Er beginnt dann im Stile der klassischen Reportage: "Die zwei Erzieherinnen erreichten die Stadt am Nachmittag des 25. Juni 2007. Sie kamen mit dem Regionalzug aus Berscia, der um Punkt 17:45 in den Bahnhof von Bergamo einfuhr." So schreiben Journalisten, wenn sie suggerieren möchten, dass alles recherchiert, alles erkundet, alles dokumentiert ist, um nun das Urteil zu fällen. Doch Vorsicht, von solchen Anfängen kann doch überhaupt erst die Rede sein, wenn eine Kettenreaktion mit dramatischen Folgen ausgelöst wurde, man zurückblickt und alles in anderem Licht sieht und einen Moment ausfindig machen kann, der die definitive Macht eines Anfangs in sich trägt.
In Bergamo ist es offenbar zu mehreren Fällen von Kindesmissbrauch im Kindergarten gekommen, die Verdächtigen wechseln, zum Schluss glaubt nicht einmal der Erzähler selbst, dass er unschuldig ist. Die geordnete Welt ist aus den Angeln gehoben. Hysterie, Verfolgung, Verzweiflung, Traurigkeit beherrschen die Menschen von Bergamo. Missbrauch ist für Antonio Scurati ein Gesellschaftsvirus, der sich ausbreitet wie eine Krankheit.
"Die Krankheit ist auf jeden Fall zweifach ansteckend. Die Vergewaltigungen von Kindern sind eine große Plage in unserer Zeit. Es gibt aber einen zweiten Aspekt, der nicht weniger schlimm ist und das ist die mentale Ansteckung. Es gibt Wellen von Angst, die eine kollektive Psychose hervorrufen, die dazu führt, dass unser Leben beschwert wird. Es ist, als würde irgendjemand mit dieser Angst spekulieren."
Als die deutsche Publizistin Katharina Rutschky 1993 das Buch "Erregte Aufklärung" veröffentlichte und darlegte, wie der Vorwurf des Missbrauchs auch missbraucht werden kann, wurde sie beschimpft und bedroht. Bei einer Veranstaltung wurde sie tätlich angegriffen und gewürgt, ausgerechnet beim Kirchentag in Hamburg musste ihr Vortrag abgesagt werden, weil "rechtschaffene" Linke mit Gewalt gegen sie drohten. Katharina Rutschky warnte vor der "Diktatur der Experten", vor der "anhaltenden Pathologisierung von Kindern, Eltern und Familien, die in keiner Weise der Realität entspreche". Offenbar hatten Heerscharen von Psychologen, Sozial- und Diplompädagogen wenig Interesse an einer unaufgeregten Betrachtung der Zustände. Antonio Scurati versucht, mit den Mitteln der Literatur aufzuklären:
"Man muss annehmen, dass es Hoffnung auf Heilung gibt. Das müssen wir schon wegen eines ethischen Imperativs machen. Es geht ein großes Klagen durch die Gesellschaft, in der wir leben, eine reiche, potente Gesellschaft. Durch die Angst entsteht ein Paradox. Auf der einen Seite leben wir einer Gesellschaft, die sicherer, reicher, besser organisiert ist denn je, auf der anderen Seite erscheinen wir die unsichersten, angstvollsten Menschen überhaupt zu sein. Das ist inakzeptabel. Wir müssen wieder Selbstbewusstsein oder den Glauben an uns selbst finden und das Böse bekämpfen – dieser Kampf kann gewonnen werden."
Es heißt, dass Kinder, die missbraucht worden sind, fast immer auch selbst Täter werden, gibt es eine Ausfahrt aus diesem Kreislauf?
"Auf der einen Seite gibt es diese Ursachenkette Täter-Opfer und auf der anderen Seite gibt es einfach auch so einen Zerfall von Verständnis, von dem, was Gut und was Böse ist. Wir in der Gesellschaft haben große Probleme, gemeinsam das Schlechte zu definieren, die Unterschiede sind zu groß. Man kann das schon sehen als Zufall vom Wertesystem, von den Werten. Meiner Meinung nach liegt das in der Problematik, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Das ist eine Form des Nihilismus. In dem Dorf, in dem ich lebe, ist Pädophilie eines der letzten Tabus. Darum ist es für mich von Interesse, davon zu erzählen. Wenn man auf ein Dorf im heutigen Italien guckt, in diesem politischen System der Korruption, der sozialen Situation, dann fällt auf, dass viele Sachen, die früher eindeutig als schlecht angesehen wurden, heute normal zu sein scheinen. Das Problem ist, dass die Gesellschaft keine einheitliche Definition von Gut und Böse mehr hat, dadurch daraus ergeben sich Folgen in sozialer, kultureller und sexueller Hinsicht."
In einer Szene in seinem Roman hat Antonio Scurati - wie eine Spiegelung der Zustände in einer winzigen Wasserlache - eingefangen, was in der katholischen Kirche aus den Fugen geraten sein mag. Ein Priester küsst seine kleinen "Engel" im Schlafsaal, segnet sie mit dem Kreuz auf der Stirn und möchte doch der Freund, Gefährte und geradezu maßlos der "Weg in die Unendlichkeit" sein für die kleinen Menschen, die ihm anvertraut sind. Was kann Literatur bewirken innerhalb einer Gesellschaft, in der sich derart gestörte Verhaltensweisen entwickeln?
"Heilen wird die Literatur das nicht, aber sie schafft Unterscheidungen. Die Literatur kann nichts anderes als eine Form der Diagnose sein, eine Diagnose der spirituellen Krankheit der Menschen. Adorno sagte, Literatur kann den Kopf nicht umdrehen, aber schon in die Tiefen seiner selbst zu sehen, ist wertvoll, zu erkunden, was man nicht wissen darf. Das ist genau das Gegenteil vom Spaß, der in unserer Gesellschaft genutzt wird, um sich abzulenken. Spaß, der ablenkt von den alltäglichen Problemen und blind macht. Die Literatur öffnet wieder die Augen gegenüber der Tragik des Lebens und der Wahrheit. Darum ist die Literatur auf der Seite der Menschen und soll ihnen helfen bei der Auseinandersetzung mit der Welt."
In Antonio Scuratis Roman zirkulieren archaische Ängste, alte Dämonen aus der Unterwelt, der Held spürt den abscheulichen Geschmack fanatischen Übereifers und das Gefühl von Ekel. Und doch rückt sich im Roman zum Schluss etwas zurecht, der Ich-Erzähler sieht die Welt wieder in ausgewogenen Proportionen. Das ist freilich ein hohes erzählerisches Risiko:
"Es ist ein heikles Thema. In meinem Roman geht es um Pädophilie, die sich am Ende als Nicht-Pädophilie herausstellt. Damit möchte ich auf keinen Fall sagen, dass es sie nicht gibt, dass sie nicht real ist. Im Gegenteil, die Pädophilie ist eine große Plage der Gesellschaft, das zeigen auch die Vorfälle in der katholischen Kirche. Zeigen möchte ich: wie Angst die Seelen auffrisst – wie es bei Fassbinder heißt. Die heutige Gesellschaft ist sehr, sehr ängstlich und die Massenmedien halten diese Ängste konstant hoch. Zeigen möchte ich einen Menschen, der eigentlich ängstlich ist und es schafft, seine eigenen Geister zu besiegen und wieder Herr seines Lebens zu werden."
Es ist das aufrüttelnd geschriebene Buch eines Mannes, der heute 40 Jahre alt ist. Ein Vexierbild. Manchmal sieht er die Welt jungenhaft, optimistisch, dann wieder wie ein älterer Mann, das wechselt immer wieder. Er zeichnet ein luzides und zugleich düsteres Abbild der Gesellschaft, das aber auch von jedem anders gelesen werden könnte. Ebenso aufregend wie die Lektüre könnte also die Wirkungsgeschichte dieses Buches sein.
Antonio Scuarti: "Das Kind, das vom Ende der Welt träumte". Roman. Aus dem Italienischen von Susanne Vetterlein. Rowohlt Verlag
In Bergamo ist es offenbar zu mehreren Fällen von Kindesmissbrauch im Kindergarten gekommen, die Verdächtigen wechseln, zum Schluss glaubt nicht einmal der Erzähler selbst, dass er unschuldig ist. Die geordnete Welt ist aus den Angeln gehoben. Hysterie, Verfolgung, Verzweiflung, Traurigkeit beherrschen die Menschen von Bergamo. Missbrauch ist für Antonio Scurati ein Gesellschaftsvirus, der sich ausbreitet wie eine Krankheit.
"Die Krankheit ist auf jeden Fall zweifach ansteckend. Die Vergewaltigungen von Kindern sind eine große Plage in unserer Zeit. Es gibt aber einen zweiten Aspekt, der nicht weniger schlimm ist und das ist die mentale Ansteckung. Es gibt Wellen von Angst, die eine kollektive Psychose hervorrufen, die dazu führt, dass unser Leben beschwert wird. Es ist, als würde irgendjemand mit dieser Angst spekulieren."
Als die deutsche Publizistin Katharina Rutschky 1993 das Buch "Erregte Aufklärung" veröffentlichte und darlegte, wie der Vorwurf des Missbrauchs auch missbraucht werden kann, wurde sie beschimpft und bedroht. Bei einer Veranstaltung wurde sie tätlich angegriffen und gewürgt, ausgerechnet beim Kirchentag in Hamburg musste ihr Vortrag abgesagt werden, weil "rechtschaffene" Linke mit Gewalt gegen sie drohten. Katharina Rutschky warnte vor der "Diktatur der Experten", vor der "anhaltenden Pathologisierung von Kindern, Eltern und Familien, die in keiner Weise der Realität entspreche". Offenbar hatten Heerscharen von Psychologen, Sozial- und Diplompädagogen wenig Interesse an einer unaufgeregten Betrachtung der Zustände. Antonio Scurati versucht, mit den Mitteln der Literatur aufzuklären:
"Man muss annehmen, dass es Hoffnung auf Heilung gibt. Das müssen wir schon wegen eines ethischen Imperativs machen. Es geht ein großes Klagen durch die Gesellschaft, in der wir leben, eine reiche, potente Gesellschaft. Durch die Angst entsteht ein Paradox. Auf der einen Seite leben wir einer Gesellschaft, die sicherer, reicher, besser organisiert ist denn je, auf der anderen Seite erscheinen wir die unsichersten, angstvollsten Menschen überhaupt zu sein. Das ist inakzeptabel. Wir müssen wieder Selbstbewusstsein oder den Glauben an uns selbst finden und das Böse bekämpfen – dieser Kampf kann gewonnen werden."
Es heißt, dass Kinder, die missbraucht worden sind, fast immer auch selbst Täter werden, gibt es eine Ausfahrt aus diesem Kreislauf?
"Auf der einen Seite gibt es diese Ursachenkette Täter-Opfer und auf der anderen Seite gibt es einfach auch so einen Zerfall von Verständnis, von dem, was Gut und was Böse ist. Wir in der Gesellschaft haben große Probleme, gemeinsam das Schlechte zu definieren, die Unterschiede sind zu groß. Man kann das schon sehen als Zufall vom Wertesystem, von den Werten. Meiner Meinung nach liegt das in der Problematik, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Das ist eine Form des Nihilismus. In dem Dorf, in dem ich lebe, ist Pädophilie eines der letzten Tabus. Darum ist es für mich von Interesse, davon zu erzählen. Wenn man auf ein Dorf im heutigen Italien guckt, in diesem politischen System der Korruption, der sozialen Situation, dann fällt auf, dass viele Sachen, die früher eindeutig als schlecht angesehen wurden, heute normal zu sein scheinen. Das Problem ist, dass die Gesellschaft keine einheitliche Definition von Gut und Böse mehr hat, dadurch daraus ergeben sich Folgen in sozialer, kultureller und sexueller Hinsicht."
In einer Szene in seinem Roman hat Antonio Scurati - wie eine Spiegelung der Zustände in einer winzigen Wasserlache - eingefangen, was in der katholischen Kirche aus den Fugen geraten sein mag. Ein Priester küsst seine kleinen "Engel" im Schlafsaal, segnet sie mit dem Kreuz auf der Stirn und möchte doch der Freund, Gefährte und geradezu maßlos der "Weg in die Unendlichkeit" sein für die kleinen Menschen, die ihm anvertraut sind. Was kann Literatur bewirken innerhalb einer Gesellschaft, in der sich derart gestörte Verhaltensweisen entwickeln?
"Heilen wird die Literatur das nicht, aber sie schafft Unterscheidungen. Die Literatur kann nichts anderes als eine Form der Diagnose sein, eine Diagnose der spirituellen Krankheit der Menschen. Adorno sagte, Literatur kann den Kopf nicht umdrehen, aber schon in die Tiefen seiner selbst zu sehen, ist wertvoll, zu erkunden, was man nicht wissen darf. Das ist genau das Gegenteil vom Spaß, der in unserer Gesellschaft genutzt wird, um sich abzulenken. Spaß, der ablenkt von den alltäglichen Problemen und blind macht. Die Literatur öffnet wieder die Augen gegenüber der Tragik des Lebens und der Wahrheit. Darum ist die Literatur auf der Seite der Menschen und soll ihnen helfen bei der Auseinandersetzung mit der Welt."
In Antonio Scuratis Roman zirkulieren archaische Ängste, alte Dämonen aus der Unterwelt, der Held spürt den abscheulichen Geschmack fanatischen Übereifers und das Gefühl von Ekel. Und doch rückt sich im Roman zum Schluss etwas zurecht, der Ich-Erzähler sieht die Welt wieder in ausgewogenen Proportionen. Das ist freilich ein hohes erzählerisches Risiko:
"Es ist ein heikles Thema. In meinem Roman geht es um Pädophilie, die sich am Ende als Nicht-Pädophilie herausstellt. Damit möchte ich auf keinen Fall sagen, dass es sie nicht gibt, dass sie nicht real ist. Im Gegenteil, die Pädophilie ist eine große Plage der Gesellschaft, das zeigen auch die Vorfälle in der katholischen Kirche. Zeigen möchte ich: wie Angst die Seelen auffrisst – wie es bei Fassbinder heißt. Die heutige Gesellschaft ist sehr, sehr ängstlich und die Massenmedien halten diese Ängste konstant hoch. Zeigen möchte ich einen Menschen, der eigentlich ängstlich ist und es schafft, seine eigenen Geister zu besiegen und wieder Herr seines Lebens zu werden."
Es ist das aufrüttelnd geschriebene Buch eines Mannes, der heute 40 Jahre alt ist. Ein Vexierbild. Manchmal sieht er die Welt jungenhaft, optimistisch, dann wieder wie ein älterer Mann, das wechselt immer wieder. Er zeichnet ein luzides und zugleich düsteres Abbild der Gesellschaft, das aber auch von jedem anders gelesen werden könnte. Ebenso aufregend wie die Lektüre könnte also die Wirkungsgeschichte dieses Buches sein.
Antonio Scuarti: "Das Kind, das vom Ende der Welt träumte". Roman. Aus dem Italienischen von Susanne Vetterlein. Rowohlt Verlag