Sancar verwies auf eine Sponti-Spruch aus den 70er Jahren: "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit". Der habe nicht viel gebracht. Im Gegenteil: Eine plurale Gesellschaft müsse Widersprüche aushalten. "Mit ordnungspolitischen Tricks solche Zustände zu schaffen, finde ich staatsrechtlich nicht in Ordnung." Sancar verwies auch darauf, dass sich die türkische Regierung jetzt selbst zum Opfer stilisiere. Das könne ihr bei den türkischen Wählern in Deutschland Stimmen bringen.
"Yücels Verhaftung ist eine Geiselnahme"
Gleichzeitig übte der HDP-Politiker scharfe Kritik an der türkischen Regierung und ihren Umgang mit der Justiz. Es gebe in der Türkei keine unabhängige Justiz. Die Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel sei eine "Geiselnahme", ebenso wie die Verhaftung von 13 HDP-Abgeordneten und 150 türkischen Journalisten. "Jeder von uns kann jederzeit verhaftet werden", sagte Sancar, dessen Immunität wie die aller HDP-Abgeordneten aufgehoben wurde. "Diese Entscheidungen werden nicht mit juristischen Argumentationen getroffen, sondern nach den Anweisungen der Regierung."
Sancar verwies darauf, dass seit dem Putschversuch tausende Richter und Staatsanwaälte per Dekret entlassen wurden - "ohne Begründung, ohne Anhörung ohne Verteidigungsrechte". Jeder Richter habe Angst in eine solche Situation zu gertaten, sage Sancar und zitierte Kurt Tucholsky: "Es ist keine schlechte Justiz, es ist überhaupt keine Justiz."
Deutsche Opposition begrüßt Auftrittsabsagen
Von der Opposition in Deutschland kommt dagegen Zustimmung für die Auftrittsabsagen. Der Linken-Bundestagsabgeordnete Alexander Neu sagte ebenfalls im Deutschlandfunk, die Bundesrepublik sollte nicht ihr Staatsgebiet für die Propaganda eines autoritären Systems freigeben. Von der Bundesregierung forderte der Linken-Politiker ein härteres Auftreten gegenüber der Türkei. Angesichts der diktatorischen Tendenzen von Präsident Erdogan müsse die EU-Integration auf Eis gelegt werden. "Wir müssen nicht ständig vor der Türkei in die Knie gehen", so Neu, "wir müssen die Entwicklung dort nicht unterstützen." Er rief außerdem deutsche Urlauber dazu auf, nicht in die Türkei zu reisen.
Neu bedauerte, dass der türkische Justizminister als Reaktion auf die Absage seines Auftritts ein geplantes Treffen mit Bundesjustizminister Maas platzen ließ. Das sei Kommunikationsverweigerung. Bei dem Gespräch sollte es um die Inhaftierung von Deniz Yücel gehen.
Der Minister wollte in Gaggenau in Baden-Württemberg für die geplante Verfassungsreform werben, die dem türkischen Präsidenten Erdogan deutlich mehr Macht geben würde. Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci wollte am Sonntag im Bezirksrtathaus im Kölner Stadtteil Porz auftreten. Die Absage in Gaggenau wurde unter anderem mit Sicherheitsbedenken begründet, die Stadt Köln weigerte sich, den Saal zur Verfügung zu stellen.
Rathaus in Gaggenau nach Bombendrohung geräumt
Möglicherweise als Reaktion darauf gab es am Morgen in Gaggenau eine Bombendrohung. Das Rathaus wurde geräumt. Hintergründe hat die Polizei noch nicht mitgeteilt. Die Absagen waren in der Türkei auf scharfe Kritik gestoßen. Ein Sprecher von Präsident Erdogan erklärte, sie seien aus fadenscheinigen Gründen erfolgt. Damit komme das wahre Gesicht derjenigen offen zum Vorschein, die bei jeder Gelegenheit versuchten, der Türkei Lektionen in Demokratie und Meinungsfreiheit zu erteilen. Außenminister Cavusoglu warf Deutschland Doppelmoral vor. Seine Regierung könne die Geschehnisse in Gaggenau nicht hinnehmen, sagte Cavusoglu in Ankara. Wenn Deutschland die Beziehungen zur Türkei aufrecht erhalten wolle, müsse es lernen, sich zu benehmen.
Der türkische Wirtschaftsminister Zeybekci will jetzt am Sonntag in Leverkusen auftreten. Nach Angaben der Polizei soll im dortigen "Forum" ein Konzert stattfinden, zu dem neben dem Minister auch der türkische Generalkonsul erwartet werde. Das türkische Fernsehen wolle die Veranstaltung live übertragen. Gegendemonstrationen seien bisher nicht angekündigt.
(mw/jcs)