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Missbrauch in der katholischen Kirche
Juristin Tilmann: "Der Gesetzgeber wäre am Zug"

Die kürzlich präsentierte Studie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche hat keine strafrechtlichen Folgen. Brigitte Tilmann von der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sagt: Die Politik müsste die gesetzliche Grundlage schaffen, um auch gegen den Willen der Kirche an Akten heranzukommen.

Brigitte Tilmann im Gespräch mit Christiane Florin | 09.10.2018
    Brigitte Tilmann schaut in die Kamera
    Brigitte Tilmann von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Barbara Dietl)
    Christiane Florin: Über eine Studie zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche haben wir vor zwei Wochen ausführlich berichtet. Viele Zuschriften von Hörerinnen und Hörern sind danach bei uns eingegangen. Die meisten zeugen von Fassungslosigkeit angesichts der Taten, aber auch von Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass Strafen meistens ausblieben.
    Ob für Priester Sonderrecht gilt, ob ihre Verbrechen allenfalls vor dem jüngsten Gericht landen, ob nicht jetzt endlich der Staat eingreifen müsse - so lauten oft gestellte Fragen. Man könne im Rechtsstaat nicht einfach eine Hundertschaft Staatsanwälte in kirchliche Archive schicken, sagte Bundesjustizministerin Katharina Barley vor einigen Tagen im Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit".
    Wirklich nicht? Als Nicht-Juristin habe ich mir Rat geholt und zwar bei Brigitte Tilmann. Sie ist Strafrechtlerin, war Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und hat sich intensiv mit der sexuellen Gewalt an der Odenwaldschule befasst. Zudem gehört sie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch an. Das Gespräch haben wir gestern aufgezeichnet. Zuerst habe ich Brigitte Tilmann gefragt, was sie als Strafrechtlerin aus der Studie gelernt hat.
    Brigitte Tilmann: Für mich ist ein sehr wichtiges Ergebnis, es nun wirklich schwarz auf weiß dasteht - aktenkundig sozusagen - dass in der katholischen Kirche tausendfach, mehrfach Tausend, sexueller Missbrauch betrieben worden ist in den letzten Jahren. Und außerdem hat die Studie für mich offengelegt, dass die innerkirchlichen Machtstrukturen und das, was dem Zölibat folgt, dazu beigetragen haben, dass das Risiko für sexuellen Missbrauch in der Kirche sehr groß ist.
    Florin: Das heißt, die Studie hat für Sie einen Wert, obwohl sie nur einen beschränkten Auftrag …
    Tilmann: Ja. Die Studie hat schon einen ganz großen Wert. Also, einen, sozusagen, einen Anschubwert.
    Florin: Das heißt, jetzt muss noch mehr erfolgen.
    "Eine gute Studie, aber jetzt muss mehr kommen"
    Tilmann: Es muss unbedingt noch mehr kommen. Das haben die Wissenschaftler, die an der Studie gearbeitet haben, schon selbst gesagt und sogar der Bischof Marx hat davon gesprochen, dass das, was jetzt gewesen ist, also, eine gute Studie, eine wissenschaftlich fundierte Studie, ausdrücklich keine Aufklärung und keine Aufarbeitung ist, sondern ein Sammeln von belastbaren Daten und auch eine Analyse institutioneller Einflüsse, eine wissenschaftlich fundierte Analyse institutioneller Einflüsse, aber noch keine Aufarbeitung - eine Erschließung von Fakten sozusagen.
    Florin: Kann es nicht auch sein, dass es ein Aufschieben ist, bis sich niemand mehr, außer den Betroffenen selbst, für das Thema Missbrauch interessiert?
    Tilmann: Ich denke nicht, dass es noch klappt, dass die katholische Kirche in der Lage ist weitere Aufarbeitungen aufzuschieben.
    Florin: Ein wichtiger Befund dieser Studie ist ja, dass es nur in einem guten Drittel der Fälle, also 37,7 Prozent der Beschuldigungen eine Strafanzeige gab. Und dass diese Anzeige auch meistens von den Betroffenen kam und nicht von Mitarbeitern der Kirche. Wie erklären Sie sich diese Zahl?
    Tilmann: Das kann man nur eigentlich damit erklären, dass es eine Anzeigepflicht nicht gibt. Es gibt in Deutschland keine Anzeigepflicht für begangene Taten – und das gilt natürlich für die Kirchen genauso wie für Privatpersonen oder für andere Institutionen. Also, man ist nicht verpflichtet anzuzeigen. Allerdings haben sich Institutionen schon verpflichtet – und 2010 auch die katholische Kirche. Die haben sich Leitlinien gegeben, die vorsehen, dass die Informationen an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden, sobald tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen für eine Straftat. Das ist aber sehr selten geschehen. Der Grund dafür ist mit, dass eben diese Taten jahrzehntelang vertuscht werden sollten und auch vertuscht worden sind.
    "Vertuschung ist kein Straftatbestand"
    Florin: Ist Vertuschung ein Straftatbestand?
    Tilmann: In Deutschland nicht. In Deutschland ist Vertuschung an sich kein Straftatbestand, also anders als in, ich glaube in Australien. Ja, in Australien gibt es einen Straftatbestand "Vertuschung von sexuellen Straftaten". Das gibt es in Deutschland nicht. Allerdings kann eine aktive Vertuschung ein Straftatbestand werden, wenn sie zur Vereitelung einer Strafe wird. Also, die Strafvereitelung ist ein Straftatbestand, aber dann muss aktiv vertuscht werden.
    Florin: Und wie ließe sich das nachweisen?
    Tilmann: Durch Erkenntnisse aus den Akten. Aber ich denke, es muss erst mal - und das ist eigentlich auch das Komplizierte an der Anzeigepflicht - es muss eine Straftat vorliegen, der Anfangsverdacht einer Straftat und das bedeutet, dass man Täter, Tatort, Zeitraum, Tatzeitraum wissen muss. Also, es muss zusammengeführt werden. Also, was jetzt in der Studie gemacht worden ist, ist die Anzahl der Täter und der Beschuldigten - wir haben es ja Beschuldigte genannt - und Anzahl der Betroffenen. Aber eine Zusammenführung und eine Angabe, welche Taten, wann, wie lange geschehen sind und wo, gibt es nicht.
    Florin: Aber es war von vorneherein klar, es war durch das Design der Studie, durch die Konzeption der Studie festgelegt, dass es nicht möglich sein wird, Orte zu identifizieren, Namen herauszulesen oder irgendwelche Spuren zu verfolgen, wie kann das sein?
    Tilmann: 2014 ist, glaube ich, der Auftrag erteilt worden für diese Studie.
    Florin: Ja.
    "Man hat nicht genau genug hingeschaut"
    Tilmann: Also, für die Aufarbeitungskommission bestand damals noch keine Möglichkeit, weil sie da noch nicht bestanden hat. Die ist 2016 ins Leben gerufen worden - die Aufarbeitungskommission. Dass der Staat an sich einen Blick drauf hat, was im Einzelnen in diesem Auftrag der katholischen Kirche an die Datensammler oder Aufklärer, an die Wissenschaft gegangen ist, das kann ich so nicht sagen. Also, im Grunde liegt es in der Hand der katholischen Kirchen, den Umfang des Auftrages zu bestimmen. Und ich meine, heute würde man es sicher anders machen.
    Florin: Das wäre meine Frage gewesen: Wenn es die Aufarbeitungskommission 2014 schon gegeben hätte, ob die da Widerspruch eingelegt hätte.
    Tilmann: Also, Widerspruch einlegen, das ist mir dann schon zu formal. Aber man hätte möglicherweise, wenn man den Umfang des Auftrages gekannt hätte, mit den Verantwortlichen gesprochen und gesagt, dass das nicht ausreicht. Also, wir sind in der Aufarbeitungskommission sowieso im Moment dabei, Standards für eine Aufarbeitung zu entwickeln, also, so eine Art Leitlinie oder Leitfaden, in der wir aufnehmen, was Aufarbeitung bedeutet und was sie beinhalten muss. Danach hätte man natürlich bemerkt, dass es zu wenig ist. Man war damals einfach nur erleichtert, dass die katholische Kirche sich entschlossen hat, nachdem das erste Projekt gescheitert war, jetzt doch noch mal an das Thema ranzugehen.
    Florin: Und hat nicht genau genug hingeschaut.
    Tilmann: Sicher hat man nicht genau genug hingeschaut. Aber diese Aufträge zur Aufarbeitung werden halt oft von den Institutionen selbst erteilt und auch da müsste sich was verändern. Also, da müssten entweder eben diese Standards entwickelt werden, was gehört dazu und jeder müsste sich an diese Standards halte. Oder aber überhaupt die Beauftragung von Aufarbeitungsteams müsste durch eine unabhängige Stelle erfolgen. Also, nicht durch die Institution, an der der Missbrauch stattgefunden hat.
    Was die Kirche könnte, wenn sie wollte
    Florin: Das ist auch eine Frage, die von vielen Hörerinnen und Hörern kam: Wie kann es sein, dass sich eine Institution selbst untersucht? Das geht ja bei anderen Straftaten auch nicht.
    Tilmann: Ja, dass eine Institution sich selber um die Aufarbeitung bemüht und selber Aufarbeitungstätigkeiten aufnimmt, das geht natürlich nicht. Und das ist aber auch in diesem Fall nicht gemacht worden, weil mit diesem Bericht Wissenschaftler - unabhängige Wissenschaftler außerhalb der katholischen Kirche - beauftragt worden sind.
    Florin: Aber trotzdem mit diesem doch sehr engen Auftrag, aus dem ein Interesse ablesbar ist, dass keine Namen genannt werden. Dass also Verantwortliche nicht identifizierbar sind. Zum Strafrecht gehört doch dazu, dass klar wird, welche Personen Täter sind und welche eben auch nicht.
    Tilmann: Ja, also, ich denke auch nicht, dass es Auftrag der Studie war, die strafrechtliche Verfolgung zu ermöglichen. Sondern, dass war erstmal eben Taten, Täter, Anzahl, Betroffene festzustellen und Strukturen, die zu dem Missbrauch geführt haben. Also, es ist ein Punkt davor. Der katholischen Kirche ist es eigentlich unbenommen, die haben ja die Akten, die können in ihre Akten einsehen, die Voraussetzungen zu schaffen, dass eine Staatsanwaltschaft praktisch einen Anfangsverdacht hat für eine Straftat.
    Florin: Muss nicht auch der Staat ein Interesse daran haben, ermitteln zu können und eine Herausgabe von Akten zu erzwingen?
    Tilmann: Das muss er haben, das muss er haben. Aber es ist einfach so, diese ganze Aufarbeitung, das ist eine Entwicklung, die eigentlich erst, also es fing 2010 ja mit dem Canisius Kolleg und der Odenwaldschule an. Dann kam langsam immer mehr das Bewusstsein, dass aufgearbeitet werden muss - bei der katholischen Kirche hat es sehr lange gedauert, bis dieses Bewusstsein gekommen ist. Die evangelische Kirche kämpft meiner Ansicht nach noch darum, dass so richtig zu erkennen. Und das sind Entwicklungen, das sind Entwicklungen, die, ich meine, jetzt steht ihnen das klar vor Augen, wie es hätte ideal sein müssen, aber ich finde, wenn es diese Studie, die es jetzt gibt, nicht gegeben hätte, dann wäre noch weniger da. Ich weiß nicht, ob ich mich da verständlich genug mache.
    Florin: Ja, ich verstehe es schon. Trotzdem reicht das nicht…
    "Als Anfangsverdacht reicht es nicht"
    Tilmann: Wir gucken mal nicht nach hinten, gucken wir nach vorne. Da ist es natürlich ganz notwendig nach den Ergebnissen, die wir jetzt haben und nachdem, was wir erlebt haben, dass die Sache anders angegangen wird.
    Florin: Reicht das nicht als Anfangsverdacht, was jetzt vorliegt?
    Tilmann: Nein. Als Anfangsverdacht reicht es nicht. Also, eine Staatsanwaltschaft muss bestimmte, konkrete Anhaltspunkte haben, um überhaupt Ermittlungen einzuleiten. Es muss also eine verfolgbare Straftat vorliegen. Das heißt, eine konkrete Straftat in einem konkreten Fall. Aber, was jetzt da ist, ist eben keine konkrete Straftat in einem konkreten Fall. Es steht fest, dass Straftaten begangen worden sind, aber die Konkretisierung ist noch nicht da.
    Florin: Aber die ließe sich doch herstellen, indem man diese anonymisierten Akten wieder zurückführt auf die tatsächlichen Akten, die ja Namen enthalten.
    Tilmann: Das kann man aber nicht so ohne Weiteres machen. Also, ich meine: Es geht natürlich alles. Wenn die katholische Kirche sagt, ich gebe jetzt diese Akten raus und ich lasse bei uns eine Zusammenführung machen, die können es ja, die wissen ja, was in den Akten steht oder es gucken sich Rechtsanwälte an oder auch ein anderer Aufarbeitungsdienst und bringen diese Erkenntnisse Täter, Tat, Tatort, Tatzeit zusammen.
    Florin: Das heißt, man ist auf den guten Willen der Kirche angewiesen?
    Tilmann: Im Moment. Im Moment noch ja.
    Florin: Und was müsste sich ändern, damit das anders wäre?
    Tilmann: Zum Beispiel, dass eine Aufarbeitungskommission eine gesetzliche Grundlage bekommt. Dass also der Staat eine gesetzliche Grundlage für die Aufarbeitungskommissionen schafft. Dass eine Aufarbeitungskommission, die sich mit den sexuellen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche befasst, eine Regelung hat, eine gesetzliche Grundlage dafür, dass sie Zeugen vorladen kann, dass sie Akteneinsicht nehmen kann, dass ihr Akten herausgegeben werden müssen. Das wäre eine Möglichkeit, um von außen gegen den Willen der Kirche an Akten ranzukommen. Was natürlich auch Voraussetzung wäre, wäre immer eine uneingeschränkte Bereitschaft der Kirche zu einer rückhaltlosen Aufarbeitung. Und dann wären solche Zwangsmaßnahmen auch nicht nötig. Man müsste sie schaffen, man müsste sie schaffen.
    Florin: Der Gesetzgeber ist gefordert.
    "Die Politik ist einfach noch nicht so weit"
    Tilmann: Der Gesetzgeber wäre am Zug, sozusagen.
    Florin: Und warum geschieht das nicht?
    Tilmann: Weil die Politik einfach noch nicht so weit ist. Ich meine, das ist mit eines dieser Ergebnisse schon dieser ersten Studie. Ich denke, durch diese Feststellung ist auch die Politik aufgerüttelt.
    Florin: Durch die schiere Zahl, meinen Sie jetzt?
    Tilmann: Ja, einfach durch die Zahlen. Also, ich kann mich jetzt auch noch erinnern, als die Zahlen von Pennsylvania, die ja ganz andere Grundlagen haben, die hatten ja die Grundlage für die Staatsanwaltschaft – die Grand Jury – loszugehen und einfach zu forschen, nachzuforschen, was ist passiert. Aber die haben wir hier bei uns nicht.
    Florin: Sie haben sich auch intensiv mit der Odenwaldschule beschäftigt.
    Tillmann: Ja.
    Florin: Sehen Sie da mehr Parallelen zur katholischen Kirche oder mehr Unterschiede?
    Tilmann: Es gibt immer Parallelen bei diesen Fällen. Also, ich habe ja mit meiner Kollegin, Frau Burgsmüller, auch noch eine Grundschule, eine öffentliche Grundschule hier in Darmstadt aufgearbeitet. Parallelen sind erst mal immer da, dass zunächst mal der Schutz der Institution ins Blickfeld der betroffenen Institutionen gerät – und nicht die Betroffenen selber und das, was sie an Leid erfahren haben. Und es ist überall gleich. Das ist in der katholischen Kirche gleich und das war in den Schulen gleich. Bei der Odenwaldschule war die Situation insofern anders, als jetzt in der katholischen Kirche, da gab es in der Odenwaldschule überhaupt keine Unterlagen, weil auch immer behauptet worden ist, keiner hat es gewusst, es ist nicht vertuscht worden. In der Odenwaldschule gab es mehrere Anzeigen von Schülern, allerdings erst sehr spät, weil sehr spät diese verdrängten Straftaten wieder ins Gedächtnis gekommen sind und es dann auch sehr lange gedauert hat, bis irgendjemand darauf reagiert hat. Es haben Schüler angezeigt und die Taten waren aber alle verjährt und damals, damit gab es keine verfolgbaren Taten. Also, es sind Unterschiede da, aber auch viele Parallelen.
    Florin: Wenn jetzt Bischöfe vor der Öffentlichkeit versichern, sie werden die Betroffenen in den Mittelpunkt stellen, glauben Sie denen das?
    Tilmann: Puh! Schwierige Frage. Im Moment kann ich es Ihnen noch nicht glauben. Dazu ist mir offen gestanden die Erklärung der Bischöfe, die sie da am 27.09. – zwei Tage nach der Pressekonferenz – also, vorher war ja schon was durchgesickert von den Zahlen, abgegeben haben. Da ist mir viel zu viel Vages dabei. Da wird viel zu oft von "wir werden das tun", "wir erarbeiten etwas". Also, ich hätte lieber, dass da drinsteht "wir handeln", "wir geben Akten raus zur Einsicht", "wir werden ermitteln, welche Taten das im Einzelnen waren". Das wäre mir sehr viel lieber.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.