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Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47?

Es ist, finde ich, bemerkenswert..., wie mit einem Wortschatz, der aus der Sprache der Vernichtung kommt, diese Leute miteinander in aller Friedsamkeit umgehen. Mitglieder der Gruppe, denen Hinweise auf eine spezifisch 47er Grobheit... noch nie gefallen haben, pflegen zu betonen, ohne aus dem üblichen Selbstlobgehabe herauszufallen: Grobheiten, Burschikosität, ein rauer Ton, wie Günter Grass das nennt, seien ein Merkmal des Umgangs untereinander überhaupt gewesen. Nun ja, in der Tat... Einen Barbaren auf seine Motive und Haltungen hin zu befragen, wenn man ihn trunken spielerisch wie Dionysos seine Keule schwingen sieht, ist zwecklos. Man muss darauf achten, wie und gegen wen er Anstalten macht, ernsthaft zuzuschlagen. Dann ist sein Keulenschwingen ein Aspekt, der im Verein mit anderen sein Tun charakterisiert. Dann auch gehört es in die kritische Überlieferung. Und deshalb gehören Attitüden von Günter Grass, von Martin-Walser, von Joachim Kaiser usw. - alles nachzulesen in diesem Buch - in eine Aufarbeitung der Geschichte der Gruppe 47, die bis heute währt.

Steffen Graefe |
    "Keulenschwingende Barbaren im Verein mit anderen": Mit diesem Bild - wie aus einem Comic - charakterisiert der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb in seiner Streitschrift die wichtigste westdeutsche Literatenvereinigung der Nachkriegszeit, die Gruppe 47: Günter Grass wird - ich zitiere - als "deutscher Barbar auf seinem Bauernhof" in die Nähe von "Blut und Boden" gerückt: Die "gemeingefährliche" Vereinigung von Böll über Grass bis Walser wäre nichts weiter als eine Bande grobschlächtiger Verbalneurotiker gewesen.

    Dass eine solche polemisch überspannte Schrift trotzdem noch als diskussionswürdig zum Beispiel im Berliner Literaturhaus empfunden werden kann, hängt mit der fundierten und gründlichen Recherche des Autors zusammen: Hätten ihn die Ergebnisse nicht zur Beschimpfung verleitet, wäre der seriöse und durchaus mit viel Fleiß und Engagement erstellte Rechercheanteil sehr viel besser zur Geltung gekommen. Er hätte dann auch glaubwürdiger dokumentiert, dass es ihm eigentlich nur - und sicherlich berechtigterweise - darum geht, "die Deutschen daran zu erinnern, dass ihre Geschichte am Leid der Juden teilhat". Über Juden erfahren wir in diesem Buch allerdings wenig. Sie werden von Briegleb nur als rhetorisches Mittel und Figuren in Szene gesetzt, um an ihrem seelischen Leid die Untaten der Gruppe 47 erweisen zu können:

    Von der ersten bis zur letzten Zeile bleibt es Hauptziel des Autors, ein vernichtendes Urteil über die Gruppe 47 zu formulieren. Seine bewusst anvisierte, analytisch scharfsinnige und stechend begründete Abrechnung bezweckt eine moralische, geis-tja.e'Und literarturästhetische Hinrichtung der Gruppe 47.

    Hier soll entlarvt werden, wie sich der als erwiesen unterstellte Antisemitismus der G47 literarisch formierte: Als eine angeblich hermetische Abschottung gegen das Erinnern an Auschwitz und seiner schrecklichen Folgen und als eine Degradierung und Verächtlichmachung der jüdischen Gruppe 47-Mitglieder wie z.B. Paul Celan, dessen Stimme bei einer Lesung 1952 die 47er zum Gelächter verleitet haben soll, weil sie - in ihrem Pathos - der Stimme Goebbels so ähnlich sei. Dieser Spott bekannter deutscher Schriftsteller über ein jüdisches Mitglied sieben Jahre nach Auschwitz dürfe nicht als bloße Taktlosigkeit oder einmalige Entgleisung entschuldigt werden, sondern sei der emotionale, zugleich symptomatische und immer wiederkehrende Reflex einer selbstgerechten - von Gruppe 47-Führer Hans Werner Richter inaugurierten - "antisemitischen Bildsyntax" und "schlummernden Gewaltbereitschaft", so der Wortlaut bei Briegleb.

    Ich erzähle ausführlich und verzweigt und aufeinander verweisend, wie das sich entwickelt, dieses Abwehren Celans, das sich weitgehend auf die Todesfuge bezieht, die er in Niendorf 52 gelesen hat. Richter heizt den Ärger gegen Celan mit dieser verrückten Stimme immer wieder an, weigert sich, die Gedichte zu lesen und spuckt seine Abwehr gegen diese Gedichte auch ganz deutlich herum... ein Mordspalaver und eine widerliche Intrige, Lug und Trug - um Celans Gedichte noch drinzuhalten, um den Ruf der Gruppe 47 zu mehren - Celan hat sich zurückgezogen-... und Richter tobt. Diese ganzen Geschichten, die wirklich widerlich sind, sind das Medium, in dem sich so etwas wie Freundschaftsbegehren Celans entwickelt in dieses Chaos von Niederträchtigkeit hinein.

    Ein Chaos von Niederträchtigkeit. Klaus Briegleb zerbricht das moralische Fundament der Gruppe 47 und entdeckt darunter nichts weiter als Schlamm und Kot, eine zutiefst verachtete Verderbtheit, das Adjektiv "widerlich" entfährt dem Autor dabei immer wieder. Der gute Mensch Klaus Briegleb hat die Drecksarbeit auf sich genommen - und serviert sie seinen Lesern als Menü in mehreren Gängen. Er wühlte in den geistigen Katakomben, in den Archiven der Gruppe 47. Verbissen arbeitete er sich durch Berge von zum großen Teil unveröffentlichter Dokumente und entdeckte einen Abgrund an Intrigen und Widerwärtigkeiten.

    Germanisten gehen ja kaum noch in die Archive, obwohl sie Historiker sind oder sein sollten. Der Historiker muss sich fragen, wie er das Wesentliche, das umspielte Nichts, die Konstellation um die leere Mitte der Gruppe 47 um den elektrischen, den Vorlesestuhl, auf dem gesessen wird und geschwiegen wird, betrachten und beschreiben solle.

    Briegleb beschreibt aber nicht nur, er bewertet. Und er bedient sich ungeklärter Schlagworte: Das von den Medien verschlissene Wort "Antisemitismus" wird z.B. von dem Wissenschaftler Briegleb naiv benutzt; es wird nicht einmal definiert - oder gar historisch-kritisch reflektiert, sondern nur als ein Kampfbegriff mit polemischer Absicht insinuiert. . Auch neigt Briegleb zu platten und arg vereinfachenden Pauschalisierungen: Immer wieder spricht er von "den" Juden und "den" Deutschen, so als würde es sich dabei um zwei feindliche, in sich totalitär geschlossene Stämme aus der Neander-talzeit handeln, die sich in mythischer Erstarrung bis zum jüngsten Gericht einander fremd gegenüberstehen werden.

    Man glaubte, die antifaschistische Vereinigung der Zeit zu sein. Germanisten schwatzen das nach. In Wahrheit war man vereint im Faszinosum der Angst, mehr voneinander zu erfahren, als man erfahren wollte...

    Als Schlüsselbeleg für diese Angst der Gruppenmitglieder zitiert und analysiert der Autor u. a. eine autobiographische Notiz von Hans Werner Richter über seine erste Begegnung mit der jüdischen Schriftstellerin Ilse Aichinger. In blumigen Worten schilderte Richter aus dem Rückblick Mitte der sechziger Jahre einen frühlingshaften Spaziergang, den er 1952 mit seiner jüdischen Kollegin in Wien unternommen hatte. Während man zunächst unverfänglich von den glücklichen Zeiten der K. u. K.Monarchie schwärmt, bleibt Aichinger plötzlich stehen und sagt leise: "Hier an dieser Stelle habe ich gestanden, als meine Verwandten abtransportiert wurden." Richter reagiert verlegen.

    Damals fragte ich nicht weiter, ... vielleicht aus Angst, mehr zu erfahren,... als ich hören wollte. Am nächsten Abend hielt ich einen Vortrag in einem Wiener Club. Ich sprach über die junge deutsche Literatur.

    Briegleb kritisiert und schmäht Richters ängstliches Vermeiden eines Gesprächs über Gaskammern. Was aber hätte er stattdessen tun sollen? Sich von Aichinger alle Graul beschreiben lassen, die ihren Eltern angetan worden waren? Und: die jüdische Kollegin auf der literarisch ästhetischen Ebene ohne jedes "Tabu" noch einmal auf dem Wege der Erinnerung in die Gaskammer führen? Eine solche gnadenlos den Schrecken ausmalende Erinnerung wäre mit Sicherheit keine Ablenkung gewesen, aber ein rücksichtsloser Akt. Brieglebs mangelndes Verständnis für Richters sensibles Verhalten gegenüber Aichinger wird zum Bumerang, der seine eigene Argumentation auf die grobschlächtige Seite der Täter treibt.

    Die von Briegleb an zentraler Stelle beschriebene Begegnung Richters mit Aichinger dokumentiert keine Empfindungslosigkeit, sondern ist Ausdruck einer Sensibilität, die Briegleb unterschlagen muss, weil er sich in der selbstgewählten Rolle des Staatsanwalts so pharisäerhaft wohlig eingerichtet hat, dass er nicht auch noch die Aufgaben der Verteidigung mit übernehmen will.

    Briegleb argumentiert nicht als ein verständnisvoller Therapeut der Gruppe 47, er begnügt sich auch nicht mit der bloßen analytischen Beschreibung, sondern er posiert immer wieder durchgehend als deren Ankläger und Richter - in einem nicht gerade rechtsstaatlich anmutenden Prozess, der den Beschuldigten die Verteidigung verweigert Der Text Richters sei "antisemitisch"; Rühmkorf befleißige sich eines "literarischen Karriere-Nationalismus", und Andersch würde "nach seiner konformistischen Liaison mit dem NS-Antisemitismus als Held wieder auferstehen. Selbst wenn diese offenkundig negativ gemeinten Charakterisierungen tatsächliche vorhandene Tendenzen beschreiben sollten, begnügt sich der Autor mit der Rolle des Anklägers. Es ist nicht sein Anliegen, das anscheinend gestörte Verhältnis der G47 zur Nazidiktatur mit salomonischer Klugheit zu begegnen.

    So muss wohl, bis ins Hoffnungslose, die nun abgeschlossene Skizze pointiert werden, die den antisemitischen Kontext einer gescheiterten Gedächtnisgeschichte nach 1945 ins Auge gefaßt hat. Ich habe an verschiedenen Nahtstellen gezeigt, daß in die Entfaltung dieses Kontexts die Gruppe 47 tief verstrickt ist. Ja, sie ist im Horizont der Literatur dieser Kontext selbst, denn sie hat in stolzer Eigenregie seine gröbsten Ausartungen von ihrem Start weg stilprägend ausgeführt.

    Vom "Kontext gröbster Ausartung" ist der Weg nicht weit zum Vorwurf "entarteter Literatur". Der Autor bedient sich der Sprache seiner vermeintlichen Gegner. Der Jargonbegriff "Antisemitismus" gerät bei Briegleb zu einer verbalen Keule, mit der er nicht nur die angeblich barbarische G47 zu erschlagen sucht, sondern auch die gesamte deutsche Öffentlichkeit. Geflissentlich übersieht er die überwiegend kritischen Proteste in den deutschen Medien gegen die umstrittene Rede Martin Walsers nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 und stilisiert im Nachhinein Walser zu einem Führer, der sein Volk längst wieder gefunden habe:

    Im Hochgefühl seines Wahns, einer großen Gemeinde das führerhafte Ich-Ideal zu sein und ... ungebeugt und mit abgewandtem Gesicht auszuharren..., hatte sich Walser dazu verstiegen, dem Volk aus der Paulskirche, dem Symbol-Ort des deutschen Nationalliberalismus, zu predigen. .... Eine dem Scheine nach endgültig wieder souveräne Nation schaut auch souveräner zurück, sogar in die Geschichte ihres größten Verbrechens. Ist das das Fazit der Wiedervereinigungsgeschichte am Ende des vergangenen Jahrhunderts?

    Mit dieser Aufhebung jedweder Differenzierung zwischen Walser und der Nation, der er angehört, mit der Verkürzung der demokratischen Paulskirchentradition auf ihre nationalistische Seite, fällt Briegleb zurück auf die ebenso kontrastarme, wie undifferenzierte Rhetorik von Fugblattverteilern in den Siebziger Jahren: Eine Orgie der Pseudo-Entlarvung.