Ursula Mense: 9,19 Euro Mindestlohn oder mehr? Das war die Frage bis eben. Die Mindestlohn-Kommission hat entschieden und ihre Empfehlung an den Arbeitsminister bekanntgegeben. Es bleibt bei 9,19 Euro, 35 Cent mehr als bisher, aber nur zunächst. Zum 1. Januar 2020, also ein Jahr später, soll eine weitere Erhöhung auf 9,35 Euro folgen. Herr Professor Stefan Sell, Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz, das sind noch mal 16 Cent mehr, also insgesamt eine Erhöhung um 51 Cent. Das ist mehr, als sich der DGB gewünscht hat. Sind sie überrascht?
Stefan Sell: Ja. Ich bin insofern überrascht, als die eigentliche Erhöhung ja "nur" 9,19 Euro gewesen wäre, die auch zum 1.1.2019 in Kraft tritt. Man muss jetzt hier fairerweise sagen, die 9,35 Euro soll es erst ab 2020 geben. Das ist ja noch mal eine Zeit lang hin. Das relativiert das schon.
In der Gesamtbetrachtung scheint es mir, so ein typisches Kompromissmodell der Kommission zu sein. Der politische Druck war doch in den letzten Wochen sehr, sehr stark. Eine stärkere Erhöhung als die, die eigentlich sich rechnerisch ergibt, die kann man ja auch ausrechnen ohne eine Kommission, diese 9,19 Euro, die ja auch jetzt kommt zum 1. Januar 2019, dass man darüber hinausgeht. Insofern verstehe ich das so als ein psychologisches Friedensangebot.
Mense: Aber immerhin: Wenn es ab 2020 mehr wird, dann heißt das doch auch, dass die Tarifabschlüsse für die Metall- und Bauindustrie und den öffentlichen Dienst in die Berechnung mit eingeflossen sind. Denn es ist ja doch jetzt mehr als der Standard.
Sell: Ja, das ist richtig, dass man die letzten Tarifabschlüsse, die normalerweise nicht im Tarifindex drin sind, dass man die mit berücksichtigt - allerdings wohl gemerkt erst ab 2020. Das dürfen wir einfach nicht aus den Augen verlieren. Das ist noch eine ordentliche Zeit hin. Insofern passt das immer noch, so würden die Arbeitgeber argumentieren, mit Sicherheit in dieses Korsett, dass der Mindestlohn nachlaufend zur Tariflohn-Entwicklung angehoben werden soll.
Mense: Sie kritisieren ja schon lange die Zusammensetzung der Kommission. Sie denken jetzt nicht, sie ist mit ihrer Entscheidung, die dann doch ein wenig den Gewerkschaftsforderungen nachkommt, ein bisschen über sich selbst hinausgewachsen?
"Das zeigt, wie groß natürlich die Diskrepanz des Wünschenswerten zum Beschlossenen wäre"
Sell: Nein. Aber gut: Das ist immer eine Frage des Standpunkts. Aber das ist ja jetzt keine revolutionäre Erhöhung des Mindestlohns. Das muss man jetzt mal deutlich sagen. Vor allem nicht, wenn man berücksichtigt, dass der Bund, dass Arbeitsminister Hubertus Heil selber aus seinem Haus hat verlautbaren lassen, eigentlich müsste der Mindestlohn wohl gemerkt heute schon bei 12,63 Euro in der Stunde liegen, wenn man mit dem Mindestlohn ein Leben lang auskommen müsste, um nach 45 Jahren eine Rente zu bekommen, die gerade mal über der Sozialhilfe für die Älteren liegt. Das zeigt, wie groß natürlich die Diskrepanz des Wünschenswerten zum Beschlossenen wäre.
Mense: Auch Finanzminister Olaf Scholz hat von zwölf Euro gesprochen. Das wäre offenbar angebracht. Hätte denn eine solche Forderung in Zukunft wirklich eine Chance?
Sell: Nein! Die hat gerade wegen der Zusammensetzung auch dieser Mindestlohn-Kommission keine Chance. Man muss ja wissen: Dort sitzen drei Arbeitnehmervertreter und drei Arbeitgebervertreter, zwei Wissenschaftler am Katzentisch, die kein Stimmrecht haben, und ein unparteiischer Vorsitzender, wobei der jahrelang bei RWE in Vorständen gearbeitet hat. Der kommt von den Gewerkschaften, ist dann aber auf die andere Seite gegangen. Der soll immer vermitteln. Im Notfall ist seine Stimme ausschlaggebend.
Aber die Arbeitgeber haben bei dieser Konstruktion eigentlich ein sehr weitgehendes Vetorecht und die hätten einer stärkeren Erhöhung, die von vielen ja eingefordert wird, sei es mindestens zehn Euro oder elf Euro, von den zwölf mal ganz zu schweigen, kategorisch sicherlich Widerstand entgegengebracht.
Mense: Dann lassen Sie uns noch ein großes Problem beim Mindestlohn ansprechen, nämlich die mangelnden Kontrollen. Eine DIW-Studie schon Ende vergangenen Jahres hat ergeben, dass allein 2016 1,8 Millionen Arbeitnehmer nicht den Mindestlohn bekommen haben, der ihnen eigentlich zugestanden hätte. Wo liegt das Problem?
"Die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ist relativ gering"
Sell: Ja, das Problem liegt in zweierlei. Zum einen haben wir schlichtweg zu wenig Kontrollen. Ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr in Hamburg: Da wurden im ganzen Jahr 796 Unternehmen überhaupt von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die dafür zuständig ist, kontrolliert. Das sind gerade Mal anderthalb Prozent aller Unternehmen. Wir bräuchten also 66 Jahre, um alle Unternehmen mal durchzuprüfen, und das wissen natürlich die schwarzen Schafe und die machen eine Risikoabwägung.
Die sagen, die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ist relativ gering. Das ist das eine und das hängt auch mit der Unterbesetzung beim Zoll zusammen. Die haben schlichtweg zu wenig Personal.
Das ist aber nicht alles, sondern der Betrug, die Umgehung beim Mindestlohn läuft im Wesentlichen in bestimmten Branchen. Das hat die Studie auch gezeigt, die Sie erwähnt haben. Das ist vor allem Hotel- und Gaststättengewerbe, Einzelhandel und bei privaten Haushalten. Da sind es besonders extrem hohe Werte und dort wird das im Regelfall über Arbeitszeiten gemacht. Das heißt, unbezahlte Mehrarbeit. Das kennen auch die vielen Menschen, die im Reinigungsgewerbe arbeiten, dass sie in der vorgegebenen bezahlten Zeit ihre Leistung gar nicht erbringen können, und das ist natürlich etwas, was man nur nachweisen kann wiederum oder bekämpfen kann, wenn die Arbeitszeiten kontrolliert werden.
Das ist ja auch der Grund, warum die Hotel- und Gaststättenvertreter immer gegen den Mindestlohn Sturm laufen - nicht wegen der Höhe, das interessiert die gar nicht wirklich, sondern weil durch die Kontrollen zum ersten Mal die Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz aufgedeckt werden und klar wird, dass sie hier das Arbeitszeitgesetz verletzen.
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