Jürgen Zurheide: Was machen wir jetzt mit dieser verfahrenen Situation oder ist es überhaupt eine verfahrene Situation, in der wir uns befinden? Zumindest Verfassungsrechtler sagen: nicht unbedingt. Darüber will ich jetzt reden mit dem Staatsrechtler der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Joachim Wieland. Guten Morgen, Herr Wieland!
Joachim Wieland: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Wieland, der eine oder andere sagt Staatskrise, andere sind da viel gelassener. Wie sehen Sie das?
Wieland: Ich bin da, glaube ich, auch eher gelassener. Es ist eine außergewöhnliche Situation, aber keine Situation, die aus der Sicht des Verfassungsrechts nicht beherrschbar ist. Das Grundgesetz hat schon auch Regelungen für solche Situationen getroffen.
Zurheide: Ich glaube, da muss man in diesen Tagen mal laut dran erinnern. In der Tat, die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben selbst das gedacht, dass es mal keine Regierung oder jedenfalls nicht so schnell eine Regierung gibt. Genau da sind wir jetzt.
Wieland: Genau, da sind wir. Das ist eine Regelung in Artikel 63 des Grundgesetzes, wo man durchaus mehrere Wahlgänge vorgesehen hat und schließlich die Möglichkeit einer Minderheitsregierung oder Neuwahlen nach einer Entscheidung des Bundespräsidenten.
"...volles Vertrauen in Bundespräsidenten"
Zurheide: Gibt es aufgrund der verfassungsrechtlichen Realität irgendwelche Hinweise wie das ist oder ist das in der Tat dann der Spielraum des Bundespräsidenten, über den in diesen Tagen ja auch viel gesprochen wird?
Wieland: Es ist tatsächlich das Machtmittel des Bundespräsidenten. Der Bundespräsident hat bei uns ja tendenziell eine mehr repräsentative Funktion, aber für solche Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung hat das Grundgesetz volles Vertrauen in den Bundespräsidenten gesetzt. Das ist seine Stunde, hier muss er entscheiden, wie er vorgeht und was er für das Beste für Deutschland hält.
Zurheide: Das heißt, wir spielen das Szenario weiter durch. Also wenn jetzt die Gespräche, die in der kommenden Woche stattfinden mit den drei Parteichefs, aber dann wird ja auch noch mit anderen Parteiführern geredet, wenn er am Ende dann zu dem Eindruck kommt, na ja, ich kriege da nix hin, dann kann er zum Beispiel Frau Merkel einen Regierungsauftrag erteilen – und muss sie sich dann zur Wahl stellen?
Wieland: Er schlägt sie vor, und das Parlament hat dann die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie Frau Merkel wählt oder nicht. Die Verfassung sieht jetzt nicht vor, dass in dieser Situation bei dem ersten Wahlgang die Bundeskanzlerin sagen könnte, sie kann nicht vorgeschlagen werden. Die Verfassung geht davon aus, wen der Bundespräsident vorschlägt, der muss sich auch der Wahl durch das Parlament stellen.
"Ganz in seiner politischen Entscheidungsmacht"
Zurheide: Also um das noch mal ganz konkret zu sagen: Frau Merkel könnte dann nicht sagen, nein, ich trete nicht an, oder? Diese Freiheit müsste man eigentlich doch haben oder ist das nur jetzt, weil Sie sagen, ist das verfassungsrechtlich kodifiziert oder tut man das nicht, tut frau das nicht?
Wieland: Man tut das nicht, und Frau Merkel hätte natürlich die Möglichkeit, sie wird nach einer Wahl, wenn sie denn gewählt werden sollte, gefragt, ob sie die Wahl annimmt. Wenn sie nicht mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang gewählt wird, dann ist sie auch nicht gewählt. Dann steht sowieso keine Entscheidung an, aber sie kann nicht, bevor die Wahl überhaupt stattfindet, sagen, der Bundespräsident hat mich zwar vorgeschlagen, aber es findet hier keine Wahl statt. Sondern das ist von der Verfassung so gedacht, der Bundespräsident schlägt vor, und dann findet eine Wahl statt. Eine Entscheidung hätte sie erst in dem Augenblick, wo sie mit absoluter Mehrheit gewählt wäre. Dann wird sie aber auch keinen Grund haben, abzulehnen.
Zurheide: Das heißt, wir haben den ersten Wahlgang, nach Lage der Dinge möglicherweise einen zweiten Wahlgang, und an dem dritten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, dann sind wir genau in der Lage einer Minderheitsregierung.
Wieland: Genau. Dann muss der Bundespräsident entscheiden, wenn die Bundeskanzlerin mit einfacher Mehrheit gewählt ist, ob er sie tatsächlich ernennt und damit den Weg zu einer Minderheitsregierung öffnet oder ob er Neuwahlen anberaumt, und das ist ganz in seiner politischen Entscheidungsmacht.
"Von Verfassungswegen ein politischer Aushandlungsprozess"
Zurheide: Gibt es irgendwelche Erfahrungen – in Deutschland natürlich nicht, die Frage kann ich direkt beantworten –, gibt es etwas, was wir aus anderen Ländern lernen können? Wie sehen Sie das als Verfassungsrechtler?
Wieland: Wir können aus vielen anderen Ländern, insbesondere in Skandinavien, lernen, dass eine Minderheitsregierung zwar nicht ideal ist, dass das aber durchaus eine Form der Regierung ist, die über eine ganze Weile für das Land erträglich sein kann, und wir haben in Deutschland auch Erfahrungen in Ländern mit Minderheitsregierungen. Da ist das dann politisch vielleicht nicht so bedeutsam, außenpolitisch nicht wie auf Bundesebene, aber Minderheitsregierungen sind möglich. Sie führen zu einer Stärkung des Parlaments, was jeweils entscheiden muss, welche Projekte der Regierung es unterstützt, und sie machen das Regieren mühseliger, weil die Regierung sich für jedes Projekt eigene Mehrheiten suchen muss.
Zurheide: Also um das auch mal klar zu sagen: Wenn es denn eine Minderheitsregierung der CDU oder von Frau Merkel geführt gäbe, dann säßen in der Regel auch nur Christdemokraten und möglicherweise Christsoziale mit am Kabinettstisch, keine anderen, oder ist auch das denkbar? Ist das am Ende ein politischer Aushandlungsprozess oder wie würden Sie sowas sehen?
Wieland: Das ist von Verfassungswegen ein politischer Aushandlungsprozess. Ich sehe allerdings jetzt nicht unbedingt einen Vorteil für die CDU/CSU. Wenn sie schon eine Minderheitsregierung anführt, dann gewissermaßen eine Koalitionsminderheitsregierung zu bilden, das ist verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen, aber vermutlich ist es einfacher, wenn man dann allein mit der Union eine Minderheitsregierung bildet und dann die freie Wahl hat, wen man für Projekte jeweils aus dem Parlament einbindet. Es ist umgekehrt eher für diejenigen, die so eine Minderheitsregierung in bestimmten Phasen tolerieren, eine Frage, und die stellt sich ja der SPD jetzt gerade: Will sie ein Stück weit diese Distanz zur Regierung halten und sich nicht einbinden lassen in das Regierungsgeschäft, dann muss sie aber auch auf Machtbefugnisse verzichten, weil sie nicht den Zugriff auf Ministerien hat, nicht dort diese Verantwortlichkeit ausüben kann, sondern nur gefragt wird, wenn es um Gesetzgebungsvorhaben geht. Also die Schwierigkeit liegt dann auch bei den Parteien, die eine solche Minderheitsregierung von Fall zu Fall unterstützen.
"Das ist genau die Bruchkante"
Zurheide: Genau da sind wir bei dem, was wir gerade vom Juso-Kongress gehört haben, dass auf der einen Seite, dieses Mitregieren heißt dann aber auch Mitverantwortung für alles, und genau da sagen ja manche, das wollen wir eben nicht mehr. Insofern liegt die Verantwortung dann klar bei denen, die in der Regierung sind und die Exekutive beherrschen.
Wieland: Das ist wahr. Man kann dann sagen, die Minderheitsregierung ist die Regierung, die trägt die Regierungsverantwortung, die muss praktisch dafür geradestehen. Man hat selber weniger Gestaltungsmöglichkeiten, muss aber auch diese Verantwortung nicht übernehmen.
Zurheide: Wie ist denn dann zum Beispiel, wie müsste man sich vorstellen, wenn es – ich gebe ein Beispiel: Die Russlandsanktionen müssen verlängert werden. Da muss das Außenministerium irgendwas sagen. Ist immer die Frage, ist es exekutiv zu entscheiden oder muss man ins Parlament? Das ist genau die Bruchkante.
Wieland: Genau. Alles, was exekutiv zu machen ist, das kann die Minderheitsregierung aus eigener Macht machen. Die ist genauso Regierung wie eine Mehrheitsregierung, und in dem Augenblick, wo man ein Gesetz braucht, dann muss man anfangen, sich Mehrheiten zu suchen und muss dann auch normalerweise Kompromissgeschäfte eingehen, Gegenleistungen bringen im Bereich von anderen Gesetzen, weil natürlich keine Partei, die nicht an der Regierung beteiligt ist, ihre Zustimmung einfach ohne Gegenleistung erbringen wird.
"Das ist eine sehr romantische Vorstellung, oder?"
Zurheide: Die entscheidende Frage wird dann sein, ob man mit diesen mal, mit jenen sowas hinkriegt. Das ist sozusagen die Idealform der Demokratie, des alten Gedanken polis, da stehen die Menschen auf dem Platz, und sie diskutieren und kommen zu einer Entscheidung, mal dieser, mal jener. Das ist eine sehr romantische Vorstellung, oder?
Wieland: Ja, das ist eine Vorstellung, die eher so in die Ideale der Demokratie zurückgeht, die den politischen Alltag nicht beherrscht hat, und es hat sich manchmal dann auch gezeigt, dass man nicht jedes Mal von Neuem eine andere Mehrheit sucht, sondern dass sich so Tolerierungskoalitionen gewissermaßen herausbilden, dass man langsam immer mehr mit jemandem zusammenarbeitet, und das kann dann durchaus nach einiger Zeit dazu führen, dass aus einer Tolerierung dann doch noch eine Koalition wird, aber das ist eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit.
Zurheide: Es kann auch genau das Gegenteil passieren.
Wieland: Es kann auch sein, dass man sich auseinanderlebt, ja.
Zurheide: Es ist wie im normalen Leben, Herr Wieland. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Einsichten, die Sie uns heute Morgen vermittelt haben. In einer sicherlich nicht ganz einfachen Lage waren das die verfassungsrechtlichen Grundsätze von Joachim Wieland. Danke schön, auf Wiederhören!
Wieland: Gerne!
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