellen konnte, aber auch mit Faktoren rechnen musste, die außerhalb seiner Kontrolle lagen und Ungewissheit bedeuteten. Er verstand, warum seine Kunden an einer Maschine spielen wollten, die vorhersagbar schien, aber trotzdem Platz für Zufall und Hoffnung ließ."
    Ein Weltbild, das das seines Vaters Isak in manchen Punkten berührt. Zwar glaubt der presbyterianische Geistliche stärker an einen göttlichen Plan, doch lässt auch dieser Plan Raum für Eigeninitiative und unverhofftes Glück. Und was denkt Min Jin Lee selbst?
    "Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon."
    Erbarmungslose Geschichte
    Mit diesem Satz beginnt ihr Roman "Ein einfaches Leben". Auf Englisch klingt das wie immer etwas schnittiger: "History has failed us, but no matter." Beides aber bedeutet: Für einen göttlichen Plan ist die Geschichte für die Koreaner in Japan ein bisschen zu erbarmungslos verlaufen. Doch ob sie nun an Yesu Kuristo glauben oder nicht – sie agieren, wie es gute Christen täten: Sie sind nett zueinander und schleifen ihren Lebensumständen so die allerschärfsten Kanten ab:
    "Ich glaube an moralische Gerechtigkeit. Und ich glaube, dass sie in Gefahr ist. Dagegen schreibe ich an. Alle Autoren des 19. Jahrhunderts, die ich sehr bewundere, haben sich von einem Gerechtigkeitsgedanken leiten lassen. Ich glaube, dass Gerechtigkeit existiert. Und wenn sie nicht existiert, kämpfe ich dafür in meinen Romanen. Ich formuliere sie nicht direkt, aber ich baue sie in den Plot ein."
    Auch Noa, Sunjas erster Sohn, liebt die Literatur des 19. Jahrhunderts, vor allem die Romane von Charles Dickens. In "David Copperfield" oder "Oliver Twist" befreien sich die jungen Hauptfiguren aus nagender Armut, werden auf ihrem Bildungsweg behindert, erfahren aber auch liebevolle Unterstützung. Bei Min Jin Lee läuft es ähnlich. Ihr Noa schafft es mit viel Disziplin an eine angesehene Universität in Tokio.
    "Die meiste Zeit war Noa allein, aber er fühlte sich nicht einsam. Auch nach zwei Jahren war er immer noch beglückt davon, an der Waseda zu studieren und ein ruhiges Zimmer zu haben, wo er lesen und schreiben konnte. Er war wie ausgehungert und verschlang die Romane von Dickens, Thackeray, Hardy, Austen und Trollope. Dann aufs europäische Festland mit Balzac, Zola und Flaubert, bevor er sich in Tolstoi verliebte."
    Eine Geschichte vor großem historischen Panorama
    Ihren eigenen Roman hat Min Jin Lee im Stil eines vormodernen, sozialrealistischen Familienepos angelegt: eine Geschichte, die vier Generationen und fast ein ganzes Jahrhundert umspannt, eine Geschichte vor großem historischen Panorama – Kolonialzeit, Zweiter Weltkrieg, Atombombe, Diskriminierung. Es ist ein Text, der maximal auserzählt und auserklärt ist und dies in einer Sprache, die etwas Ruhig-Gediegenes hat und manchmal nach 19. Jahrhundert klingt. So erzählt Min Jin Lee eine Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Mitteln des 19., was auch die deutsche Übersetzung einfängt. Der große Bogen, in dem alles seinen erklärbaren Platz hat, den mag Lee. Und sie hat ihren mit 550 Seiten schon recht umfangreichen Roman sogar in ein noch größeres Projekt eingebunden, erklärt sie:
    "Ich lese gerne und recherchiere viel. Hätte ich mich an der Uni bloß etwas mehr angestrengt, ich hätte Professorin werden können! Aber ich habe zu viel Unsinn gemacht. Deshalb recherchiere ich jetzt für mich allein. Für diesen Roman habe ich 20, 30 Jahre recherchiert. Und ich recherchiere immer noch zu den Koreanern in Japan, denn ich arbeite an einer Trilogie. ,Ein einfaches Leben' ist Teil 2. Alle drei Bücher haben mit der koreanischen Diaspora zu tun. Es interessiert mich einfach sehr, wie Menschen ihr Land verlassen und sich in der Welt zerstreuen, wie sie sich dann verändern und auch andere Menschen verändern."
    Min Jin Lee ist selbst eine transformierte Koreanerin. Lange hat die heute 50-Jährige als Anwältin gearbeitet, bevor sie zu schreiben begann. In ihrem ersten Roman erzählte sie von koreanischen Immigranten in den USA; er heißt "Free Food for Millionaires" und wurde noch nicht übersetzt. Dann folgte "Ein einfaches Leben". Aktuell arbeitet sie an Teil 3 ihrer Trilogie. Er heißt "American Hagwon" und erzählt von den Hagwons, den strengen koreanischen Nachhilfeschulen, die es auf der ganzen Welt gibt.
    Ein klassischer Bildungsroman
    Bildung ist immer ein wichtiges Thema bei ihr, denn Bildung kann vor Armut schützen. Lees Figuren wollen alle etwas erreichen. Sie sind weniger witzig und weniger frech als die Japan-Koreaner, von denen die Autoren Yu Miri oder Kazuki Kaneshiro in ihren Romanen erzählen. Lees Figuren sind braver: Sie lernen viel und arbeiten hart. Ihre Arbeit auf dem Markt, in einer Näherei, in einer Keksfabrik und schließlich im Pachinko-Business beschreibt Lee genau. So hat sie einen Roman über Menschen geschrieben, die bis heute benachteiligt werden, aber fleißig und aufstiegsorientiert sind – einen Bildungsroman also im klassischen Sinne.
    Min Jin Lee: "Ein einfaches Leben"
    Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel
    Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 552 Seiten, 24 Euro.