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Minderjährig oder volljährig?
Wie Hamburg das Alter junger Flüchtlinge prüft

Papiere, Bartwuchs, Falten: In Hamburg prüft ein Landesbetrieb anhand verschiedener Kriterien, ob junge unbegleitete Flüchtlinge minderjährig sind oder schon über 18. In Zweifelsfällen ist die Hilfe von Rechtsmedizinern gefragt.

Von Axel Schröder |
    Ein Röntgenbild auf einem Bildschirm zeigt die linke Hand eines jungen Menschen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren
    Ein Röntgenbild auf einem Bildschirm zeigt die linke Hand eines jungen Menschen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. Über die radiologische Untersuchung des Handwurzelknochens und der Hand lässt sich das etwaige Alter eines Menschen bestimmen. (picture alliance/ dpa/ Felix Kästle)
    Die Tür in der Hamburger Feuerbergstraße 43 öffnet sich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der KJND, der Kinder- und Jugendnotdienst, ist Anlaufstelle für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Hamburg. In der Feuerbergstraße 43, das hoffen viele von ihnen, wird ihre Flucht endlich ein Ende haben. Wer rein darf, darüber entscheidet ein erster Blick des Personals in die Gesichter der Flüchtlinge. Das erklärt Klaus-Dieter Müller, der Geschäftsführer des Hamburger "Landesbetriebs Erziehung und Beratung", der den KJND organsiert:
    "Wenn nicht jemand offensichtlich älter ist als 18 Jahre und gleich ausgeschlossen wird von der Inobhutnahme, sieht das Gesetz vor, dass wir diese jungen Menschen erst einmal aufnehmen. Das heißt, sie bekommen ein Bett, was zu essen, werden versorgt, auch psychologisch, wenn's sein muss, also: pädagogisch, betreuerisch."
    Denn ab diesem Moment, ab der sogenannten Inobhutnahme, erklärt Müller, trage der KJND als Jugendamt für Notfälle Verantwortung für die in Hamburg gestrandeten jungen Menschen. Bleiben dürfen sie aber nur, wenn sie tatsächlich minderjährig sind. Ob das so ist, überprüft ein Dutzend Mitarbeiter im "Landesbetrieb Erziehung und Beratung", so dessen Leiter Klaus-Dieter Müller:
    "Am nächsten Tag, wenn das Jugendamt wieder den Dienst aufnimmt, am nächsten Werktag wird dann sofort ein Aufnahmegespräch geführt. Und in dem wird nach Papieren gefragt, nach der Biografie. Und da wird der junge Mensch auch in Augenschein genommen. Von seiner äußeren Erscheinung. Und wie er auftritt."
    Hals- und Stirnfalten als Indiz für Volljährigkeit
    Natürlich werden auch die Papiere, sofern vorhanden, geprüft. Ist das Geburtsdatum plausibel, tauchen Widersprüche auf? Besonderes Gewicht hat aber die Inaugenscheinnahme der Menschen selbst: "Ausgeprägte Hals- und Stirnfalten" gelten als Indiz für Volljährigkeit, ebenso ein "sicheres Auftreten" oder ein "gereifter Gesamteindruck":
    "Bei jungen Männern kann man das schon feststellen: Wie stark ist ein Bartwuchs beispielsweise. Bei jungen Frauen, klar, sind es die Körperkonturen, die da eine Einschätzung erlauben. Natürlich nicht nur allein. Das ist ein Indiz von vielen anderen, die jetzt herangezogen werden, um zu einer Entscheidung zu kommen. Also über 18, eindeutig, wir sind uns sicher - oder unter 18 Jahre, wir sind uns sicher. Oder wir haben Zweifel."
    Wenn Zweifel bestehen, werden die Heranwachsenden zum Rechtsmedizinischen Institut geschickt. Professor Klaus Püschel leitet das Institut. Dem NDR gegenüber erklärte er, wie die Mediziner in Zweifelsfällen das Alter der jungen Menschen zu bestimmen versuchen:
    "Die in medizinischer und biologischer Hinsicht beste bekannte Methode ist die Entwicklung des Skelettsystems, also das Knochenwachstum. Und darüber hinaus die Entwicklung des Gebisses und der Zähne. Grob gesagt kann man sagen, dass diese Methode etwa auf plus-minus ein bis zwei Jahre genau ist."
    Rechtsmediziner Klaus Püschel in seinem Büro
    Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg, Klaus Püschel (picture alliance/ dpa/ Christian Charisius)
    Im Zweifel das niedrigere Alter
    Im Zweifel werde aber das niedrige Alter angenommen, erklärt Klaus Püschel. Den Rat des Rechtmedizinischen Instituts holen aber nicht nur die Mitarbeiter des "Landesbetriebs Erziehung und Beratung" (LEB) ein. Auch die Geflüchteten selbst können die Expertise der Mediziner in Anspruch nehmen, wenn sie die Einschätzung der LEB-Teams überprüfen lassen wollen. Dass aber alle um diese rechtlichen Möglichkeiten wissen, bezweifelt Anne Harms von der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt:
    "Es kommt immer wieder vor, dass Leute bei uns in der Sprechstunde vorsprechen mit eben diesem Problem, dass sie vom KJND abgewiesen wurden, obwohl sie selbst sicher sind, dass sie minderjährig sind. Es kommt auch vereinzelt vor, dass hier junge Menschen sitzen, die selbst sagen, sie wissen gar nicht genau, wie alt sie sind, halten sich aber für hilfebedürftig und haben große Angst und Unsicherheiten in der Erwachsenen-Unterkunft."
    Kritik von Beratungsstelle "Fluchtpunkt"
    Anne Harms hält nichts von der Inaugenscheinnahme durch den Landesbetrieb "Erziehung und Beratung". Oft genug sähen die jungen Menschen am Ende einer oft lebensgefährlichen, entbehrungsreichen Flucht um Jahre gealtert aus. Es gehe weniger um Geburtsjahre als darum, ob jemand Hilfe brauche als 17-, 18- oder 19-jähriger Flüchtling. Und diese Hilfen, auch die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen, seien all jenen verwehrt, bei denen der LEB von einer Volljährigkeit ausgeht. Die Quote derer, die von den LEB-Teams auf unter 18 geschätzt werden, sinke seit Jahren, kritisiert Anne Harms von Fluchtpunkt:
    "Ich kann mir das eigentlich nur so erklären, dass weniger sensibel und weniger vorsichtig umgegangen wird mit der Schätzung auf Volljährig im LEB."
    Dessen Geschäftsführer Klaus-Dieter Müller weist diese Kritik zurück: "Wir können schon einen 14-Jährigen von einem 17-Jährigen unterscheiden. Das kann man. Und wir können auch einen 25-Jährigen von einem 17-Jährigen unterscheiden."
    Tatsächlich ist die Quote derer, die die LEB-Teams ohne Zweifel auf unter 18 schätzen, in den letzten Jahren von einem Drittel auf nur noch 13 Prozent gesunken. Aber in den 96 Fällen, bei denen die Teams im letzten Jahr die Menschen medizinisch haben untersuchen lassen, in diesen Zweifelsfällen haben die Rechtsmediziner tatsächlich etwa die Hälfte auf über, die andere auf unter 18 geschätzt. Im Endeffekte werden so, auch durch die medizinischen Nachprüfungen der LEB-Entscheidungen, mit 52 Prozent mehr junge Menschen als minderjährig eingestuft als noch vor drei Jahren. Davon, dass immer mehr in Hamburg ankommende Flüchtlinge falsche Angaben zu ihrem Alter machten, könne jedenfalls keine Rede sein, so Klaus-Dieter Müller.