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Missbrauch bei Regensburger Domspatzen
"Die Opfer wollen vor allem Anerkennung"

Über 500 Betroffene: Das hat die Untersuchung der Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen ergeben. Christine Bergmann (SPD) von der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zeigte sich angesichts des Ausmaßes überrascht. Sie betonte die Wichtigkeit der Aufarbeitung - nicht nur für die Opfer.

Christine Bergmann im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Christine Bergmann (SPD), frühere Familienministerin
    Christine Bergmann (SPD), frühere Familienministerin (dpa/picture alliance/Hannibal Hanschke)
    Sarah Zerback: Über die Aufarbeitung der Fälle habe ich kurz vor der Sendung sprechen können mit Christine Bergmann. Die SPD-Politikerin ist Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und war bis 2011 deren Beauftragte. Sie habe ich zunächst gefragt, ob sie das Ausmaß des Missbrauchs überrascht hat.
    Christine Bergmann: Das Ausmaß, glaube ich, haben wir alle nicht erwartet. Aber für mich zeigt das auch, was eigentlich zutage gefördert wird, wenn wirklich gründlich, und zwar von außen, aufgeklärt wird in der Art und Weise, wie das hier über die zwei Jahre durch Herrn Weber passiert ist. Nun sind das ja Opfer von körperlicher Gewalt, psychischer Gewalt und darunter auch gab es jetzt - 69 waren das - sexuelle Gewaltfälle. Das ist doch sehr viel über die Jahre hinweg und das zeigt wirklich noch mal deutlich, wie wichtig es ist, dass gründlich und von außen aufgearbeitet, aufgeklärt in diesen Fällen wird.
    "Das ist kein Einzelfall mehr"
    Zerback: Kann man da denn noch Ihrer Meinung nach von Einzelfällen sprechen, oder hatte da die Gewalt System?
    Bergmann: Nein, das ist kein Einzelfall mehr. Es geht zwar über viele Jahre hinweg, aber zum einen ist das ein ziemlich brutaler Erziehungsstil schon gewesen in diesem Renommier-Chor mit viel körperlicher Gewalt, mit viel psychischer Gewalt und auch sexueller Gewalt. Das ist nicht etwas, was so aus Versehen mal von einem passiert. Beteiligt noch an der körperlichen Gewalt insbesondere sind, glaube ich, 45 Beschuldigte und an sexueller Gewalt neun Personen. Da kann man nun nicht mehr von einem Einzelfall reden, der vielleicht mal irgendwo vorkommt.
    Zerback: Der Sonderermittler, der spricht ja von einer Kultur des Schweigens, die jetzt jahre-, jahrzehntelang dort geherrscht hat. Wie lässt sich die erklären und vor allen Dingen was kann man dagegen tun?
    Bergmann: Das ist ja nicht nur hier so. Das haben wir nun in vielen anderen Fällen jetzt auch schon gesehen, denken Sie an Odenwald-Schule oder Canisius-Kolleg oder auch andere Fälle. Im Vordergrund steht das Image der Institution. Hier war es dieser renommierte Chor, der in gar keiner Weise beschädigt werden durfte, und die Kinder, zum Teil ja doch relativ kleine, wurden auch entsprechend gedrillt. Disziplin war alles und war auch in jeder Weise verfügbar, und das finden wir eigentlich immer wieder in diesen Fällen. Und das, was an Gewalt passierte, zum einen wurde das jetzt eigentlich schon fast für normal gehalten, der normale Erziehungsstil, in dem die Watschen nicht schaden, wobei diese Watschen zum Teil zu schweren Gehörschäden geführt haben. Eine Körperverletzung ist das ja schon, Trommelfellrisse und was weiß ich, was da alles passiert ist. Ich habe heute schon mal so diagonal gelesen im Internet diesen langen Bericht. Das ist schon erschütternd. Zum anderen muss man immer wieder sagen: Die Kinder oder die Opfer in dem Fall interessierten eigentlich nicht. Wichtig war das Ansehen der Institution und das, was versucht wurde, auch von den Kindern an die Eltern zu geben, wurde verharmlost beziehungsweise es wurden die Briefe ja auch kontrolliert, was ich da alles gelesen habe, und ja, es kam unter den Teppich.
    "Aufklärungswille war nicht so ausgeprägt"
    Zerback: In Regensburg war es ja jetzt so, dass der Skandal an sich schon vor sieben Jahren ans Licht gekommen ist und jetzt das Ergebnis dieser zweijährigen Aufarbeitung. Die Verantwortung hatte damals ja unter anderem Kardinal Gerhard Ludwig Müller, damals Bischof von Regensburg. Dem werden jetzt Schwächen bei der Aufarbeitung vorgeworfen. Was ist da aus Ihrer Ansicht denn schiefgelaufen?
    Bergmann: Ja. Ich sage es jetzt mal wirklich krass. Ich glaube, der wirkliche Aufarbeitungs- oder Aufklärungswille war nicht so ausgeprägt bei dieser Form. Denn das, was jetzt auch in diesem Bericht zu finden ist, die Briefe, die dann an die Betroffenen gegangen sind, und die Art und Weise, wie mit den Betroffenen, die sich 2010 schon gemeldet haben, umgegangen wurde, zeigt nicht, dass man sich wirklich den Betroffenen zuwenden wollte, auch ein Stück Anerkennung, Entschuldigung leisten wollte. Das war in gar keiner Weise der Fall und für mich ist das eigentlich auch immer wieder ein Argument dafür, dass Aufarbeitung und Aufklärung in diesen Fällen eigentlich von außen passieren muss. Das darf nicht von den quasi Verantwortlichen selber gemacht werden. Da ist die Gefahr, dass das nicht sehr ernst genommen wird, oder doch ganz gerne mal beschönigt wird, oder dies oder jenes. Und vor allen Dingen: Man muss doch die Opfer erst mal im Blick haben. Man muss doch wissen, was ist denn da passiert, was hat das für Folgen gehabt, in welcher Weise können wir - wiedergutmachen sowieso nicht -, aber können wir wenigstens anerkennen, wo können wir helfen, und davon war eigentlich in den ersten Jahren nun wirklich nicht die Rede. Das zeigen die ganzen Schreiben, die man in dem Bericht auch findet, und die Aussagen der Betroffenen.
    "Aufarbeitung ist die Basis von Prävention"
    Zerback: Sind die Opfer denn genug in die Aufarbeitung einbezogen worden?
    Bergmann: Ja. Da hat es ja, so wie ich es jetzt verstanden habe, daneben auch noch so ein Gremium gegeben, das wirklich mit beteiligt war an diesem Aufklärungsprozess, und es gibt ja jetzt auch noch einen Aufarbeitungsprozess. Sie haben das ja wirklich sehr getrennt. Herr Weber sagte, ich arbeite jetzt nicht auf, ich kläre auf, ich fasse zusammen oder stelle zusammen, was da eigentlich alles passiert ist und unter Nennung auch der Verantwortlichen. Daneben gibt es noch das Thema Aufarbeitung, wo es auch noch mal darum geht, welche Anerkennungsleistung, welche Entschädigungen müssen passieren und was ist eigentlich auch zu leisten, damit es nicht wieder passiert, und das ist ja das Wichtige bei Aufarbeitung. Aufarbeitung ist die Basis wirklich von Prävention. Man muss ja wissen, was passiert ist. Die Gesellschaft muss das auch zur Kenntnis nehmen, um sensibel zu sein, denn es ist ja kein Thema, auch hier nicht, wie wir auch immer wieder sehen. Wir kennen mit Sicherheit noch gar nicht alle Fälle. Es könnten auch durchaus noch mehr sein. Zum anderen weiß man ja, dass das auch immer wieder passiert leider.
    Zerback: Nun haben Sie ja zurecht gesagt, Frau Bergmann, das ist nicht nur ein Problem in Regensburg gewesen. Aber lassen Sie uns da ganz kurz bleiben. Glauben Sie, man hat da aus vergangenen Fehlern gelernt mittlerweile?
    Bergmann: Ich kann mich jetzt wirklich nur auf den Bericht berufen, weil ich die Situation dort nun wirklich nicht selber kenne. Der Bericht sagt ja, diese Form der Erziehung mit körperlicher Gewalt, die gibt es da nicht mehr. Das wäre auch wirklich schlimm. Gott sei Dank, muss ich sagen, haben wir seit der rot-grünen Regierung auch das Recht auf gewaltfreie Erziehung für die Kinder ins Gesetz geschrieben, ins Bürgerliche Gesetzbuch. Hier ist auch Klarheit endlich geschaffen worden, dass Gewalt in der Erziehung überhaupt nichts zu suchen hat – auch nicht im Elternhaus und schon gar nicht in den Einrichtungen. Da hat sich mit Sicherheit einiges geändert. Und was es jetzt an Schutzkonzepten in der Schule oder in der Vorschule gibt, das kann ich jetzt nicht beantworten, weil das gehört ja dazu: dass so eine Einrichtung dann sagt, das und das ist passiert, was lernen wir jetzt, welche Schutzkonzepte machen wir. Der unabhängige Beauftragte hat ja ein riesen Programm gemacht für Schutzkonzepte für die Schulen, keine Gewalt in den Schulen, was muss da eigentlich alles passieren, was müssen Lehrer alles wissen, wo gibt es Hilfseinrichtungen und so weiter, damit wir Kinder besser schützen. Darum geht es ja.
    "Strafrechtlich ist da nichts mehr zu machen"
    Zerback: Jetzt sind die Taten ja, wie Sie sagen, lange vorbei. Sie sind vor allen Dingen strafrechtlich verjährt. Kommen die Täter jetzt einfach so davon?
    Bergmann: So ist das. Strafrechtlich ist da nichts mehr zu machen. Nun ist das ja zum Teil ziemlich lange her. Da wird es wahrscheinlich auch dienstrechtlich kaum mehr Konsequenzen haben. Ansonsten gibt es ja diese Möglichkeit dann auch immer. Aber für die Opfer: Viele von den Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, denen ist eigentlich das nicht das Allerwichtigste. Sie wollen aber die Anerkennung. Sie wollen, dass die Institution sich auch zu ihrer Schuld bekennt, auch die Täter sich zu ihrer Schuld bekennen, dass wirklich anerkannt wird, dass ihnen hier Unrecht widerfahren ist. Das wollen sie in allererster Linie. Natürlich möchten sie auch, dass - sie nennen das jetzt hier Anerkennungsleistungen - finanziert werden, meinetwegen auch Therapien, die die Kasse nicht bezahlt. Sie haben ja doch eine Menge Probleme aufgrund der Schädigungen durch den Missbrauch, dass ihnen da geholfen wird. Aber sie wollen vor allen Dingen auch die Anerkennung. Viele sagen eigentlich auch bei dem familiären Missbrauch, wenn ich gefragt habe, haben Sie mal daran gedacht, eine Anzeige zu stellen, oder wollen Sie das noch, ist das nicht das Vordergründigste. Aber auf alle Fälle wollen sie, dass die Schuld auch anerkannt wird.
    Zerback: Sagt Christine Bergmann von der SPD, Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Besten Dank für das Gespräch.
    Bergmann: Ja! Ich danke Ihnen, dass Sie sich um das Thema kümmern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.