Demokratie
Warum Minderheitenschutz so stark triggert

Demokratie funktioniert über Mehrheiten – und doch gehört der Schutz von Minderheiten dazu. Aber warum eigentlich? Und warum regt das so viele immer wieder so stark auf?

    Eine teilnehmende Person an der Christopher-Street-Day-Parade am 2. September 2023 in Erfurt hat ihren Pferdeschwanz mit einem Band in Regenbogenfarben zusammengebunden.
    Symbol für den Kampf für die Rechte sexueller Minderheiten: die Regenbogenfarben. (imago / Müller-Stauffenberg)
    In der Demokratie brauchen Entscheidungen eine Mehrheit – bei Wahlen die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, bei Abstimmungen im Bundestag die Mehrheit der Abgeordneten, selbst beim Bundesverfassungsgericht die Mehrheit der Richterinnen und Richter. Doch die Demokratie verspricht auch, die Minderheiten nicht zu vergessen. Warum ist das eigentlich so wichtig? Und stimmt es, dass Minderheiten „Sonderrechte“ bekommen?

    Übersicht

    Warum zählt in der Demokratie nicht nur die Mehrheit?

    „Reine Mehrheitsentscheidung kann auch zum Diktat der Mehrheit und Unterdrückung von Minderheiten führen, wenn diese nicht einklagbare Rechte haben“, erklärt die FDP-Politikerin und ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Notwendigkeit des Schutzes von Minderheiten.
    Dieser Schutz gehört zu einem liberalen Demokratieverständnis. Minderheitenschutz ist Teil des Pluralismus in der Demokratie. Dieser Begriff betont, dass unterschiedliche Gruppen ihre Interessen aushandeln.
    Generell gelte, so Anna Katharina Mangold, Professorin an der Universität Flensburg und Expertin für Antidiskriminierungsrecht: Entscheidungen, die die Mehrheit und die Minderheit berücksichtigen, seien demokratisch im größtmöglichen Sinne. Denn sie beziehen möglichst viele Menschen mit ein.

    Wo ist der Minderheitenschutz in Deutschland verankert?

    Für die Frage nach dem Schutz von Minderheiten spielen in der bundesdeutschen Demokratie die im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechte eine zentrale Rolle, wie die Juristin Anna Katharina Mangold erklärt: „Die Grundrechte erlauben es dem Einzelnen, der Mehrheit immer entgegenzuhalten: Habt ihr auch meinen Fall wirklich berücksichtigt?“
    Die Grund- und Freiheitsrechte stehen am Anfang des Grundgesetzes. Sie seien ein „in der Demokratie eingebauter Schutzmechanismus, der als Gegenmodell zu der demokratischen Entscheidung gedacht ist“, sagt Mangold.
    Das Wort „Minderheitenschutz“ fällt im Grundgesetz zwar gar nicht explizit. Da es bei den Grundrechten um individuelle Rechte geht, schwingt es aber sozusagen immer mit.

    Warum ist Minderheitenschutz wichtig?

    Die Bedeutung des Schutzes von Minderheiten wird besonders deutlich, wenn er nicht gegeben ist. Das ist beispielsweise in der sogenannten illiberalen Demokratie – manche sprechen auch von der unterdrückenden oder defekten Demokratie – der Fall. Hier herrscht ein Verständnis, in dem fast immer der Wille der Mehrheit den Ausschlag gibt. Das bedeutet: Das Individuum mit seinen Grundrechten ist nicht so wichtig.
    Was aber, wenn eine Minderheit 49 Prozent umfasst – und diese finden dann keine Berücksichtigung? Außerdem birgt das eine Gefahr für die Demokratie: Wenn die einzelnen Bürgerinnen und Bürger weniger Rechte haben, können sie den Staat – also die Mehrheit – auch schlechter kontrollieren. Deshalb kippen solche Systeme leicht ins Undemokratische.

    Warum regt Minderheitenschutz so viele Menschen auf?

    Solange es etwa um Oppositionsrechte im Bundestag geht, ist die gesellschaftliche Akzeptanz für Minderheitenrechte mit Sicherheit ziemlich groß. Ähnlich dürfte es beim Schutz von Minderheitensprachen sein, wie er seit 1999 in Deutschland praktiziert wird.
    Wenn es um andere Minderheiten und deren Schutz geht, ist die gesellschaftliche Akzeptanz aber oft sehr viel geringer: etwa bei der LGBTIQ-Community, beim Gendern, bei Muslimen, Sinti und Roma und manchmal sogar beim Thema Parkplätze für Menschen mit Behinderung. Bei solchen und ähnlichen Themen kommt das gesellschaftliche Klima häufig sehr schnell in negative Wallungen.
    Bei welchen Themen genau das passiert, hat der Soziologe Steffen Mau von der Berliner Humboldt-Universität erforscht – mithilfe von Zeitungsüberschriften. Bei der Studie durften sich die Teilnehmenden Überschriften aussuchen, die sie an- oder aufregten, also triggerten.
    Eine Zeitungsüberschrift sei auf besonders großen Protest gestoßen, erzählt Mau: „Eigene Schwimmzeiten für Transpersonen“ – der Vorschlag, dass Transpersonen in Berliner Schwimmbädern freitags zwischen 16 und 18 Uhr unter sich schwimmen dürfen. „Neun von zehn Leuten, die an solchen Diskussionen teilnehmen, die regen sich da wahnsinnig auf“, sagt Mau.
    Diese Beobachtung ließ bei Mau und seinen beiden Kollegen die Frage nach allgemeinen Mustern entstehen. Eine Beobachtung: Die Erregung über die Schwimmzeiten für Transpersonen geht in der Mehrzahl nicht einher mit einer generellen Ablehnung gegenüber Transsexualität. In Maus Studie stimmten 84 Prozent der Menschen der Aussage zu: „Transpersonen sollten als normal anerkannt werden.“
    Stattdessen spiele bei der Bewertung der Schwimmzeiten „Angst vor Entgrenzung“ eine große Rolle, hat Mau beobachtet. Ein Trigger, bei dem es um die Sorge geht, der Minderheitenschutz ufere aus.
    Ein weiterer Trigger beziehe sich auf vermeintliche „Sonderrechte“. Leute reagierten sehr stark auf das Gefühl, „Minderheiten reklamieren für sich Dinge, die der Allgemeinheit nicht so ohne Weiteres zugänglich sind, weil sie Minderheiten sind“, so Mau.
    Weitere Trigger würden zum Beispiel aktiviert, wenn Menschen das Gefühl haben, sie müssten ihr Verhalten anpassen – wie es das Stichwort Gendern oft hervorruft.
    Auch, wenn ein Verhalten zu stark von einer gesellschaftlichen Norm abweicht, regt das viele auf. Beispielsweise, wenn jemand mit Tempo 50 durch eine Spielstraße fährt. Bei Triggerpunkten geht es also oft darum, worauf sich die Mehrheitsgesellschaft geeinigt hat, was sie noch toleriert – und ab wann etwas zu viel wird.

    Gibt es “Sonderrechte” für Minderheiten?

    Um das zu beantworten, lohnt ein Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz in Artikel 3 des Grundgesetzes. Er ist Teil der Grundrechte, legt fest, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, und verbietet Benachteiligung etwa aufgrund einer Behinderung, der Herkunft oder des Geschlechts.
    Der Blick auf die Geschichte von trans- und intersexuellen Personen offenbart hier ein sehr interessantes Phänomen: Manchmal reichen die gesellschaftlichen Standardoptionen nicht aus, um die im Grundgesetz vorgeschriebene Gleichberechtigung für alle Menschen zu ermöglichen.
    So ist es etwa beim dritten Geschlecht: 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht , dass es unter anderem auf Personalausweisen nicht ausreicht, wenn es beim Geschlecht nur eine weibliche und eine männliche Option gibt. Denn, so urteilte das Gericht: Für Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zuordnen können, sei es gerade keine Gleichberechtigung, wenn sie zwischen zwei Optionen auswählen können, von denen beide für sie nicht passen. Die „Standardoption“ ist für sie eine Benachteiligung. Seitdem muss es eine dritte Option geben. Der Gesetzgeber hat sie mit der Bezeichnung „divers“ eingeführt.

    Verändert sich der Minderheitenschutz?

    Wie sich der Minderheitenschutz in der Bundesrepublik verändert hat, ist deutlich an der Geschichte des Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs zu sehen. Dieser Paragraf stellte in Deutschland jahrzehntelang das Ausleben männlicher Homosexualität unter Strafe. Mehr als 500.000 Männer wurden aufgrund dieser Norm verurteilt – die meisten in den 50er- und 60er-Jahren. Diese Urteile fielen im Einklang mit den damaligen gesellschaftlichen Wertvorstellungen: Mehr als drei Viertel der Bevölkerung sahen Homosexualität als Krankheit an. Im Jahr 1957 wurde das vom Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich legitimiert.
    Diese gesellschaftliche Haltung in der jungen Bundesrepublik sei noch stark beeinflusst gewesen aus der Zeit des Nationalsozialismus, „wo Minderheiten nicht nur kein Recht hatten, sondern verfolgt, unterdrückt und zielgerichtet ermordet wurden“, sagt die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Justizministerin war, als Homosexualität 1994 als Straftatbestand vollständig abgeschafft wurde. Die Politik hatte Homosexualität ab 1969 langsam entkriminalisiert.
    Minderheitenschutz ist also kein statisches Konzept. Stattdessen gilt: Wie sehr die Mehrheit die Minderheit schützt oder nicht, hat mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu tun und ist ein permanenter Aushandlungsprozess.
    Mit den Wertvorstellungen verschieben sich auch Triggerpunkte. Das bedeute aber nicht, dass sich alles, was heute öffentlich diskutiert wird, durchsetzen werde, sagt der Soziologe Steffen Mau.

    Ann-Kathrin Jeske, abr