Fabian Elsäßer: Der Begriff "Post-Internet" verweist nicht auf eine Zeit nach dem Internet, sondern bedeutet, dass wir mittlerweile in einer Ära leben, in der das Internet so omnipräsent und alltäglich geworden ist, dass wir es gar nicht mehr bemerken. Musik entsteht heutzutage in einer Art Internet Geistesverfassung – die alle Lebensbereiche umfassende Digitalisierung wird als selbstverständlich wahrgenommen und künstlerisch verarbeitet. Die kanadische Musikerin Claire Boucher alias Grimes hat diesen Geisteszustand verinnerlicht. In ihrer Musik plündert sie die Datenarchive des Netzes, sie verwebt Sounds aus unterschiedlichen Epochen miteinander und verbindet auch im Erscheinungsbild und ihren Texten Einflüsse aus Fantasy, Manga und Science-Fiction. Das gilt auch für ihr neues Album "Miss Anthropocene", auf dem Boucher den drohenden Untergang der Menschheit durch den Klimawandel thematisiert. Corso-Redakteur Raphael Smarzoch hat das Album gehört. Wie wird der Klimawandel auf "Miss Anthropocene" denn verarbeitet?
Kryptisch und undurchschaubar
Raphael Smarzoch: Mit Fridays for Future-Aktivismus oder klassischen Protestsongs hat "Miss Anthropocene" überhaupt nichts zu tun. Stattdessen wird der Klimawandel in so etwas wie eine Privat-Mythologie eingesponnen. Es gibt eine Titelheldin, das ist "Miss Anthropocene", und sie ist eine Art kosmischer Dämon, der das Ende der Welt herbeisehnt. Also, alles sehr kryptisch und undurchschaubar, irgendwo zwischen Computerspiel, Cyberpunk, Manga, und Fantasy. Unterhaltsam ist das allemal. Und besticht auch durch eine spielerische Uneindeutigkeit, die sich ebenfalls in der Musik abzeichnet. Grimes möchte sich nämlich partout nicht festlegen.
Elsäßer: Ist das jetzt gut, dieses Nicht-Festlegen-Wollen, oder wird das Album dadurch so ein eklektischer Wirrwarr, also zerfasert irgendwie?
Smarzoch: Es ist zunächst mal bei einem Stück wirklich sehr überraschend. Nämlich bei "Delete Forever", eine Art Country-Ballade mit Banjo, die vorab als Single veröffentlicht wurde und auch mit Pop-Punk- und Emo-Referenzen kokettiert. Und die Selbstvernichtung durch den Klimawandel auf andere Formen menschlicher Selbstzerstörung erweitert. In diesem Fall um Heroin, also Drogensucht.
Es geht also um verlorene Zukunft, ein thematischer Faden, der das gesamte Album durchzieht und auch musikalisch aufgegriffen wird. Nicht nur unter atmosphärischen Gesichtspunkten, es ist das bislang düsterste Grimes-Album, sondern auch in den Sounds selbst. Skurril ist nämlich, dass trotz des vorwiegend futuristischen und fantastischen Rahmens von "Miss Anthropocene" die Musik nicht besonders futuristisch oder experimentell daherkommt, sondern in der Vergangenheit hängen bleibt. In "4AM" hört man Drum and Bass-Beats und Verweise an Bollywood-Soundtracks. "My Name Is Dark" ist irgendwo zwischen den Smashing Pumpkins und Garbage angesiedelt, also in den 90ern.
Ätherischer Soundschleier
Und über allem liegt so eine Art ätherischer Soundschleier aus ganz viel Hall, der ihrer Musik eine außerweltliche Stimmung gibt. Ich muss da an Interpreten wie die Cocteau Twins oder This Mortal Coil denken, zwei Bands, die in den 80er-Jahren bei 4AD veröffentlichten, wo heute Grimes‘ Musik wiederum erscheint.
Elsäßer: Vor nicht allzu langer Zeit hat Claire Boucher für Aufsehen gesorgt, als sie in den sozialen Medien behauptete, dass künstliche Intelligenz Musiker bald überflüssig machen würde. Außerdem hat sie sehr für Aufsehen gesorgt als ihre Liaison bekannt wurde mit dem milliardenschweren Unternehmer Elon Musk. In welcher Art haben denn diese Dinge aufs Album gefunden, wenn überhaupt?
Smarzoch: In gewisser Weise haben sie schon aufs Album gefunden. Und zwar auch über das Sinnbild des Klimawandels und dem damit verbundenen drohenden Untergang. Sie behauptete ja damals, dass artifizielle Intelligenz das Ende der menschlichen Kunst herbeiführen würde. Einerseits ein nicht besonders origineller Gedanke, da dystopische Szenarien immer einfacher zu imaginieren sind als positive alternative Zukunftsentwürfe, in denen Menschen und Maschinen eine fruchtbare Koexistenz miteinander führen.
Andererseits steckt dahinter auch ein gewisser Nihilismus, der sich nicht nur auf der Ebene misanthropischer Untergangszenarien manifestiert – "Miss Anthropocene" ist übrigens ein Wortspiel aus Misanthropy und Anthropozän, Menschenzeitalter – sondern dieser Nihilismus zeigt sich auch im Privaten.
Elsäßer: Stichwort privat, da kommt dann vermutlich Elon Musik ins Spiel?
Der Klang des Weltuntergangs
Smarzoch: In einem Interview sagte sie einmal, dass Liebe ihre Karriere zerstören würde. Und dass ihr Ruf ruiniert sei. Tatsächlich musste sie sich viel Kritik gefallen lassen, zum Beispiel ihre feministischen Werte verraten zu haben oder einem Silicon-Valley-Faschismus zu frönen, recht anmaßende Dinge wurden ihr da vorgeworfen. Es scheint also, als würde sich Grimes auf "Miss Anthropocene" auch an den Nebenwirkungen ihres Ruhms abarbeiten. In dem Song "Bevor The Fever" singt sie "This is the sound of the end of the world – das ist der Klang des Weltuntergangs. Und dieser Klang ist eigentlich ihr persönliches Lamento.
Elsäßer: Vielleicht noch abschließend ein kurzes Fazit, ein gelungenes Album?
Smarzoch: Ein durchwachsenes Album, würde ich sagen.