Am letzten Wochenende luden die Regensburger Domspatzen zu einem "Tag der Offenen Tür": Der Missbrauchsskandal und seine schleppende Aufarbeitung waren ein großes Thema bei den Eltern, die überlegen ihr Kind bei den Domspatzen in die Schule und möglicherweise in das Internat zu schicken.
"Das war vor 20, 30 oder noch mehr Jahren. Also das betrifft uns und die jetzigen Domspatzen nicht direkt", sagt ein Vater. "Das ist ein Thema, über das wir mit unserem Sohn Gustav sprechen werden. Natürlich muss man immer wachsam bleiben", sagt eine Mutter. "Das kann grundsätzlich überall passieren. Begeistert ist man natürlich nicht", sagt ein anderer Vater.
2010 ist die Bombe geplatzt. Da wurde der Missbrauchsskandal öffentlich. Aber erst im letzten Jahr haben Bistum und Domspatzen den Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber mit der Aufarbeitung dieser Fälle beauftragt. Anfang des Jahres hat der Jurist nun einen Zwischenbericht vorgelegt. Und der ließ aufhorchen. Die Zahlen waren erschreckend hoch. Weber nannte 231 Fälle von körperlicher Gewalt und rund 50 Fälle von sexuellem Missbrauch in den Einrichtungen der Domspatzen. Inzwischen haben sich weitere Opfer bei ihm gemeldet. Die Zahlen betreffen vor allem die vier Jahrzehnte von den 1950er bis zu den 1990er Jahren.
"Die Bandbreite der sexuellen Übergriffe reicht nach Aussagen der Opfer von Streicheln bis hin zur Vergewaltigung", so Weber. " Die Misshandlungsfälle, also was körperliche Gewalt betrifft, beziehen sich auf Prügelattacken, bis zum Blutigschlagen, Schlagen mit dem Stock und diversen Gegenständen wie Siegelring oder Schlüsselbund, Flüssigkeitsentzug bei Bettnässern, Zurschaustellung von diesen, Zwang zur Essensaufnahme einerseits und Verweigerung von Nahrung andererseits."
Betroffen waren die Vorschule im nahen Etterzhausen und das Internat der Domspatzen in Regensburg. Weber sprach von einem "System der Angst", das hier herrschte. "Während der Direktoratszeit Maier in Etterzhausen, konkret 1966, erfolgte nach einer erheblichen Verletzung eines Schülers in Etterzhausen eine Anzeige durch die Mutter. Konsequenzen zum Beispiel aus polizeilichen Ermittlungen sind nicht dokumentiert. Opfergespräche legen nahe, dass hierfür explizit abgestellte Schüler gedrängt wurden, über einen Treppensturz zu berichten."
Watschen beim Stundengebet
Die Zustände bei den Domspatzen beschäftigten auch immer wieder einmal die Öffentlichkeit. In den 50er Jahren wurde ein Geistlicher gerichtlich wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Die Presse berichtete, aber geändert hat sich nichts.
Das Kuratorium, das Ulrich Weber nun benannt hat, ist paritätisch besetzt. Sechs Sprechern der Opfer sitzen sechs Vertreter von Bistum und Domspatzen gegenüber, inklusive Bischof Rudolf Voderholzer. Auf Opferseite mit dabei ist Udo Kaiser. Für den 67-jährigen war die Vorschule in Etterzhausen schlicht eine Hölle. "Das war der Internatsdirektor. Das ging in der Früh beim Waschen los. 5.30 Uhr Wecken, in Zweierreihen, Silentium. Dann zurück vom Waschen, Anziehen, dann zur Frühmesse, dort schon die erste Watschen beim Stundengebet. Wenn ich das Messbuch verkehrt von links nach rechts getragen habe, dann hat er mir das Messbuch aus der Hand genommen und hat mich am Hochaltar einfach abgewatscht. Wenn Sie am Tag aufgefallen sind, dann standen Sie auf der Liste den ganzen Tag und wurden abends vor 80 Kindern exekutiert: über den Bock gelegt und mit dem Stock verdroschen."
Ehemalige Domspatzen sprechen heute von einer "schwarzen Pädagogik", die der Internatsdirektor in Etterzhausen etabliert hatte. Die Strafmaßnahmen, die sich der Direktor und seine Adlaten einfallen ließen, spotten jeder Beschreibung. Nach der Vorschule folgte das Internat der Domspatzen. Udo Kaiser hatte gehofft, dass jetzt alles besser wird. Vergeblich. Er nennt sexuellen Missbrauch, was ihm hier passiert ist. "Wenn Sie nachts aus dem Bett geholt werden und der Präfekt führt Sie in sein Zimmer und da eben: Schlafanzughose runter und den Kopf zwischen den Oberschenkeln. Und wie sich der mit seinem erigierten Glied an meinem Hinterkopf reibt. Wenn Sie das erlebt haben als Kind, dann fällt Ihnen nichts mehr dazu ein."
Ein anderes Mitglied des Kuratoriums ist Alexander Probst. Auch er wurde sexuell missbraucht im Internat der Regensburger Domspatzen, sagt er. "Die eine Ebene ist das, was passiert im Schlafraum in Anwesenheit anderer Kinder, die das auch mitbekommen haben. Mich hat 2010 nach Veröffentlichung der ganzen Sache ein ehemaliger Schlafgenosse angerufen, der sah halt, dass der Präfekt sich jeden Abend, wenn er Dienst hatte und es dunkeln geworden war, zu mir ans Bett gesetzt hat und mich unter der Bettdecke befummelt hat und zwar überall, am ganzen Körper. Dass der an meinem Penis herummanipuliert und masturbiert hat. Das sind alles Dinge, die man nicht möchte von so jemandem."
Was wusste Georg Ratzinger?
Das Martyrium endete erst, als Alexander Propst es wagte, zu Hause von den Übergriffen zu berichten. Sein Vater stellt auch Domkapellmeister Georg Ratzinger, den Bruder des späteren Papstes Joseph Ratzinger, zur Rede. Alexander Probst erzählt: "Das hatte dazu geführt, dass mich mein Vater ins Auto gesetzt hat. Wir sind reingefahren in die Reichsstraße und dann hat der sich den Herrn Ratzinger gegriffen, und hat nicht nur lautstark - ich hab als Kind schon befürchtet, es gäbe Handgreiflichkeiten, das konnte man bis auf die Straße hören, ich musste draußen auf der Treppe warten - hat er mit dem Herrn Ratzinger gestritten. Mein Vater hat den Herrn Ratzinger genau deshalb zur Sau gemacht, sagt man auf Bayerisch."
Im Kuratorium hat jetzt die Aufarbeitung dieser Fälle begonnen. Und die ist dringend nötig, betont Berthold Wahl, Oberstudiendirektor im Gymnasium der Domspatzen. Er weiß es geht auch um die Existenz des berühmten Chores: "Wir haben die Verantwortung, die müssen wir wahrnehmen, wir müssen schauen, dass wir mit den Leuten die hier wirklich übelstes Leid erfahren haben, eine Lösung finden, zum Wohle von denen Leuten unbedingt das muss anerkannt werden, das muss geklärt werden, und ihnen muss irgendwie geholfen werden, wie auch immer, und sicherlich auch zum Wohl unserer Stiftung und unserer Institution und der Kinder, die jetzt da sind."
Seit sechs Jahren stehen die Vorwürfe im Raum. Passiert ist wenig, das lasten die Opfer dem Bistum unter der Leitung des damaligen Bischofs Gerhard Ludwig Müller an, heute Kardinal im Vatikan. Ihre Hoffnung hofft ruht auf dem neuen Bischof Rudolf Voderholzer, der sich bei einem Gottesdienst inzwischen öffentlich für das Geschehene entschuldigt hat Dass die Aufarbeitung zu spät kommt, das sieht auch Berthold Wahl so.
Am Montag hat sich das Kuratorium jetzt zum ersten Mal getroffen. Das zweieinhalbstündige Gespräch verlief konstruktiv, erklärt Rechtsanwalt Weber. Vom Tisch sind damit zumindest vorerst Befürchtungen das Kuratorium könnte platzen, weil die Vorstellungen von Opfern und Kirche zu weit auseinandergehen. Zwei weitere Gespräche sind bereits vereinbart und Weber will noch heuer seinen Abschlussbericht vorlegen.