Saal 137 des Landgerichts einer norddeutschen Großstadt. Prozess gegen einen Reitlehrer. Der Vorwurf: sexueller und schwerer sexueller Missbrauch seiner Reitschülerin. Da war sie 13, der Täter mehr als 30 Jahre älter. Ein Jahr lang dauerte das Martyrium. Kerstin Bartsch, Anwältin der Familie, schildert den ihrer Ansicht nach schwerwiegendsten Übergriff: "Die Entjungferung, der erste Geschlechtsverkehr, wie das Gericht ja auch festgestellt hat, ohne Verhütung, also ohne Kondom."
Eine von vielen Straftaten, die das betroffene Mädchen ertragen und lange geheim gehalten hat. Auch aus Scham und Angst, das Reiten und Freundinnen zu verlieren. Denn sie verbrachte ihre gesamte Freizeit auf dem Hof. Erst als die Mutter auf dem Handy der Tochter einen eindeutigen Chat entdeckte, kam alles ans Licht.
"Für mich hat sich das so angefühlt, als wenn ich mit 100 km/h gegen eine Betonwand gefahren bin. Das Leben, was wir bis dahin hatten, war innerhalb von einem Moment komplett vorbei", beschreibt die Mutter die Auswirkungen. Die Familie erstattete Anzeige gegen den Reitlehrer. Sie wollte dadurch das Geschehene verarbeiten und auch andere Kinder schützen, so der Vater des Mädchens: "Denn was soll man einem Vater oder einer Mutter sagen, die in einem Jahr auf einen zukommt und sagt: Warum hast du nichts gemacht? Jetzt ist mein Kind dran gewesen."
Der Reitstall als perfektes Umfeld für potenzielle Täter
Mehr als 200.000 Mädchen in Deutschland sind in einem Reitverein angemeldet. Der Reitstall - für sie oft das zweite Zuhause. Denn die Liebe zum Pferd zieht sie magisch an. Das perfekte Umfeld für potenzielle Täter: "Weil man natürlich Mädchen sehr gut erpressen kann und sagen kann: Hör mal, wenn Du lieb zu mir bist und das und das mit mir machst, dann darfst Du in der Reitstunde das und das Pferd reiten oder du darfst mein eigenes Pferd reiten oder bekommst eine extra Stunde Reitunterricht. Im Prinzip wird diese Emotionalität der Mädchen schamlos ausgenutzt."
Und deshalb sei die Gefahr für sexuelle Gewalt im Reitsport groß, sagt Maria Schierhölter-Otte von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung FN. Sie ist eine von drei Mitarbeiterinnen, die sich beim Dachverband um Kinder- und Jugendschutz kümmern. Anders als in anderen Verbänden ist Kinderschutz sogar Bestandteil der Satzung: "Jetzt ist wirklich ein ganzer Passus, dass Kinder- und Jugendwohl für uns oben an steht und wer sich nicht an diese Regeln hält, eben mit Ausschluss rechnen muss."
Außerdem arbeitet der Verband mit einer externen Beratungsstelle zusammen, an die sich Betroffene wenden können. Doch es gibt ein Problem: Informationen des Dachverbandes zum Thema Kinderschutz kommen offenbar nicht immer bei den Vereinen an.
Das zeigt auch ein Ergebnis einer Studie unter der Leitung von Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln: Reitvereine sind - was Präventionsmaßnahmen angeht - schlechter aufgestellt als Vereine in anderen Sportarten: "Vielleicht halten Vereine, die Pferdesport anbieten, es nicht für notwendig, Maßnahmen zum Kinderschutz zu entwickeln weil sie denken, sie hätten eine gut überschaubare kleine Pferdesportgemeinde beispielsweise in ihrem Reitstall, und da kann man es sich auch nicht vorstellen, dass da sexualisierte Gewalt passiert".
"Reitlehrer" kann sich jeder nennen
Auch aus Angst, dass niemand ihnen glaubt, schweigen viele Betroffene ihr Leben lang. Im aktuellen Fall in Norddeutschland war das anders. Das Mädchen hat seine Geschichte erzählt - auch bei der Polizei. Die Familie hat Anzeige erstattet und den ehemaligen Reitlehrer der Tochter vor Gericht gebracht. Im Prozess hat der Mann die Taten weitgehend gestanden. Das Urteil: Vier Jahre und drei Monate Haft.
"Im Grunde genommen eine Genugtuung dass der Weg, den wir gegangen sind, nicht umsonst war, weil es ist einfach Gerechtigkeit passiert und das war mir so wichtig.", sagt die Mutter des Mädchens. Der Reitlehrer sitzt seit zweieinhalb Wochen im Gefängnis. Seine Trainerlizenz hat der Dachverband FN ihm dauerhaft entzogen. Als Ersttäter ohne Vorstrafen kommt der Verurteilte wohl nach zwei Dritteln der verbüßten Strafe wieder frei. Die Staatsanwältin hatte zusätzlich ein dreijähriges Berufsverbot beantragt. Dem ist das Gericht nicht gefolgt. Es sah keine Anzeichen dafür, dass der Verurteilte sich erneut an Kindern vergreifen könnte.
Also kann der Mann nach seiner Haftentlassung wieder in seinem Beruf arbeiten - auch ohne Trainerlizenz der FN. Denn "Reitlehrer" ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Jeder kann sich Reitlehrer nennen und Unterricht geben, bestätigt Maria Schierhölter-Otte von der FN: "Es ist freie Berufswahl und wir können nur versuchen, dass wir unseren Vereins- oder Betriebsverpächtern eben auch sagen: Wenn da jemand kommt, der überhaupt nichts über seine Vergangenheit sagen kann, eben hier im Dachverband nachzufragen: hat der einen Trainerschein. Das ist eine Frage der Kommunikation wie man sowas noch besser verhindert, dass so ein Täter sich woanders in Deutschland einfach wieder niederlässt."
Dass der Reitlehrer nach verbüßter Haftstrafe vielleicht auch wieder Kinder unterrichtet, wird die Familie nicht verhindern können. Aber sie hat ein rechtskräftiges Urteil erwirkt und damit für sich einen Abschluss erzielt. Wichtig - so der Vater - vor allem für seine heute 15-jährige Tochter: "Dass sie jetzt wieder einen Neustart mit ihrem Leben machen kann und dass sie ihr Leben positiv gestalten kann und Freude hat."
Auch weil sie gezeigt hat: Sexueller Missbrauch im Reitsport ist ein Problem und Schweigen hilft nur den Tätern.