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Mischa Meier
„Geschichte der Völkerwanderung"

Wer zog wann von wo nach wo, wer marodierte, siegte, räumte das Feld? Der Tübinger Historiker Mischa Meier untersucht die Geschichte der Völkerwanderung. Er verortet sie zeitlich und räumlich neu, zudem macht er die aktuelle Brisanz dieser Geschehnisse deutlich.

Von Marc Engelhardt |
Belagerung von Köln durch die Hunnen - Fresko in der St. Stephan Kirche in Morter in Südtirol.
Hintergrund: Ein Kirchenfresko zeigt die Belagerung Kölns durch die Hunnen. Umschlag: Einzug König Etzels in Wien. (imago / imagebroker/ Handl / Verlag C.H.Beck)
Der Begriff der Völkerwanderung hat Konjunktur: Medien ziehen ihn heran, um Parallelen zur sogenannten Flüchtlingskrise zu ziehen. Populisten beschwören mit ihm Bilder von marodierenden Hunnen und Vandalen herauf. Ein guter Zeitpunkt, um ausführlich zu beleuchten, wovon da eigentlich die Rede ist, wenn von Völkerwanderung gesprochen wird. Aber auch ein schwieriger, wie der Tübinger Historiker Mischa Meier in seiner mehr als 1500 Seiten starken "Geschichte der Völkerwanderung" einräumt. Zwar sei jede historische Monographie auch ein Spiegel der eigenen Zeit. Jedoch:
"Die Rahmenbedingungen, unter denen sich die ‚Völkerwanderung‘ vollzog, unterscheiden sich in einem Ausmaß von jenen der aktuellen Situation, das größer nicht sein könnte. Das bedeutet nicht, dass Vergleiche grundsätzlich unmöglich waren. Aber sie sind methodisch diffizil und haben mit Parametern und Faktoren zu operieren, die nicht Gegenstand dieses Buches sind. Eine Reduktion komplexer Sachlagen um eines raschen Vergleichs oder – schlimmer noch – einer simplen Analogie willen würde lediglich die Gefahr bergen, Geschichtswissenschaft zur Legitimationskrücke für Argumente aus den politischen Rändern zu degradieren."
Dessen ungeachtet ist Meiers minutiöse Untersuchung von Geschehnissen, die anderthalb Jahrtausende und mehr zurückliegen, äußerst erhellend – auch, was die heutige Zeit angeht. Zumal Meier die titelgebende "Völkerwanderung" durchaus kritisch beleuchtet.
Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert
Denn der Begriff stammt nicht etwa aus der Antike, sondern tritt erstmals bei Schiller Ende des 18. Jahrhunderts in Erscheinung, als "große Bewegung der germanischen Völker am Ausgang des Altertums".
"Damit waren in der deutschen Wortverwendung – und folgerichtig auch in den daraus abgeleiteten konzeptuellen Zugriffen auf den Gegenstand – bereits weitreichende Festlegungen getroffen: Erstens die Fokussierung auf wandernde Einheiten, die zweitens als ‚Völker‘ begriffen und drittens als die eigentlichen Akteure der so bezeichneten Epoche angesehen wurden."
Die Völkerwanderung wurde so zum Beleg für eine Vorstellung, die bis heute nicht ausgerottet ist: Die von Völkern als festgefügten, kohärenten und überzeitlichen Einheiten, wie Meier schreibt, als Schicksalsgemeinschaften, deren Entwicklung sich in Stammbäumen darstellen lässt. So lässt sich die Völkerwanderung als Geschichte angeblicher germanischer Urvölker verstehen, die das römische Reich mit ihrer Einwanderung zu Fall brachten – zeitlich zwischen der gotisch-hunnischen Konfrontation 375 und dem Einfall der Langobarden 568, räumlich im Westen des Römischen Reiches verortet. Mit diesen Vorstellungen räumt Meier auf.
Völker sind keine geschlossenen Einheiten
"Heute hat die Wissenschaft Vorstellungen dieser Art aufgegeben (, wenngleich sie aktuell im politischen Diskurs wieder an Raum gewinnen). Völker gelten mittlerweile als soziale Gebilde, die im Verlauf der Zeit vielfältigen Veränderungen unterlagen und sich nicht mehr als kohärente Einheiten durch die Jahrhunderte verfolgen lassen. Völker müssen auch nicht mit Nationen übereinstimmen; moderne politische Grenzen stellen häufig ohnehin willkürliche Setzungen oder das Ergebnis situativer Konstellationen dar, und insbesondere in der gegenwärtigen Diskussion um die Zukunft der Nationalstaaten erweisen sich mögliche hintergründige Volkskonzeptionen vielfach als obsolet."
Wie obsolet sie sind, zeigt sich für Meier etwa bei der Einnahme Roms durch den Goten Alarich im Jahr 410. Seine Person wird von zeitgenössischen Geschichtsschreibern wie Orosius widersprüchlich beschrieben: Alarich war Gote, aber auch römischer General. Orosius feiert die von ihm angeführten Barbaren mal als Beschützer Roms, dann wieder hofft er, dass die Barbaren sich gegenseitig ausrotten mögen. Für Meier ein Beleg dafür, wie wenig die Vorstellung von abgeschlossenen Völkerscharen das Geschehen von damals zu beschreiben vermag. Viele der "Völker" brachen gar nicht über Rom hinein, sondern lebten längst dort und spielten lediglich auf einmal eine sichtbare Rolle.
"Wenn [...] Konflikte, Eskalationen oder Kriege in unserer Überlieferung einen besonderen Stellenwert einnehmen, so muss dies nicht unweigerlich bedeuten, dass das Zusammenleben von Römern und Barbaren – soweit sie überhaupt unterscheidbar waren – permanent von wechselseitigen Abgrenzungsversuchen und Auseinandersetzungen geprägt gewesen wäre – ganz im Gegenteil. Die meisten Barbaren strebten nach Integration in das Römische Reich, nicht nach dessen Zerstörung; man wollte von seinen Reichtümern und vom hohen Lebensstandard profitieren, keineswegs aber vorrangig dessen Grundlagen vernichten."
Eine Frage wie die nach der "Herkunft der Alemannen" ist demzufolge schlicht falsch gestellt. Die Alemannen kamen nirgends her, sondern entwickelten sich aus fluiden Kriegergruppen, zu denen auch Römer gehörten.
Die Transformation endet nicht
Und hier zeigt sich für Meier, dass der mit der Völkerwanderung in Verbindung gebrachte Niedergang Roms vielmehr einer Transformation glich, die sich allerdings im Westen und im Osten des Römischen Reichs ab dem 6. Jahrhundert höchst unterschiedlich vollzog. Auch diese Tatsache, die eng mit einer neuen Identitätsbildung im byzantinischen Rom zusammenhing, stellt Meier in den großen Zusammenhang einer Wendezeit von der Antike zum Mittelalter. Er verortet die Völkerwanderung damit zeitlich und räumlich weiter gespannt als in der gängigen Vorstellung, nämlich zwischen dem 3. und dem 8. Jahrhundert und sowohl im Westen wie auch im Osten des römischen Reichs. Die Zeit, die Meier so über die Jahrhunderte unter Ausschöpfung aller verfügbarer Quellen beschreibt, ist eine longue durée von Verdichtungs- und Kumulationseffekten und zugleich harten Brüchen und Schockmomenten, in der sicher scheinende Kategorien in Frage gestellt und schließlich durch neue ersetzt wurden.
"Erst während der ‚Völkerwanderung‘ setzte [...] eine Entwicklung ein, die als ‚ethnische Wende des Frühmittelalters‘ beschrieben wurde: Soziale Gruppen und Gemeinschaften, namentlich auch die oströmische Bevölkerung, bezogen ihre Kohärenz und ihre Singularität in zunehmendem Maße aus einer je gemeinsamen ethnischen Identität; das waren nicht immer bewusste Entscheidungen, sondern häufig Ergebnisse von Prozessen, die sich mitunter über etliche Jahrzehnte erstrecken konnten."
Transformation, Veränderung endet niemals, wie Meier betont. Und so ist seine umfassende Geschichte der Völkerwanderung brandaktuell. In einer Zeit neuerlicher Umbrüche liefert Meiers Buch wichtige Erkenntnisse aus einer zwar lange zurückliegenden, aber hoch relevanten Epoche.
Mischa Meier: "Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.",
C.H. Beck, 1532 Seiten, 58 Euro.