Christoph Heinemann: Seit einem Monat und 27 Tagen bekommt fast jede und jeder hierzulande wenigstens 8,50 Euro für eine Stunde Arbeit. Diese 8,50 Euro sind nicht in Stein gemeißelt; vielmehr soll eine Kommission regelmäßig die Höhe des Mindestlohnes überprüfen. Heute setzen sich die Kommissionsmitglieder erstmals zusammen.
Stefan Körzell ist Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Mitglied der Kommission. Guten Morgen!
Stefan Körzell: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Körzell, ist das heute eine Kennenlernrunde, oder gibt es schon Probleme?
Körzell: Das ist die konstituierende Sitzung, wo das Gremium erstmals sich trifft und abspricht, wie die Arbeit zukünftig gestaltet werden soll. Ob schon Probleme auf den Tisch kommen, wird sich in der Sitzung zeigen.
Heinemann: Wie soll die Arbeit gestaltet werden?
Körzell: Nun, ich denke, wir müssen uns treffen. Wir müssen uns zunächst eine Geschäftsordnung geben. Es geht auch darum, das Personal für die Geschäftsstelle zu rekrutieren, so dass die Geschäftsstelle arbeitsfähig ist. Und danach auch zu gucken, was die Folgen der Einführung des Mindestlohns sind.
Heinemann: Gerhard Schröder hat uns gerade aufgeklärt über die Aufgaben. Da geht es ja auch um die Höhe des Lohnes. Schauen wir uns mal an: Der Ölpreis ist ziemlich niedrig, die Inflation kaum messbar. Auf absehbare Zeit gibt es ja kaum einen Grund für die Erhöhung?
Körzell: Es gibt eine Orientierung, die festgelegt ist auch in der Debatte im Bundestag. Das heißt, der Mindestlohn soll sich zukünftig an den durchschnittlichen Lohnerhöhungen orientieren, die die Tarifparteien abgeschlossen haben. Und das, was ich jetzt vernehme, gerade aktuell der Abschluss der IG Metall, zeigt nicht, dass der Mindestlohn bei 8,50 Euro stehenbleibt, sondern dass wir davon ausgehen können, dass er erhöht wird.
Heinemann: Bis Ostern soll ja eine Bestandsaufnahme vorgelegt werden. Was sollte sich ändern am Gesetz?
Körzell: Ostern ist eine verkürzte Frist. Die Bundeskanzlerin hat uns in einem Gespräch gesagt, sie will das zunächst sechs Monate beobachten. Jetzt reden wir von Ostern, da sind wir schon etwas verwundert. Es muss unserer Meinung nach keine Änderung an dem Gesetz geben. Das was jetzt diskutiert wird in der Öffentlichkeit, ist ein aufgebauschtes Problem, das es eigentlich gar nicht geben dürfte.
"Langsam mal Ruhe geben"
Heinemann: Sie meinen die Dokumentationspflicht?
Körzell: Ja. Die Dokumentationspflicht für die Berufe, für die sie festgeschrieben worden ist, gab es in der Vergangenheit schon. Hier muss man sagen, in der Vergangenheit haben die Gewerbeaufsichtsämter die Kontrollpflicht gehabt. Da konnten sich Arbeitgeber ausrechnen, dass sie nie kontrolliert wurden. Jetzt macht das aber die Finanzkontrolle Schwarzarbeit und auf einmal ist das Geschrei groß, obwohl sich für die Branchen eigentlich nichts geändert hat.
Heinemann: Herr Körzell, Löhne und Gehälter - das sieht ja diese Dokumentationspflicht vor - bis 2.958 Euro müssen erfasst werden. Genauer gesagt: Die Arbeitsstunden müssen nachgewiesen werden. Stellen Sie sich mal einen begeisterten Jungunternehmer vor, der einen Betrieb auf die Beine stellen möchte. Wie würden Sie dem diesen bürokratischen Kram schmackhaft machen?
Körzell: Nun, es ist für ihn auch eine eigene Sicherheit, wenn die Arbeitszeit dokumentiert wird, falls es zu Streitigkeiten kommt. Arbeitszeit muss immer dokumentiert werden, um die richtige Auszahlung des Lohnes auch vorzunehmen, und die Summe von 2.958 Euro ist genau die richtige Summe. In der Debatte waren ja 4.500 Euro, das ist ja schon einmal abgesenkt worden. Man muss ja auch sehen, dass es bei Berechnungen von Arbeitszeitkonten und Überstunden nicht bei den 1.400 Euro bleiben kann, sondern durchaus, wenn man es auf eine lange Sicht sieht, der Betrag sehr viel höher sein kann, und deswegen sind die 2.958 Euro schon ein Kompromiss, der gefunden worden ist, und von daher sollte man auch hier langsam mal Ruhe geben.
Heinemann: Braucht Deutschland mehr Bürokraten oder mehr Unternehmer?
Körzell: Deutschland braucht mehr Kontrolleure bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, weil wir haben jetzt vier Millionen Menschen mehr, die durch Branchen-Tarifverträge, die einen Mindestlohn vorsehen, und durch den gesetzlichen Mindestlohn kontrollpflichtig sind, die Unternehmen, und hier haben wir einen Mangel. Deswegen: Es geht nicht darum, die Bürokraten hier schlecht zu machen, sondern es geht darum, wir brauchen beides. Wir brauchen junge Unternehmer, die Startups haben, die Jobs bringen, und wir brauchen auf der anderen Seite genügend Kontrolleure, die dafür sorgen, dass der Mindestlohn auch eingehalten wird, weil sonst ist das Gesetz Makulatur.
"Der Mindestlohn vernichtet keine Arbeitsplätze"
Heinemann: Wie viele Arbeitsplätze werden durch den Mindestlohn zerstört?
Körzell: Das erleben wir ja im Moment gerade. Der von dem ifo-Institut verbreitete Unsinn, dass eine Million Arbeitsplätze in diesem Jahr verloren gehen, bewahrheitet sich ja nicht, wie die neuesten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen, sondern wir haben einen Rückgang der Erwerbslosigkeit. Also wird deutlich, dass der Mindestlohn keine Arbeitsplätze vernichtet, weil gerade auch in Branchen, die unter den Mindestlohn fallen, im Moment Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt gesucht werden. Da bestätigt sich eigentlich das, was wir als Gewerkschaften immer gesagt haben: Hier wird ein Gespenst an die Wand gemalt, das es überhaupt nicht gibt, und ich bin sehr froh, dass dieses Gespenst jetzt auch entlarvt wird.
Heinemann: Ihre Bilanz stellen Sie natürlich sehr früh auf, das Jahr ist gerade mal einen Monat und 27 Tage alt. - Amateursportler, LKW-Fahrer auf der Durchreise - für welche Berufsgruppe wird der Mindestlohn als Nächstes aufgeweicht?
Körzell: Ich hoffe für niemanden mehr, für keine Berufsgruppe mehr, weil wir haben immer kritisiert, dass die Ausnahmen nicht richtig sind, und je mehr Ausnahmen es gibt, desto schwieriger ist es, den Mindestlohn zu kontrollieren. Ich denke, wir werden es hinbekommen, dass auch die Transitfahrten geregelt werden, dass sie mindestlohnpflichtig sind. Die Fahrten, Kabotagefahrten in der Bundesrepublik Deutschland, sind es jetzt eh. Frankreich zieht dort im Moment nach, dort gibt es einen Beschluss in der Nationalversammlung, das dort auch zu tun. Also ich glaube, auch hier haben wir eine Debatte, die dem am Ende nicht gerecht wird, was wirklich das Problem ist, und wir werden Lösungen finden, die allen Rechnung tragen.
Heinemann: Herr Körzell, Gewerkschaften wollen ja möglichst viel für die Beschäftigten herausholen. Das liegt in der Natur der Sache. Sind die Tarifpartner in einer Kommission, die ja eigentlich das große Ganze im Blick haben sollte, nicht völlig fehl am Platz?
Körzell: Nein, sie sind nicht fehl am Platz, weil wir entgegen anderen europäischen Ländern ein anderes System haben. Hier bestimmen die Tarifparteien in freien Verhandlungen durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, wie die Tariflöhne sind. Dann ist es auch richtig, dass sich der Mindestlohn weitestgehend daran orientiert. In England gibt es so gut wie keine Tarifvertragsstrukturen mehr, deswegen spielt die Kommission dort eine andere Rolle. Dort muss man auch immer sehen, wie sind die Wirklichkeiten in den betroffenen europäischen Ländern, und ich glaube, dass wir hier in der Bundesrepublik Deutschland doch eine sehr passgenaue Lösung gefunden haben, wie die Erhöhung des Mindestlohnes gefunden werden soll und wer auch dafür Verantwortung trägt.
Heinemann: Nur worauf Sie sich einigen, müssen die Steuerzahler dann finanzieren.
Körzell: Warum müssen das die Steuerzahler finanzieren?
"Nicht der Steuerzahler zahlt"
Heinemann: Zum Beispiel im öffentlichen Dienst.
Körzell: Im öffentlichen Dienst ist es so, dass es dort Tarifverhandlungen gibt, wo die Länder im Moment mit der Gewerkschaft Ver.di verhandeln über eine Tariferhöhung. Das ist auch gut so und das war in der Vergangenheit so. Und wenn sich anschließend der Mindestlohn an der Erhöhung des Durchschnitts der tariflichen Erhöhung über alle Branchen - da ist ja dann nicht nur die Metallindustrie und die chemische Industrie zu berücksichtigen, sondern auch Branchen wie der Einzelhandel und andere -, wenn man diesen Durchschnitt nimmt, dann hat das anschließend nicht der Steuerzahler zu zahlen, sondern dann haben das die Unternehmen zu zahlen, so wie sich das auch gehört, und ich glaube, da sind wir auf einem guten Weg.
Heinemann: Aber besteht nicht die Gefahr, dass die Tarifpartner in der Kommission nachholen, was ihnen in den Tarifverhandlungen nicht gelungen ist?
Körzell: Nein! Das wäre genau umgekehrt der Fall gewesen, wenn man gesagt hätte, die Verhandlungen zur Erhöhung des Mindestlohns finden zu Beginn eines Jahres statt. Dann wäre die Erhöhung des Mindestlohns möglicherweise die Setzung gewesen für Lohnerhöhungen in der Industrie und in der Dienstleistung, wo Tarifverhandlungen stattfinden. Hier ist es genau anders herum gemacht worden, dass nachlaufend der Mindestlohn erhöht wird, wenn die Tariferhöhungen gemacht worden sind, um auch zu berücksichtigen, was in den Branchen für durchschnittliche Erhöhungen vorgenommen worden sind.
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