Es ist nicht einfach, über eine Erfahrung zu sprechen, die tiefe traumatische Spuren hinterlassen hat. Die Nachwirkungen können mannigfach sein: Scham, ein Gefühl von Ohnmacht und ein intensives Misstrauen gegenüber einer Gesellschaft, die den Opfern von sexuellem Missbrauch oft genug wenig Verständnis entgegenbringt.
Umso bemerkenswerter ist das Buch, das die ehemalige Kunstturnerin Rachael Denhollander geschrieben hat. Es ist das Protokoll einer Geschichte, die erzählt, wie sie als erste in einer langen Reihe von Missbrauchsopfern den Mut entwickelte, mit Hilfe von Reportern der Zeitung "Indianapolis Star" das Treiben von Larry Nassar zu enthüllen, dem Arzt der Nationalmannschaft. Das Buch kam vor wenigen Wochen in den USA auf den Markt und trägt den Titel: "What is a Girl Worth?" Die Hörbuchfassung hat sie selbst aufgenommen.
"Ich wusste, was es für mich und meine Familie bedeuten würde, sollte die Zeitung die Geschichte publizieren. Aber ich konnte erkennen, dass die Reporter verstanden, wie man eine solche Recherche vorantreiben musste, wie Beweise und Indizien aussahen, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Sie hatten die moralischen Abgründe des Turnverbands gesehen und verstanden, wie weit der Missbrauch ging."
"Man hat einfach nicht zugehört"
Ihre Anzeige bei der Polizei und die Arbeit der Medien sollten eine enorme Lawine auslösen. Im Laufe der Zeit sahen sich über hundert Betroffene erstmals in der Lage, das Treiben des Mediziners zu beschreiben. Viele nutzten die Gelegenheit, ihre Erlebnisse im Rahmen eines umfangreichen Prozesses gegen Nassar Anfang 2018 zu schildern. Auch Denhollander, einst als Teenager Mitglied der Nationalmannschaft, nun Juristin und Aktivistin, hat damals das Wort ergriffen. Nicht nur, um zu schildern, wie der Arzt sie missbraucht hatte, sondern um das Verhalten der Verantwortlichen im Verband bloßzustellen und zu brandmarken.
"Der Grund, weshalb niemand den Opfern glaubte: Man hat einfach nicht zugehört. Weder 1997 noch 1998, 1999, 2000, 2004 oder 2014. Statt dessen brachte man diese Mädchen zum Schweigen, schüchterte sie ein und zwang sie dazu, sich weiter den sexuellen Übergriffen auszusetzen."
Um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, haben die Betroffenen Schadensersatzklagen eingereicht. Es sind mehr als 300 Frauen, deren Forderungen sich auf insgesamt rund eine Milliarde Dollar summieren. Unter dem Druck der Anschuldigungen meldete der Verband vor einem Jahr sicherheitshalber Konkurs an, was es den Opfern schwer macht, ihre Ansprüche geltend zu machen. Zumal die Versicherungen, mit denen USA Gymnastics Verträge für Schadensersatzfälle abgeschlossen hatte, sich weigern einzuspringen.
Bis heute bleiben Fragen offen
Bis heute ist nicht klar, wer im Verband was tat, um jahrelang Nassar und die eigene Organisation vor den gravierenden Enthüllungen zu schützen. Deshalb passt ein Bericht des Wall Street Journal von vor wenigen Tagen ins Bild. Danach hatte der Verband in den Jahren, ehe der Skandal für Schlagzeilen sorgte, seine Überschüsse von mehreren Millionen Dollar an eine Stiftung überwiesen, die mit USA Gymnastics verbandelt ist. Eine Taktik, die vorher bereits der Schwimmverband eingeschlagen hatte, dem ebenfalls Untätigkeit im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen vorgeworfen wurde. Solches Verhalten am Rande der Legalität der Insolvenzgesetzgebung hat mittlerweile das Interesse der Ermittlungsbehörden geweckt.
Wie der Kampf der Frauen gegen das System ausgeht, vermag Rachael Denhollander nicht vorherzusagen. Zumal nicht klar ist, welche Konsequenzen das Nationale Olympische Komitee ziehen wird, das die Oberhoheit über den Verband besitzt. Sie machte gegenüber dem Deutschlandfunk allerdings deutlich, dass sich schon jetzt zahlreiche Lektionen aus dem Fall ableiten lassen.
"Schauen Sie sich ganz genau die Statuten an und wie sie die Täter schützen. Wie sie ein Milieu schaffen, in dem Missbrauch blühen kann. Schauen Sie sich die Gesetze an und wie die Justiz mit den Fällen umgeht. Sorgen Sie dafür, dass Opfer ohne Angst und offen den Missbrauch melden können. Täter wird es weiterhin geben. Die Frage ist doch: Werden wir sie erwischen? Werden wir sie stoppen?"
Rachael Denhollanders mehr als 300 Seiten dickes Buch liefert dazu einen guten Einstieg.