Vor drei Jahren hat „Katarina Sörensen“ öffentlich ihre Geschichte erzählt. Der Name ist ein Pseudonym. Die Frau erhob schwere Vorwürfe gegen einen evangelischen Pfarrer. Er habe sie als Jugendliche in den 1980er- und 90er-Jahren, unter dem Vorwand einer Liebesbeziehung, missbraucht. Der Pfarrer war ein charismatischer Typ, beliebt und belobigt für seine Jugendarbeit. Er lebte nicht mehr, als die Vorwürfe gegen ihn bekannt wurden. Die evangelische Kirche hielt die Beschuldigungen für plausibel und zahlte der betroffenen Frau eine Anerkennungsleistung.
Katarina Sörensen hat inzwischen beschlossen, unter ihrem richtigen Namen an die Öffentlichkeit zu gehen, und der ist Katharina Kracht. Sie engagiert sich im Betroffenenbeirat der Evangelischen Kirche, der EKD. Wir haben gestern miteinander gesprochen.
Christiane Florin: Was hat sich dadurch verändert, dass Sie nun unter Ihrem echten Namen öffentlich sprechen?
Katharina Kracht: Man braucht sehr viel Mut, um an die Öffentlichkeit zu gehen und zu sagen: Ja, das ist meine Geschichte. Und nachdem ich über zwei Jahre immer unter dem Pseudonym gehandelt habe und auch öffentlich gesprochen habe, habe ich mich entschieden, dass ich mich wirklich ganz hinter meine Geschichte stellen möchte, die mir passiert ist, denn ich trage ja keine Schuld an den Taten. Das Schlimme ist, dass man sich als Betroffene von sexualisierter Gewalt leider selber sehr schuldig fühlt und dass das ein sehr langer Kampf ist, dieses Schuldgefühl loszuwerden. Das war für mich ein ganz wichtiger Schritt auf diesem Weg, mich hinzustellen und zu sagen: Ich stehe mit meinem Gesicht und mit meinem Namen dafür ein.
"Sie hätte ja Nein sagen können"
Florin: Worin bestand das Schuldgefühl?
Kracht: Die Täter verdrehen das ja gern und sagen: "Na, du willst das doch auch. Und ich merke doch, dass du willst." Ich habe den Pastor kennengelernt, als ich 13 war. Und man spricht dann von Anbahnung, also dass eine Beziehung aufgebaut wird, eine sehr vertrauensvolle, in der es immer so kleinere Grenzüberschreitungen gibt. Dann gewöhnt man sich daran. Ich habe diesen Pastor total idealisiert, und ich habe auch die Aufmerksamkeit genossen, die er mir gegeben hat. Dann denkt man natürlich irgendwann: „Ich hätte mich anders verhalten sollen. Dann wäre mir das alles nicht passiert. Wenn ich vielleicht ganz klar Nein gesagt hätte, dann wäre das alles nicht passiert.“ Dann muss man sehr lange begreifen, dass man nicht Nein sagen konnte. Das ist sehr typisch für Betroffene von sexualisierter Gewalt, dass sie in einer Beziehung stecken, wo sie nicht Nein sagen können. Hinterher sagen dann Leute: Wieso hast du das nicht gemacht? Als ob das eine einfache Geschichte wäre.
Florin: Was sind das für Leute, die das sagen? Wer ist das?
Kracht: Es gibt so ein öffentliches Gespräch manchmal. Das ist auch ein Satz, der ist in meiner Kirchengemeinde gefallen. Da haben ehemalige Kirchenvorsteher*innen, die damals davon wussten, dass der Pastor mit mir eine sexuelle Beziehung hatte, gesagt: „Wieso? Sie hätte ja Nein sagen können.“
Wir müssen sagen, es gibt eine Definition: sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen. Darunter fällt das, was der Pastor mit mir gemacht hat. Die haben aber damals nicht gehandelt, wofür sie sicher auch Gründe hatten. Die haben das vielleicht nicht richtig erkannt. Das ist dann so die Rechtfertigung auch im Nachhinein: "Sie hätte ja Nein sagen können."
"Wir haben ihn stark idealisiert"
Florin: Der Pfarrer war verheiratet, deutlich älter als Sie. Was als Risikofaktor in einer katholischen Kirche identifiziert ist – Zölibat, restriktive Sexualmoral – das gibt es so in der evangelischen Kirche nicht. Aber wie ist das mit der Macht? Worin bestand die Macht dieses Mannes über Sie?
Kracht: Es gab noch diese ganz konservativen dörflichen Strukturen. Der Pastor hat ein progressives Denken reingebracht. Also das war die Zeit der Friedensbewegung, wo es dann um Umweltschutz ging und so etwas. Wir fanden ihn ganz toll. Wir haben den ganz stark idealisiert, der hat auch Angebote für uns Jugendliche gemacht, die es sonst nicht gab. Wir sind mit dem auf Reisen gefahren. Wir haben tolle Erlebnisse gehabt in der Gruppe. Ich glaube, das ist auch wirklich etwas, das immer so schwierig ist, dass wir wirklich schöne Dinge in der Gruppe erlebt haben. Ja, und dann wollte man weiter dazugehören. Der Pastor war mir sehr wichtig. Ich habe mal gesagt: Er war irgendwie Gott und Jesus und eine Vaterfigur und mein wichtigster Lehrer zugleich. Das ist halt unheimlich schwer, man idealisiert den dann. Da sind ja Erwachsene in der Verantwortung, das nicht auszunutzen, dass sie von Jugendlichen idealisiert werden.
Florin: Sie sagten vorhin, er sei „Gott“ für sie gewesen. Hat er diese spirituelle Macht benutzt? Fielen auch so Sätze wie: „Gott will das doch auch“?
Kracht: So platt nicht, aber eigentlich schon. Er sagte so Sätze wie: „Wer weiß, was der liebe Gott noch mit uns vorhat.“ Es gibt in der Bibel dieses Gleichnis vom Dieb in der Nacht. Dass man weder den Tag noch die Stunde weiß, in der man stirbt. Wir wissen gar nicht, wie viel Zeit uns gegeben ist. Im Grunde war das: „Du musst immer für mich bereit stehen. Wann auch immer ich dich anrufe, musst du sofort auf dein Fahrrad springen und zu mir kommen."
"Ich wollte, dass Leute wissen, was passiert ist"
Florin: Sie haben dann Jahrzehnte gebraucht, um zu erkennen, das war keine Liebesbeziehung, und haben sich 2015 an Ihre Landeskirche gewandt - die Landeskirche Hannover ist das -, weil Sie eine Anlaufstelle im Internet gefunden hatten. Was ist dann passiert?
Kracht: Ja, genau. Ich habe eigentlich, glaube ich, nach ein paar Jahren gemerkt, dass es keine Liebesbeziehung war. Ich wusste aber nicht, wie ich damit umgehen sollte, weil es die Strukturen überhaupt noch nicht gab in der Kirche. Und 2015 habe ich endlich diese Ansprechstelle der hannoverschen Landeskirche gefunden. Das hat so einen Prozess der Aufarbeitung ausgelöst, der sehr wechselhaft verlaufen ist. Der erste Kontakt war ganz gut mit der Landeskirche. Die Gleichstellungsbeauftragte hat sich mit mir getroffen, hat mir die Möglichkeiten aufgezeigt, die es gibt. Ich habe dann auch einen Antrag gestellt und habe dann eine sogenannte Anerkennungsleistung bekommen.
Aber ich wollte mehr. Es ging mir eigentlich nicht um das Geld, sondern ich wollte, dass Verantwortung übernommen wird. Ich wollte, dass Leute wissen, was passiert ist. Ich wollte auch wissen, ob es noch weitere Betroffene gibt. Da ist dann überhaupt nichts mehr passiert. Ich wollte, dass die Kirche zum Beispiel auch mal guckt: Wie verhindert sie das heute? Wie gehen die heute mit Jugendlichen um? Wie sprechen sie Betroffene an? Da war dann eine sehr, sehr große Konzeptlosigkeit. Da habe ich dann ziemlich auf Granit gebissen, immer wieder.
Anerkennungsleistung: praktische Hilfe, aber keine Gerechtigkeit
Florin: Können Sie sich noch daran erinnern, wann Ihnen der erste kirchenamtliche Mensch gesagt hat: "Ich glaube Ihnen"?
Kracht: Ja, das war schon von Anfang an so. Ich habe nicht das Gefühl gehabt, dass es eine große Skepsis mir gegenüber gab.
Florin: Also das, was andere beschreiben, dass ihnen zunächst einmal nicht geglaubt wird, dass viele Hürden überwunden werden müssen, bis dieses Satz "Ich glaube dir! Ich glaube Ihnen!" fällt - das haben Sie nicht erlebt?
Kracht: Ich hatte selbst einen langen Prozess hinter mir. Dieser Pastor hat zu mir gesagt, es sei Liebe gewesen. Ich habe ihm ja jedes Wort geglaubt, das er gesagt hat. Es ist so schwer sich das aus heutiger Perspektive vorzustellen, ich bin jetzt Ende vierzig. Ich war 16, 17, als es angefangen hat. Bei mir war der Prozess vorher. Ich bin mit Anfang, Mitte 40 in diesen Aufarbeitungsprozess gegangen und hatte ein gewisses Standing. Man merkt an den E-Mails, an der Sprache einer Person, ob sie sich sehr gut verteidigen kann. Wenn da jemand kommt und sprachlich nicht besonders geschickt ist, dann kann man diese Person viel leichter abwerten und sagen: "Ich glaube Ihnen das nicht". Da wussten die bei mir wahrscheinlich schon, dass das schwierig wird, wenn sie mich in Frage stellen.
Florin: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie eine Anerkennungsleistung bekommen haben. Was bedeutete Ihnen das Geld?
Kracht: Es war zu der Zeit so, dass ich eingeschränkt arbeitsfähig war aufgrund der posttraumatischen Belastungsstörung. Darum war das erst mal eine praktische Hilfe. Ich habe eigentlich nur gedacht: Okay, wenigstens das könnt ihr tun. Das schafft natürlich keine Gerechtigkeit, das ist völlig klar. Aber mir hat es auch eigentlich gezeigt: Da ist etwas passiert und man hat mir auch geglaubt. Dann habe ich gedacht: Wieso geht es jetzt nicht weiter? Ihr habt mir jetzt das Geld ausgezahlt und sagt: "Da ist etwas geschehen – sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen." Wieso wird da jetzt nicht weiter hingeguckt? Wieso wird nicht in die anderen Kirchengemeinden geguckt? Wieso werden da nicht andere befragt, ob sie Beobachtungen haben oder Ähnliches?
Als ich dann quasi die Bestätigung hatte, dass das Landeskirchenamt oder die sogenannte unabhängige Kommission – es gibt da Kommissionen, die das aussprechen, die sind nicht wirklich unabhängig, werden aber von der Kirche so genannt – dass die mir geglaubt haben, das hat mir den Mut gegeben. Ich habe dann alle Pastorinnen und Pastoren, alle, die eine berufliche Schweigepflicht haben, angeschrieben und davon erzählt und gesagt: "Ich möchte, dass Sie das wissen." Und: Was machen Sie mit dem Wissen?
"Ach, diese kleinen Lolitas"
Florin: Auf der EKD-Synode im November 2018 sagte die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs:
"Aufarbeitung, sexualisierte Gewalt und Grenzverletzung in der evangelischen Kirche – das geht ans Innerste auch unseres Kirchenverständnisses. … (Das) heißt einstehen für Verfehlungen, heißt Verantwortung übernehmen. .. Wir haben uns gegenüber Menschen, die sich uns anvertraut haben, schuldig gemacht. Auch als Institution!"
Diese Rede wurde sehr gelobt, sie wurde als "Ruckrede" bezeichnet. Was bedeutet es für Sie, dass eine Institution bekundet, Verantwortung übernehmen zu wollen? Worin besteht die Verantwortung?
Kracht: Zunächst einmal: Ich fand die Rede sehr anstrengend. Es ging vor allem um die eigene Betroffenheit. Ich weiß auch nicht, wie man das besser machen kann. Was die Verantwortungsübernahme betrifft: Ich glaube, das muss man gemeinsam mit Betroffenen entwickeln. Das kann auch in jedem Fall anders aussehen. Wenn wir in den Bereich der ehemaligen Heimkinder gehen: Sie haben massive ökonomische Schäden für den Rest ihres Lebens durch die Biografie, die sie in evangelischen Institution erlebt haben. Da ist es eine andere Verantwortungsübernahme, zum Beispiel, dass man etwas gegen Altersarmut tut. An meiner Stelle fand ich es sehr gut, dass wir an meine Kirchengemeinde gegangen sind. Es wird jetzt auch noch Aufarbeitung in der vorherigen Kirchengemeinde (in der der Pastor tätig war) versucht. Das läuft schleppend. In der anderen Gemeinde gab es auch schon Betroffene, ab 1975 gab es schon Betroffene, wie wir wissen. Es geht darum, hinzugucken: Was hat das möglich gemacht? Warum hat da nie jemand etwas gesagt? Warum hat niemand die Mädchen geschützt?
Florin: Haben Sie darauf eine - vorläufige - Antwort?
Kracht: Ich finde das schwierig. Ich glaube, dass man diesen Männern da sehr viel zugestanden und den Mädchen die Schuld gegeben hat. So nach dem Motto: "Ach, diese kleinen Lolitas, die da den Pastor verführen!". Ich glaube, dass es diesen Mythos gibt. Ich bin als die rebellische Jugendliche gesehen worden, die sich nicht gut angepasst hat. Dann suchen sich Täter gern die Kinder aus, von denen sie denken, die seien ohnehin nicht gut geschützt. Ich war damals die einzige, die eine alleinerziehende Mutter hatte. Da hat er sich wahrscheinlich anders rangetraut. Damals auf dem Dorf gab es wenige alleinerziehende Eltern. Die Täter haben Strategin. Der Täter war sehr beliebt, sehr charmant.
Florin: Sie engagieren sich im EKD-Betroffenenbeirat. Der hat im vergangenen Herbst eine Pressekonferenz gegeben und in der vergangenen Woche eine weitere Pressekonferenz. Die Kritik an der Aufarbeitung ist in diesem halben Jahr eher schärfer geworden. Was vermissen Sie in der EKD?
Kracht: Die Pressekonferenz im November haben wir als Betroffene, nicht als Betroffenenbeirat gemacht. Aber die Kritik ist meines Erachtens schärfer geworden, weil wir jetzt ein halbes Jahr den Betroffenenbeirat haben und wir eben immer auf die gleichen Probleme stoßen. Ich kann mal ein Beispiel nennen: Ich bin in einer Arbeitsgruppe, in der wir mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zusammenarbeiten. Da wollte mir doch der Herr Bischof Meyns erklären, wer der UBSKM ist. Und das zeigt mir eine wirklich herabwürdigende Sicht auf Betroffene und deren Expertise.
Florin: Zur Erklärung: Bischof Meyns ist der Nachfolger von Kirsten Fehrs als Sprecher, er ist sozusagen der Missbrauchsbeauftragte der EKD und er ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig. Die EKD hat sich zu der Kritik schon geäußert und sagt, dass es in dem Prozess der Aufarbeitung unterschiedliche Perspektiven gibt. Dass Betroffene eine andere Perspektive haben als Amtsträger in der evangelischen Kirche - das sei eigentlich kein schlechtes Zeichen, sondern das sei normal in einem solchen Aufarbeitungsprozess. Was sagen Sie dazu?
Kracht: Eine Sache sind eben verschiedene Perspektiven, das andere ist, dass der eine Teil eine Pressestelle hat und eine Fachstelle, wo Leute in Vollzeit arbeiten – das ist die EKD. Die haben da eine Wahnsinnsinfrastruktur. Und dann gibt es den Betroffenenbeirat, wo ein paar Betroffene das nach ihrem Arbeitstag abends auf ihren eigenen Endgeräten machen, zu einem großen Teil auch zu eigenen Kosten. Das ist natürlich auch ein wahnsinniges Ungleichgewicht. Es ist nicht so, dass sich zwei gleichberechtigte Partner*innen austauschen, sondern es gibt strukturelle Unterschiede. Da sehe ich die EKD in der Verantwortung, diese bestmöglich auszugleichen.
"Wir brauchen mehr Politiker*innen, die sich einsetzen"
Florin: Sie haben bei der Pressekonferenz in der vergangenen Woche davon gesprochen, dass es eine beschönigende EKD-typische Sprache gebe. Was meinen Sie damit?
Kracht: Ich glaube, dass die EKD rhetorisch sehr stark ist. Es gibt viele Reden zu bestimmten Anlässen, zum Beispiel die Rede von Frau Fehrs. Da entsteht Emotionalität und man denkt: "Wow, die haben dieses Thema wirklich aufgenommen". Ein Beispiel für diesen Sprachgebrauch sind diese sogenannten "unabhängigen Kommissionen". Da denkt man im normalen Sprachgebrauch, die hätten nichts mit der Kirche zu tun, das sei toll für die Betroffenen. Aber diese Kommissionen sind von der Kirche eingesetzt. In einer dieser Kommissionen sitzt zum Beispiel jemand, der das Landeskirchengesetz mitgeschrieben hat, der 20 Jahre in der Synode war, jemand der die Diakonie an einem anderen Ort geleitet hat. Da kann man sich schon fragen: Wie groß ist die Unabhängigkeit, wenn die Leute eine so lange Sozialisation mit der Kirche und der Diakonie haben. In der Nordkirche ist die Vorsitzende dieser Kommission Frau Fehrs. Unabhängig heißt in der Kirchensprache: nicht weisungsgebunden. Das heißt, Frau Fehrs ist nicht an ihre eigenen Weisungen gebunden. Und das wird unabhängig genannt. Das halte ich für einen vernebelnden Sprachgebrauch.
Florin: Das verbindet Sie mit der katholischen Kirche. Dort wird das Wort "unabhängig" vor Aufarbeitungskommissionen groß geschrieben, aber de facto sind die Bischöfe Herren des Verfahrens. Es gibt von Betroffenen der katholischen Kirche eine Petition im Internet, sie fordern eine Wahrheitskommission, die unabhängig von den Kirchen aufarbeitet. Unterstützen Sie das?
Kracht: Ich habe das in Irland sehr lange beobachtet, weil ich in den 90er Jahren in Irland gelebt habe. Dort hat das zu einer massiven gesellschaftlichen Veränderung beigetragen. Ich glaube, das muss hier auf jeden Fall überlegt werden, dass wir das tun. Es muss deutlich größere Unabhängigkeit geben. Wenn man das wirklich unabhängig aufarbeitet durch staatliche Seite, zeigt man, welche gesellschaftliche Bedeutung das Thema hat. Wir haben alle eine große gesellschaftliche Verantwortung, wenn Kindesmissbrauch passiert - in Familien und in Institutionen.
Florin:: Aber die Debatte gab es schon 2010, als damals am Canisius-Kolleg die Fälle bekannt wurden, als Klaus Mertes das bekannt gemacht hat. Jetzt sind wir elf Jahre später, und es gibt diese Unabhängige Kommission noch immer nicht. Warum dauert das so lange?
Kracht: Ich glaube, wir brauchen mehr Politiker*innen, die das vertreten. Das ist ja eine politische Entscheidung. Es gibt gesellschaftlich immer noch ein sehr großes Vertrauen in die beiden großen Kirchen, zum Beispiel in die Caritas und die Diakonie. Dieses Vertrauen habe ich auch gehabt. Ich bin zwar schon lange kein Kirchenmitglied mehr, aber als ich mit meiner Aufarbeitung angefangen habe, habe ich gedacht: Das ist doch die evangelische Kirche, die wird es schon richtig machen. Und bin dann immer wieder, immer wieder geschockt gewesen, wie viel Widerstände es gibt und wie stark es an Fachkompetenz mangelt. Ich glaube, man erlebt die Kirche oft als sehr gutwillig und als fachkompetent. Ich kann das leider mit meinen Erfahrungen nicht überein bringen. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, es gibt ganz tolle Leute, die da arbeiten, in Kirche und Diakonie. Wirklich. Insgesamt stoße ich auf massive Widerstände. Da müssten wir gesellschaftlich hingucken, wo die sind.
"Nicht verschiedene Tat-Kontexte gegeneinander ausspielen"
Florin: Ihr Kollege im Betroffenenbeirat Detlev Zander sagt: "Die katholische Kirche steht zu recht in der Kritik, die evangelische Kirche steht zu unrecht nicht in der Kritik". Warum müssen Sie so um Aufmerksamkeit kämpfen?
Kracht:: Es ist viel leichter, mit dem Finger auf die katholische Kirche zu zeigen. Da gibt es ganz massive Demokratiedefizite. Allein schon die Tatsache, dass keine Frauen ordiniert werden. Da kann man sich ja fragen, wie das geht, dass eine Institution so geschützt wird in einem Land, in dem wir Gleichberechtigung im Grundgesetz haben. Das sind so offensichtliche Sache. Das hat die evangelische Kirche nicht. Die machen viele Sachen, die als gesellschaftlich fortschrittlich gelten. Das finde ich auch gut, dass die evangelische Kirche das macht. Nur bekommt sie damit ein so positives Image. Das können wir leider im Bezug auf Prävention und Aufklärung sexualisierter Gewalt nicht sagen. Da ist die evangelische Kirche viel langsamer als die katholische, vielleicht deswegen, weil der Fokus nicht auf ihr liegt. Die MHG-Studie - die große Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche - ist 2013 in Auftrag gegeben worden. Die evangelische Kirche beginnt jetzt mit ihrer Aufarbeitungsstudie, acht Jahre später.
Florin:: Man könnte sich ja auch fragen: Warum arbeiten nicht Betroffene von evangelischer und katholischer Kirche zusammen, um eine stärkere gesamtgesellschaftliche Wirkung zu erzeugen.
Kracht: Das ist zum Beispiel in der AG Kirchen beim Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung so. Da sind katholische und evangelische Betroffene vertreten. Es ist möglich, sich zu verbinden. Wir kämpfen mit anderen Strukturen - und im evangelischen Bereichen kämpfen wir Betroffene um die Sichtbarkeit.
Florin: Wenn wir über Missbrauch berichten, dann gibt es im Publikum relativ viel Abwehr nach dem Motto: "Ja, er ist doch überall, guckt doch auch mal in die Sportvereine, guckt in die Familie, nicht immer nur in die Kirchen." Welche Unterstützung kommt von Gläubigen, von der Basis für Ihre Arbeit?
Kracht: Ich bin kein Kirchenmitglied, das ist nicht mein Schwerpunkt. Aber ich kann sagen, dass ich zum Beispiel in meiner Aufarbeitung von Pastorinnen richtig gut unterstützt worden bin, die in den Kirchengemeinden vor Ort arbeiten. Ich bin auch von dem Kirchenvorstand in meiner ehemaligen Kirchengemeinde sehr gut unterstützt worden, die haben sich das wirklich angezogen und gesagt: "Wir gucken jetzt dahin, und wir gehen das Risiko ein, dass wir eventuell nachher negative Presse bekommen." Das erkenne ich sehr hoch an, dass die sich dahinter gestellt haben.
Ich glaube, es ist total wichtig, nicht verschiedene Tat-Kontexte gegeneinander auszuspielen, denn es können ja auch Leute, die in der evangelischen Kirche Betroffene sind, die können ja genauso auch zuhause sexualisierte Gewalt erfahren haben oder im Sportverein. Also es schützt einen ja nicht das eine vor dem anderen, das gehört zusammen. Und es geht darum, dass wir als Gesellschaft dahin gucken: Wo entsteht sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche? Und wo können wir sie bekämpfen?
Die eigene Haustür und die der anderen
Florin: De facto wird es gegeneinander ausgespielt. Wenn alle sagen: "Kehrt erst mal vor der eigenen Haustür!", dann führt das erfahrungsgemäß dazu, dass nirgendwo gekehrt wird. Womit erklären Sie das?
Kracht: Erst mal finde ich es gut zu sagen: Das Haus befindet sich in einer Straße. Es gibt viele Haustüren. Ich engagiere mich im Bereich evangelische Kirche und sexualisierte Gewalt, weil ich mich damit auskenne. Ich lerne aber Sachen, die ich auf andere Institutionen und Organisationen übertragen kann. Dann bin ich auch da aufmerksamer und besser ansprechbar. Ich bin Lehrerin. Und was ich lerne über sexualisierte Gewalt in kirchlichen Institutionen übertrage ich auf meinen beruflichen Alltag und bin deshalb besser ansprechbar.
Florin:: Ganz große Frage zum Schluss: Was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext?
Kracht: Für mich war es wichtig, dass diesem Narrativ des Täters, dieser großen Erzählung: "Ich bin hier der tolle Pastor, der sich für Jugendliche engagiert, der Reisen bietet, der so fortschrittlich ist", dass dem ganzen eine andere Erzählung entgegengesetzt wurde. Dass gesagt wurde: Das stimmt so nicht, hier hat Missbrauch stattgefunden. Das ist für mich eine wichtige Form von Gerechtigkeit, dass gesagt wird: Wir glauben dieser Erzählung nicht mehr. Wenn sich das auch gesellschaftlich ändert und wir mehr hingucken, dann ist viel gewonnen.
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