Das Bessere als bloßes Bewusstsein: Das trägt auf Dauer nicht. Und dergleichen Pessimismus tritt an vielen Stellen der Minima Moralia zutage. Schlecht, heißt es etwa an anderem Ort, stehen die Chancen dessen, "der nicht mitmacht": "Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt."
Es war Peter Sloterdijk, der der Kritischen Theorie in seiner "Kritik der zynischen Vernunft" Anfang der 80er Jahre darum vorhielt, ein "lähmendes Ressentiment" zu pflegen und einen allzu larmoyanten Blick auf die Welt zu werfen. Ihr Vorurteil, so Sloterdijk, bestehe darin, dass "aus dieser Welt nur böse Macht gegen das Lebendige kommen könne." Und weiter: "Die Offensivwirkung des Sich-Verweigerns hat sich längst erschöpft. Das masochistische Element hat das kreative überflügelt." Und wirklich schien in den 80er Jahren, dem reichen, unbesorgten Jahrzehnt, nichts so entrückt wie der latente Masochismus der Minima Moralia. Ihr setzte Sloterdijk darum eine andere, zeitgemäßere Haltung entgegen - wenn er sie auch nicht empfehlen, sondern nur diagnostizieren mochte: die des sogenannten "aufgeklärten falschen Bewusstseins". Gerade weil die Weltsicht der Kritischen Theorie so bekannt ist, argumentierte Sloterdijk, hat sie an Wirkungskraft verloren. Denn das aufgeklärte Bewusstsein führt zwar ein falsches Leben. Aber es weiß darum und hat das schlechte Gewissen längst zum Bestandteil der eigenen Argumentation gemacht. Zitat Sloterdijk: "Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewusstsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexiv gefedert."
Sloterdijks Ausführungen gehörten zu den letzten größeren Meditationen über die Minima Moralia. Nennenswerte analytische Impulse löst sie nicht mehr aus. Hie und da eine Tagung, hin und wieder, zu runden Jahrestagen, eine Würdigung. So hat jetzt etwa die "Süddeutsche Zeitung" zum 50. Geburtstag der Minima Moralia eine Reihe Autoren gebeten, je ein Kapitel des Buches aus heutiger Sicht zu kommentieren. Ein fruchbarer Versuch. Denn er zeigt einerseits, wie zeitbedingt Adornos Aphorismen waren, wie überspannt, wie durchsetzt von Ressentiments gegen die Phänomene zeitgenössischer Alltagswelt. Noch öfter wird allerdings deutlich, wie scharf und zutreffend die meisten seiner Beobachtungen noch heute sind, ihre analytische Kraft erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, voll zu erkennen geben.
Freilich dürfte eine heutige Lektüre schon an sich selber irre werden. Denn auf gesicherte Erträge darf sie nicht hoffen. Denn wenn, wie die Minima Moralia immer wieder betonen, die private, vor allem auch die intellektuelle Existenz durch das gesellschaftliche System durch und durch vorbestimmt ist - wo sollte dann die Distanz herkommen, aus der sich Wahres und Falsches, Zutreffendes und Irriges noch scheiden ließen? Schein und Sein, darin dürfte sich Adorno mit den abgeklärten Theoretikern der Postmoderne einig sein, liegen dicht beieinander - so dicht, dass man zwischen ihnen eigentlich kaum mehr unterscheiden kann. "Was überhaupt im bürgerlichen Verblendungszusammenhang Natur heißt", heißt es bei Adorno, "ist bloß das Wundmal gesellschaftlicher Verstümmelung." Das könnte, wenn auch in deutlich entspannterem Stil, auch bei Roland Barthes stehen; und heute, wieder einige Jahre später, beschreibt man diesen Sachverhalt mit dem Zauberwort der "sozialen Konstruktion" - die freilich auch schon zum geflügelten Wort geworden ist, ohne Anspruch, die Ordnung der Dinge aus den Angeln zu heben. Klugerweise, denn man würde sich doch nur überheben.
Und doch wäre es an der Zeit, sich mit Adorno wieder eines reichlich altmodisch anmutenden Gegensatzes zu entsinnen: desjenigen zwischen Lüge und Wahrheit. "Es ist dahin gekommen", klagen die Minima Moralia, "dass Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie." Das gilt noch heute, vielleicht mehr als vor fünfzig Jahren. Und darum scheint es nach wie vor angebracht, an der "Wahrheit" festzuhalten - auch dann, wenn es im letzten Sinne gar nicht gibt, wie wir seit Postmoderne und Dekonstruktion wissen. Und doch ist man gerade in Zeiten umfassenden sozialen Wandels - Stichwort Globalisierung - gut beraten, zwischen Wahrheit und Lüge sorgfältig zu unterscheiden.
Das klingt gut. Doch wieder hauen die Minima Moralia dazwischen. Denn die Kritik an der Welt setzt eine Distanz voraus, die auf priviligierter Stellung gründet, und eben dadurch heimliches Einverständnis mit der Welt voraussetzt - was in letzter Konsequenz die abgefeimteste Stufe des Verrats darstellt. "Die Aversion dagegen", so Adorno, "ist nachgerade zum schwersten Hindernis der Theorie geworden: folgt man ihr, so müsste man verstummen, und folgt man ihr nicht, so wird man plump und gemein durchs Vertrauen auf die eigene Kultur." Die Kritik, das bleibt als vielleicht zeitloseste Erkenntnis der Minima Moralia, hat ihre Unschuld auf immer verspielt, denn sie ist längst Bestandteil des Systems. Das ist beschämend, aber man muss es wohl hinnehmen. Denn es bleibt wenig anderes. Wenn man aus der Geschichte der Minima Moralia eine Moral ziehen kann, dann wohl diese: Kritik ist notwendig. Aber sie muss sich in Bescheidenheit üben. Denn nur in bescheidener Haltung gelingt der Aufklärung ihre vielleicht notwendigste Aufgabe: sich auch über sich selbst aufzuklären.