Ein trostloser Ort irgendwo in der südfranzösischen Camargue. Triste Häuser, Spielplätze aus Beton, Kinder ohne Essen. Mütter, die wahlweise betrunken sind oder sich prostituieren, um irgendwie über die Runden zu kommen. Das ist die gar nicht wunderbare Welt der zehnjährigen Aurore, aus der sie vor allem mit Hilfe von Musik entfliegen will.
"Ich habe so einen Hunger."
"Denk nicht dran, dann geht es gleich wieder vorbei."
Wilde, verstörende Bildsequenzen
Aurore und ihr bester Freund Chris streifen ziellos durch die Gegend. Die Kamera ist ihnen immer auf den Fersen, fängt die ganze Trostlosigkeit der Umgebung ein. Bilder von unglaublicher Leere. Blauer Himmel ohne Wärme. Auf dem Spielplatz der Wohnsiedlung treffen Aurore und Chris zwei kleine Kinder, die Kekse dabei haben. Es kommt zum Streit ums Essen. Am Ende ist der kleine Paulot tot, seine Schwester Maya verstört und Aurore als gefährlich gebrandmarkt.
"Was geht nur in dem Kopf des Mädchens vor?"
"Keine Tränen. Kein Bedauern."
"Sie haben doch gesehen, unter welchen Bedingungen sie lebt."
"Es gibt viele Kinder, die so leben, das macht sie nicht zu Kriminellen."
Die erste Folge der Miniserie "Ein Engel verschwindet" endet mit Aurores titelgebender Kindheit. Folge zwei beginnt mit ihrem Leben nach der Jugendstrafe – ein Leben, das vermeintlich normal anmutet: Sie hat einen Job, eine Tochter, einen neuen Namen. Alles scheint gut – bis ein Journalist ihre wahre Identität enthüllt.
Genauso wie Aurore leidet auch Maya, die inzwischen erwachsene Schwester des toten Paulot. Unaufhörlich bewegen sich die beiden Frauen bildlich aufeinander zu.
Regisseurin Laetitia Masson schneidet die Protagonistinnen immer wieder in wilden, fast verstörenden Bildsequenzen, gegeneinander.
Maya reitet, Aurore geht ins Wasser.
"Alle sagen, dass ich zu jung war, um mich an ihn zu erinnern."
"Aber ich kann mich an alles gut erinnern."
Eine Welt voller Grautöne
Während Aurore – als Erwachsene eindrucksvoll verkörpert von Élodie Bouchez – in ihrem Tun sehr nachvollziehbar ist, kommt die von Lolita Chammah gespielte Maya, streckenweise wie eine Traumfigur daher. Eine Frau, die ihre Probleme mit Pferden bespricht, wildfremde Männer küsst und immer eine Art Cowboy-Outfit trägt. Getrieben von dem Wunsch, die Mörderin ihres Bruders zu sehen.
"Ich will sie treffen. Ihr sagen, was sie alles zerstört hat."
In der Miniserie "Ein Engel verschwindet" zieht sich das Unglück durch das Leben aller Figuren, kann keiner der monströsen Tat entfliehen.
"Niemand wird mich je lieben können."
"Bei mir ist es genau umgekehrt."
"Ich werde nie jemanden lieben können."
"Hat man Sie verletzt?"
"Nein. Der Schmerz ist keine große Sache. Sie sprechen mit einer Toten."
Die Miniserie stellt viele wichtige? Fragen: Kümmert sich die Gesellschaft nur um die Täter und lässt die Opfer allein zurück? Wie weit bestimmt das Hineingeborensein in schwierige Umstände schon die Katastrophe?
Vieles bleibt im Dunkeln
Regisseurin Laetitia Masson verhandelt all dies in knapp drei Stunden. Das ist nicht viel Zeit für so ein gewaltiges Thema. Das Tabu "Mord unter Kindern" hätte mehr Raum verdient, eine präzisere Analyse beider Seiten. Während die Täterin Aurore und ihr Umfeld von allen Seiten beleuchtet werden, bleiben die Opferfamilie und auch Mayas Leben sehr im Dunkeln. Dennoch ist die Serie sehenswert, weil sie den Zuschauer mit einer Welt konfrontiert, die voller Grautöne ist, in der nicht immer das Böse siegt und die Hoffnung zuletzt nicht stirbt.
"Sie ist überhaupt kein Monster. Sie ist normal."
"Ein Engel verschwindet" bildet den Auftakt einer neuen Serienoffensive bei Arte. Der Sender hebt in den nächsten Monaten unter anderem "River" ins Programm – eine Serie aus dem Londoner Polizeimilieu. Im März folgt das Finanzmarktdrama "Bad Banks" in der Regie von Christian Schwochow.
In dieser Reihe ist "Ein Engel verschwindet" nicht der große Knaller zu Beginn des Serienjahres bei Arte. Immerhin bietet der Dreiteiler keine leichte Kost und er stimmt nachdenklich. Arte traut sich an sperrige Stoffe heran - und hebt sich wohltuend vom TV-Markt ab.