Das Experiment erscheint aus heutiger Sicht grotesk und undenkbar. Ein Mischwesen aus Mensch und Menschenaffe soll entstehen, ein sogenannter Hybride, der in jeder Körperzelle das Erbgut beider Elternteile trägt. Damals sorgt das Vorhaben zwar für Aufmerksamkeit – auch in Zeitungen in den USA wird darüber berichtet. Es ruft aber eher Neugier als Bestürzung hervor. Ilya Iwanow jedenfalls scheint der ideale Mann für das Projekt. Noch zur Zarenzeit hat der renommierte Biologe Methoden entwickelt, um Nutztiere künstlich zu befruchten, darunter Pferde für die russische Kavallerie. Diese Methoden hat er auch genutzt, um unterschiedliche Arten miteinander zu kreuzen, zum Beispiel Pferd und Zebra. Warum nicht auch den nächsten Schritt gehen?
Welche Motive treiben Iwanow?
Über seinen Plan, ein Mischwesen aus Mensch und Schimpanse zu erzeugen, spricht Iwanow erstmals 1910 auf einer zoologischen Konferenz in Graz. Die Idee haben damals schon andere formuliert, und der bekannte deutsche Mediziner und Zoologe Ernst Haeckel hat sie für gut befunden. Das Wissen über Evolution und Genetik ist noch sehr begrenzt, die wissenschaftliche Gemeinschaft verspricht sich neue Erkenntnisse zu Herkunft und Psychologie des Menschen. Schließlich bietet auch die gesellschaftliche Lage in Russland nach der Machtübernahme der Bolschewisten Iwanow den Raum für sein Experiment. "Viele ethische Tabus und Verbote lösten sich auf", so der russische Wissenschaftshistoriker Kirill Rossiianov. Die Regierung habe offenbar ein wissenschaftliches Prestigeprojekt fördern wollen, das in keinem anderen Land realisierbar gewesen wäre. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass das Experiment die atheistische Propaganda der Bolschewisten untermauern sollte. Unterstützt wird Iwanow auch vom französischen Institut Pasteur. Das hat gerade eine der ersten Primatenforschungsstationen in Afrika eröffnet und bietet dem russischen Biologen freien Zugang zu den Schimpansen – wohl auch, weil es sich davon Publicity für die Station verspricht.
Menschliches Sperma für drei Schimpansinnen
Die ersten Versuche von Iwanow in Afrika schlagen fehl. Er wendet sich an Rosália Abreu – eine exzentrische Kubanerin, der in ihrem Privatzoo erstmals die Nachzucht von Schimpansen gelungen ist. Schließlich bekommt er im Botanischen Garten von Conakry, Guinea, eine Chance – und es gelingt ihm tatsächlich, menschliches Sperma in drei Schimpansenweibchen einzuführen. In seinem Notizbuch schreibt Iwanow 1927: "Innerhalb von zwei bis drei Minuten war die Schimpansin regungslos. Die Injektion wurde auf dem Boden durchgeführt. Der Rumpf des Affen befand sich dabei zur Hälfte im Käfig, während die untere Hälfte draußen blieb." Trächtig – oder ist an dieser Stelle der Begriff schwanger angebracht? - wird keines der Weibchen.
Deep Science - Alle Folgen des Wissenschaftspodcasts
- Episode 1: Kommunikation zwischen Mensch und Tier | Mit Schimpansen sprechen
- Episode 2: Hirnforschung | Stierkampf mit Fernsteuerung
- Episode 3: Psychometrie | Dein Gesicht verrät deine politische Überzeugung
- Episode 4: Mischwesen | Kann man Mensch und Affe kreuzen?
- Episode 5: Solar Geoengineering | Verdunkeln wir doch die Sonne!
Nach der Rückkehr arbeitet Iwanow in Russland unbeirrt weiter an seinem Plan. Dieses Mal sucht er menschliche Frauen, die bereit sind, sich mit Spermien eines Orang-Utans befruchten zu lassen. Und er findet sie. Rossiianov stößt bei seinen Recherchen auf den Brief einer Frau G.: "Wenn ich denke, dass ich der Wissenschaft einen Dienst erweisen könnte, fühle ich genug Mut, mich an Sie zu wenden. Ich bitte Sie, lehnen Sie mich nicht ab. Ich bitte Sie, mich für das Experiment zu akzeptieren."
Was würde eine erfolgreiche Kreuzung für uns Menschen bedeuten?
Um Iwanow ranken sich heute viele Theorien und Mythen: Waren seine Experimente die Inspiration für den Film "King Kong", der 1933 erschien? Plante Stalin gar, Affenmenschen als schmerzfreie und robuste Arbeiter und Krieger zu züchten? Als vor einigen Jahren der US-Psychologe Gordon Gallup andeutete, er wisse von einem "Affenmenschen", der in den 1920er-Jahren in Florida geboren wurde, sorgte das Thema erneut für Aufsehen. In der Tat wirft es existenzielle Fragen auf: Was würde es für unser Selbstbild bedeuten, wenn es die Nachkommen von Mensch und Schimpanse tatsächlich gäbe?
Der Podcast: Halb Affe, halb Mensch
Im Podcast erzählen wir die Geschichte von Ilya Iwanows Kreuzungsexperimenten mit Hilfe des russischen Wissenschaftshistorikers Kirill Rossiianov. Er hat über einen ehemaligen Studenten Iwanows Zugang zu dessen Notizen und Laborbüchern bekommen und die Ereignisse im Detail rekonstruiert. Clive Wynne von der Arizona State University beschreibt, welche Rolle die exzentrische Kubanerin Rosália Abreu bei Iwanows Vorhaben gespielt hat. Und mit dem Reproduktionsbiologen Rüdiger Behr vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen gehen wir der Frage nach, ob Mensch und Schimpanse tatsächlich gemeinsamen Nachwuchs haben könnten – und wie er aussehen würde.