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Minderjährige Flüchtlinge
Neue Heimat Bremen

In Bremen finden minderjährige Flüchtlinge Unterschlupf. Freiwillige Betreuer kümmern sich um sie, helfen ihnen, die Sprache zu lernen und einen Ausbildungsplatz zu finden. Keine leichte Aufgabe, denn die Flucht, die die Jungen ohne Begleitung auf sich genommen haben und die Gewalt in der Heimat hat bei vielen Spuren hinterlassen.

Von Franzsika Rattei |
    Junge Männer auf Haiti betrachten ein Schiff, auf dem sich viele Flüchtlinge befinden.
    Jungen aus Krisengebieten finden in Bremen Schutz. Bis sie 18 Jahre alt sind, sollen sie ordentlich Deutsch sprechen und eine Ausbildung anfangen. (dpa / Benjamin J. Myers)
    Claudia Schmitt steht in ihrer Einbauküche und kocht Kräutertee. Seit vier Jahren ist sie Vorsitzende von 'Fluchtraum eV'. Der Verein setzt sich für die Rechte minderjähriger Flüchtlinge ein, sogenannte UMF – unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. 15 Jahre lang hat Claudia Schmitt Deutsch an der Universität gelehrt, in Italien. Danach hat sie Integrationskurse in Deutschland gegeben, hier lernte sie viele Flüchtlinge kennen. Die Geschichten ihrer Schüler berührten sie, sie wollte sie unterstützen in ihrem neuen Leben. Mittlerweile investiert sie pro Woche rund 20 Stunden in ihr Ehrenamt bei "Fluchtraum". Und auch die Wochenenden muss ihre Familie oft ohne sie verbringen. Claudia Schmitt führt regelmäßig Gespräche mit der Bremer Sozialsenatorin, trifft sich mit der Flüchtlingsinitiative und dem Flüchtlingsrat. Außerdem vermittelt sie ehrenamtliche Vormundschaften.
    "Mancher denkt vielleicht: ja, er möchte so gern helfen. Und denkt, er trifft da jetzt einen Jugendlichen, der nur darauf wartet, dass er die helfende Hand des Mentors oder Vormunds ergreifen kann und der sich dann alles sagen lässt und jeden Rat befolgt. Das ist natürlich nicht so. Denn abgesehen von Flüchtlingen sind das einfach junge Männer – sind ja vorwiegend Männer, die in der Entwicklung sind, und die auf eigenen Füßen gern stehen wollen und auch mal ihren eigenen Kopf durchsetzen wollen. Also es braucht sehr, sehr viel Geduld und auch eine hohe Frustrationsschwelle."
    In den vergangenen vier Jahren haben etwa 15 minderjährige Flüchtlinge einen ehrenamtlichen Vormund über "Fluchtraum" gefunden. Außerdem gibt es rund 40 Mentoren, die alleinstehenden Jugendlichen zur Seite stehen. Auch Claudia Schmitt hat einen Mündel. Vor dem Mikrofon nennt sie ihn Luc. Seine Heimat ist der west-afrikanische Staat Elfenbeinküste. Vor knapp fünf Jahren kam Luc in Bremen an. Fast genauso lange sind Claudia Schmitt und er ein Vormunds-Mündel-Paar. Dass sie über ihn spricht, ist ihm recht. Aber selber möchte er nichts über sich erzählen.
    "Ich glaube, er geniert sich, weil er denkt: Dann sehen mich andere aus der Community, oder hören, erkennen meine Stimme, sprechen mich darauf an. Und er möchte eigentlich sowieso nie als Flüchtling angesehen werden. Das verheimlicht er. Zugeben zu müssen, dass er wirklich Flüchtling ist, und dass er angewiesen ist darauf, Gelder in Empfang zu nehmen vom deutschen Staat. Das mag er gar nicht. Darüber redet er gar nicht gern."
    Auch über seine Flucht spricht er nur selten. Claudia Schmitt weiß, dass Lucs Familie zerbrochen ist. Der Junge zog eine Zeit lang als Tänzer von Ort zu Ort. Aber der Leiter der Truppe hat ihn geschlagen, und Luc wollte weg. Irgendwie ist er auf ein Schiff gekommen und hat sich dann bis nach Europa durchgeschlagen. Inzwischen ist Luc 20 Jahre alt. In Deutschland gilt er trotzdem noch als minderjährig. Es greift die Regelung aus seiner Heimat: In Elfenbeinküste beginnt die Volljährigkeit mit 21. Claudia Schmitt hat sich in den vergangenen Jahren um viele Angelegenheiten gekümmert, die normalerweise Eltern, Erziehungsberechtigte übernehmen: ein Guthabenkonto eröffnen, einen Handyvertrag unterschreiben. Dafür bekommt sie vom Familiengericht pro Jahr 300 Euro Aufwandsentschädigung. Von Luc hat sie abwechselnd viel und wenig bekommen - so läuft es häufig zwischen Vormündern und Mündeln, sagt sie.
    "Meistens ist es so, dass man am Anfang sehr schnell und sehr eng zusammenwächst. Und dann, wenn die Jugendlichen anfangen, hier Fuß zu fassen, was ja auch unser Wunsch ist, und hier auch Leute kennenlernen, und vor allem auch Gleichaltrige kennenlernen, mit denen sie sich dann gut verstehen - dann geht’s genauso schnell wieder auseinander, weil sie dann ja selbstständiger werden. Und dann muss man damit fertig werden. Das ist wie mit den eigenen Kindern, nur zehn mal so schnell, ne."
    Luc ist mittlerweile Dachdeckerlehrling im zweiten Ausbildungsjahr. Er wohnt mit seiner Freundin zusammen in einer kleinen Wohnung - die zu finden war schwierig. Wenige Vermieter wünschen sich einen Flüchtling mit Vormund. Aber inzwischen geht es Luc gut, sagt Claudia Schmitt. Er befindet sich in einer "komfortablen" Situation. Die Rückkehr in seine Heimat ist zu gefährlich. Deshalb wird ihm der Aufenthalt in Deutschland aus humanitären Gründen erlaubt. Luc kann seine Ausbildung abschließen, und wenn er danach eine Anstellung als Dachdecker findet, wird er keine Angst mehr haben müssen, abgeschoben zu werden.
    Vokabular fürs Überleben in Deutschland
    Die Schüler von Ute Rotermund leben noch mit dieser Angst. Um kurz vor halb neun trudeln sie im Unterricht ein; alle tragen Jeans und Turnschuhe, Kapuzen- oder Wollpullis, manche Basecaps. Wie fast alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Bremen besuchen die elf Schüler der Deutsch-Lehrerin die Allgemeine Berufsschule Steffensweg - eine Schule, die es Jugendlichen ermöglicht, Deutsch zu lernen, einen Schulabschluss zu machen und einen Ausbildungsplatz zu finden.
    Ute Rotermunds Schüler sind sogenannte "Geduldete". Das heißt, dass ihre Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist. Als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen sie bleiben. Wenn sie volljährig werden, erlischt der besondere Schutz. In Bremen allerdings ist im Herbst 2013 ein Erlass für UMF in Schul- oder Ausbildungssituationen in Kraft getreten. Danach dürfen unbegleitete Jugendliche ihre Schul- oder Berufsausbildung zu Ende bringen; auch wenn sie schon über 18 sind.
    "Das Thema von der ganzen Lektion in Deutsch war Ämter und Behörden. Die Frage ist: Welche Ämter kennt Ihr, welches Amt? Was macht man da?"
    Die Klasse hat sich in zwei Gruppen aufgeteilt, die Jugendlichen stehen hinter den ausgeklappten Tafelflächen.
    Gruppe 1 ist etwas schneller als Gruppe 2: "Jobcenter", "Arbeitslosengeld" schreibt einer der Schüler an die Tafel. "Jungenamt", fast richtig buchstabiert.
    "Jungenamt - Ihr seid Jugend! Jugendliche! - Ah, ja, ja. Jugendamt."
    Ute Rotermund macht die Arbeit mit den Jugendlichen Spaß. Aber einfach ist es nicht. Oft haben ihre Schüler ganz unterschiedliche Bildungserfahrungen. Manche sind drei, manche zehn Jahre zur Schule gegangen. Einige müssen neben Deutsch auch noch Lesen und Schreiben lernen. Und natürlich haben die Schüler verschiedene Muttersprachen: Französisch, das west-afrikanische Fula, Somali, Arabisch. Ute Rotermund hat mehr als zehn Jahre Lehrerfahrung, seit knapp einem Jahr unterrichtet sie Deutsch als Fremdsprache an der Allgemeinbildenden Schule Steffensweg. Dort gab es im April 2013 sieben UMF-Sprachklassen, inzwischen sind es elf, und die Warteliste ist lang.
    Gruppe 1 hat das Vokabelspiel gewonnen. Nun schlagen die Jungen ihre Bücher auf. Für die nächste Übung sollen sie ein Formular ausfüllen.
    "Ummeldung! - Wow, chapeau."
    "Den Rest macht mal alleine!"
    Die Lehrerin lässt die Klasse weiter arbeiten während sie ein paar Kopien im Nebenzimmer macht.
    Vor ein paar Tagen hat sie gefragt, wer dazu bereit sei, ein Radiointerview zu geben. Einer ihrer Schüler wollte dann wissen, ob er denn alle Fragen beantworten müsse. Solche Momente machen die Lehrerin nachdenklich. Ihre Schüler haben viel erlebt, bevor sie in Deutschland angekommen sind.
    "Auch wenn sie ganz locker wirken erstmal - ich muss davon ausgehen, dass sie alle irgendeinen Schaden davongetragen haben. Die sind ja irgendwie nach Europa gekommen. Es ist wahnsinnig schwer, hier rein zu kommen, mit dieser europäischen Grenzsicherung. Die haben Sachen gesehen, die mit Sicherheit ziemlich schrecklich waren. Das werde ich nie erfahren. Ich frag' diese Sachen nicht nach, aber ich muss einfach davon ausgehen, dass das so ist. Und da bin ich vorsichtiger als mit anderen Schülern."
    Viele Jungen leiden unter Schlafstörungen
    Manchmal klagen Ute Rotermunds Schüler über Müdigkeit. Viele der Jugendlichen haben Schlafstörungen und können sich dann in der Schule schlecht konzentrieren. Mitunter ist auch die Motivation ein Problem, weil die Jugendlichen unter Leistungsdruck stehen. Ganz abgesehen davon, was sie hinter sich haben, wird erwartet, dass sie regelmäßig zur Schule gehen, dass sie schnell Deutsch lernen, einen Schulabschluss nachholen und eine Ausbildung anfangen - möglichst alles, bevor sie volljährig werden. Denn dann erlischt der besondere Schutz, der für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge gilt.
    "Ab 18 muss man einen Sonderantrag stellen, dass man weiterlernen kann. Und das wird oft gemacht. Und wir versuchen, ihnen in dieser kurzen Zeit, die bleibt, irgendwie die Möglichkeit zu geben, bis zu einer Berufsausbildung zu kommen, irgendwie den Anschluss zu geben. Und dafür wird das auch verlängert. Das heißt: die Leute können auch mit 19 noch hierher kommen, in die Schule. Wir versuchen, ihnen so viel Zeit zu geben, dass sie das schaffen. Aber insgesamt ist das eigentlich viel zu wenig. Wenn ich mit 17 hier ankomme, selbst wenn ich kein UMF bin, keine Flucht hinter mir hab' und nicht traumatisiert bin, hab aber keinen Schulabschluss - wie soll ich das in einem Jahr schaffen? Aber auch zwei und drei Jahre sind ganz schön knapp."
    Ute Rotermunds Schüler wissen das; Bailo zum Beispiel. Der 16-Jährige ist vor einem Jahr in Bremen angekommen. Er ist aus Guinea geflüchtet. Während er spricht, hält er ein Wörterbuch fest in der Hand. Er macht sich oft Sorgen, dass er nicht schnell genug lernt, erzählt er. Hauptsache eine Ausbildung beginnen.
    "Ich habe, was ich esse - kein Problem. Ich schlafe gut. Ich bin in Sicherheit. Ich denke, das ist alles gut. Mein großes Problem: meine Ausbildung. Wenn ich das kann, denke ich, ich bin glück für mein Leben."
    Die Gedanken an seine frühere Heimat, seine Eltern und Freunde schiebt er oft weg. Ab und zu kann Bailo mit seiner Mutter telefonieren oder skypen. Aber alles erzählt er dann lieber nicht. Sie soll sich keine Sorgen machen.
    "Manchmal, wenn ich habe schwer, ich sag nicht, ich habe schwer. Weil ich denke, vielleicht wenn ich meiner Mutter sage: alles ist schwer - sie haben viel Stress. Ich sage: nein, hier alles ok, alles geht für mir, die Leute ist nett. Ich habe Wohnung, ich esse gut, ich schlafe gut. Und sie ist glück."
    Hanad macht es so ähnlich, wenn er mit seinen Eltern in Somalia telefoniert. Und seine Situation habe sich ja auch wirklich verbessert, sagt er. Als er vor eineinhalb Jahren in Bremen ankam, konnte er gar kein Deutsch: nichts sagen und auch nichts verstehen. Deshalb dachte er ständig, die Menschen würden über ihn tuscheln. Das hat sich geändert.
    "Wenn ich war neu, wenn ich kam in Bus, alle Leute sprechen - ich denke, oh dieser Mann. Aber jetzt, sie sprechen andere. Aber zuerst, wenn du nichts verstehst, du denkst immer: sie sagen, oh, dieser Mann ist nicht gut. Wenn du die Sprache lernst, ist ein bisschen besser. Und Bremen ist gut. Ich denke, ist die beste Bundesland in Deutschland. Ja. Ich komme ohne Eltern, und sie sagen: willkommen. Das ist gut."
    Für heute ist der Deutschunterricht beendet. Ute Rotermund bleibt noch ein bisschen am Lehrerpult sitzen. Ein Schüler bittet sie um Hilfe wegen eines Briefs, den er bekommen, aber nicht verstanden hat. Ein paar andere wollen noch ein bisschen quatschen bevor sie nach Hause gehen. Zuhause, das sind oft Jugend-Wohngruppen, in einigen Fällen auch Pflegefamilien. Das Problem: Im vergangenen Jahr sind fast 300 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge in Bremen angekommen - 100 mehr als noch 2012. Das heißt: Es fehlen Wohnplätze. Die Jugendlichen müssen darauf warten und solange in der sog. "Zast" bleiben, der "zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und Flüchtlinge", ein Übergangswohnheim eigentlich. Aber wenn es keinen anderen Raum gibt, bleibt den UMF nichts anderes übrig. Viele müssen monatelang dort wohnen; in Mehrbettzimmern, mit fremden Menschen, fremdbestimmt. Der nächste Schritt ist die sogenannte "Hilfeplanung". Sie läuft an, wenn ein Flüchtling als minderjährig anerkannt wird und das Familiengericht beschließt, ihm einen Vormund zuzuweisen.
    Wenig Zeit für individuelle Betreuung
    Sandra Senst arbeitet im Fachdienst Amtsvormundschaft im Amt für Soziale Dienste. Sie kümmert sich um rund 50 Kinder und Jugendliche, die Hälfte davon sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. "50" ist eine hohe Zahl, aber früher war sie noch höher. Das Gesetz zur "begrenzten Fallzahl" gilt erst seit ein paar Jahren. Es regelt, dass Sandra Senst maximal 50 Mündel vertreten darf, außerdem muss sie jeden Jugendlichen einmal im Monat sehen.
    "Wir haben uns ausführlich mal die Mühe gemacht, mal die Zeitschiene zu betrachten: was gibt eine Arbeitswoche her, was haben wir an Hilfeplangesprächen, Familiengerichtsterminen wahrzunehmen. Was haben wir an Krisen, an Fortbildungen, an Supervision, und es ist rein rechnerisch nicht möglich, jedes Mündel einmal im Monat zu sehen."
    Trotzdem ist der Amtsvormund eine wichtige Person im Leben eines UMF. Während der Hilfeplanung entscheidet Sandra Senst über die Zukunft des Jugendlichen - zusammen mit einem sogenannten "case manager" vom Sozialdienst und Jugendhilfeträgern. Man lernt den Jugendlichen kennen, überlegt, welche Schule und welche Wohnform am besten passen könnte. Wie geht es dem Jugendlichen körperlich, welche psychologische Betreuung braucht er oder sie. Und natürlich geht es auch um Bürokratisches: Duldungen oder Asylanträge. Sandra Senst kennt die Routine und hat sich trotzdem noch nicht daran gewöhnt.
    "Eine von meinen Jugendlichen - die Vorbereitung für das Asylverfahren war so belastend für das Mädchen, dass sie dann auch ein paar Tage stationären Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte. Das hat mich schon betroffen gemacht, mitzukriegen, dass so ein Asylverfahren, dass ja eigentlich eine positive Zukunft, dass auf jeden Fall erst mal eine Sicherheit für diesen jungen Menschen in Aussicht stellen sollte, dass das so an die Existenz des Menschen noch mal so gegangen ist. Da war ich wirklich sehr erschrocken drüber. Das möchte ich einfach noch mal so feststellen."
    Im Moment läuft die Hilfeplanung bedarfsorientiert ab, sagt die Mitarbeiterin vom Amt für Soziale Dienste. Dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling wochenlang in einem Übergangswohnheim verwahrt wird, hält sie für unzumutbar. Sandra Senst hofft deshalb auf eine sogenannte "Clearing Stelle", die voraussichtlich im Sommer in Bremen eingerichtet wird. Dort sollen Fachkräfte systematisch feststellen, in welcher körperlichen und psychischen Verfassung die Jugendlichen sind, welche Bildung sie genossen, welchen Fluchtweg sie hinter sich haben - um ihnen dann schnell die bestmögliche Hilfe anbieten zu können.
    In vielen Bundesländern gibt es solche Clearing Stellen bereits, in Bremen waren sie laut Sozialbehörde bislang nicht nötig. Inzwischen wird umgedacht, weil die Zahl der UMF so stark gestiegen ist. Bis es die Bremer Clearing Stelle gibt, wird sich an der Arbeit von Sandra Senst aber wenig ändern. Sie wird weiterhin wenig Zeit für ihre Mündel haben. Auch Mortaza ist so ein "Fall". Im vergangenen halben Jahr hatte er nur wenig Kontakt zu seinem Vormund.
    "Ich kenn' ihn auch so nicht so gut. Weil ich hab nur zweimal mit er gesprochen. Also nicht so viel: ja, wie geht’s, und gut und fertig. Ja, zweimal."
    Der 15-Jährige lebt in einer Jugendwohngruppe in Bremen-Oslebshausen. Nach seiner Flucht aus Afghanistan ist er vor einem guten halben Jahr in Deutschland angekommen.
    Die Spuren der Flucht
    Ich darf mir die Räumlichkeiten ansehen, das Mikrofon soll ich dabei aber ausschalten. - In dem großen denkmalgeschützten Haus wohnen neun Jugendliche. Sie kommen aus Nord- und Westafrika und aus Afghanistan. Fast alle haben ein eigenes Zimmer - einfach eingerichtet: mit Betten, Schränken und Schreibtischen. Alles wirkt sehr aufgeräumt und sauber - auch die Wohnküche und das Wohnzimmer.
    Im Souterrain gibt es einen Computerraum mit zwei PCs. Hier unterhalte ich mich mit Mortaza. In Sportklamotten und Hausschlappen sitzt er an einem großen ovalen Holztisch. Den Blick gesenkt. Die Haare frisch gestylt, eine Geltolle auf dem Kopf. Über seine Vergangenheit will er nicht sprechen, und sein Alltag ist auch nicht so spannend, meint er.
    "Ich hab Schule bis drei Uhr, und dann danach - Donnerstag und Dienstag - ich hab Deutschkurs. Und Freitag manchmal Fußball, manchmal Kicker."
    Kamil Görgün ist einer von Mortazas Betreuern. Er arbeitet hier mit fünf weiteren Kollegen, damit die Jugendlichen rund um die Uhr einen Ansprechpartner haben. Zu Beginn sind die meisten sehr ruhig, sagt der Sozialarbeiter. Aber mit der Zeit öffnen sie sich und erzählen von früher, sagt er.
    "Also wenn sie sehen, sie können uns vertrauen, dann erzählen sie es. Aber das dauert. Es ist immer unterschiedlich von Jugendlichem zu Jugendlichem. Aber erfahrungsgemäß so spätestens ein halbes Jahr nachdem sie hier angekommen sind, ist es schon so weit, dass sie dann vieles erzählen, auch über die Vergangenheit, weil das muss ja verarbeitet werden."
    Viele der Jugendlichen kommen aus Krisenregionen. Die Eltern schicken sie mit Schleppern nach Deutschland. Eine Flucht für die ganze Familie ist oft zu teuer, deshalb kommen die UMF allein. Unterwegs erleben sie oft Gewalt. Aber manche fliehen auch, weil sie zu Hause schlecht behandelt wurden. So oder so - alle haben viel mitgemacht, bevor sie hier ankamen. Trotzdem gibt es in der Wohngruppe keine großen Konflikte, sagt Kamil Görgün, der Betreuer.
    "Sie haben einfach Wunsch nach einem besseren Leben. Und sie sehen, das ist hier möglich. Sie wollen hier was erreichen. Und das können sie nur erreichen, wenn sie dieses Spiel nach den Regeln spielen. Ansonsten sie wissen ganz genau: Wenn es nicht klappt, dann sind sie auch schnell draußen. Sie merken: Wir sind auf deren Seite, wir wollen sie unterstützen und auch weiterbegleiten. Also: hier geht’s denen gut, und das zeigen sie uns auch durch ihr Verhalten."
    Das abwechselnde Putzen klappt gut, sagt er. Und mit dem Taschengeld kommen sie auch meistens hin: 250 Euro, inklusive Geld für Kleidung und Essen. Mortaza wird allmählich unruhig. Er hat noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Die Schule ist ihm wichtig. Schließlich will er sich für ein Stipendium bewerben und später einmal Anwalt werden. Nach Afghanistan möchte er auf keinen Fall zurück, auch nicht, wenn er dann seine Eltern wiedersehen könnte.