Ordensschwester Rosemary Ukata sitzt in einem winzigen Büro in Ogoja, einer Kleinstadt im Süden Nigerias. Von außen dringt der Straßenlärm herein. Immer wieder kommt jemand, der ihren Rat braucht. Die 59-Jährige, die aus dem Bundesstaat Abia im Südosten des Landes stammt, bleibt gelassen und freundlich, aber auch bestimmt. Besonders viel Zeit nimmt sie sich für Helen. Die junge Frau kann häufig nur stumm nicken, da ihr immer wieder die Tränen kommen. Schwester Rosemary fast Helens Geschichte zusammen:
"Helen ist eines der Vergewaltigungsopfer. Um genau zu sein, war es Inzest. Wir haben sie kennengelernt, weil ein Nachbar besorgt war. Er ist zu uns ins Büro gekommen und hat erzählt, dass das Mädchen vom Vater missbraucht worden ist. Dadurch ist es schwanger geworden."
Sexueller Missbrauch und Inzest sind in Nigeria strafbar. Doch meistens kommt es nicht einmal zu einer Anzeige. Genau das will die Ordensschwester, die 1999 das "Zentrum für Frauenstudien und Einmischung" – kurz CWSI – gegründet hat, ändern. In einem aktuellen Fall steht beispielsweise gerade ein Mann vor Gericht, der eine Dreijährige vergewaltigt hat. CWSI übernimmt die Prozesskosten.
Auch im Fall von Helen gingen die Mitarbeiter zur Polizei. Doch die Antwort war ernüchternd:
Ein paar besorgte Leute
"Die Polizei hat uns gesagt, dass sie überhaupt kein Verfahren einleiten kann. Das Kind – Helen – gehört zum Vater, und es ist minderjährig. Der Vater habe schließlich keine Anzeige erstattet. Über uns hieß es: Wird sind nur ein paar besorgte Leute und Menschenrechtsaktivisten", erzählt Rosemary Ukata.
Auch Helen selbst, die heute Mutter eines fünfjährigen Sohnes ist, hat keine guten Erfahrungen mit staatlichen Stellen gemacht:
"Ich vertraue der Polizei nicht. Die lässt sich mit Geld bestechen und kümmert sich dann nicht mehr", sagt die heute 20-Jährige erlebt.
Mehrere Rechtsanwälte bestätigen das. Opfer sind deshalb auf nichtstaatliche Organisationen angewiesen. In Großstädten wie Abuja, Lagos und Port Harcourt gibt es mittlerweile ein paar, die sich explizit um Frauenrechte kümmern. In ländlichen Regionen ist das jedoch die Ausnahme. Dort gelten Missbrauch, Vergewaltigung und Inzest als Tabu und böses Omen. Deshalb verweigert auch Helens Mutter jeglichen Kontakt.
"Böses bleibt Böses"
Dass sich bis heute sowohl in der Gesellschaft als auch bei Behörden kaum etwas ändert, hat für Schwester Rosemary zwei Ursachen: Frauen sind in Nigeria wirtschaftlich wesentlich schlechter gestellt und können sich keinen Anwalt leisten. Außerdem haben viele höchstens die Grundschule besucht und kennen ihre Rechte nicht. Genau für diese setzt sich die Ordensfrau ein, betont aber:
"Ich würde mich nicht selbst als Feministin bezeichnen, da ich nicht ausschließlich für Frauen kämpfe. Ich kümmere mich um Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Da gibt es auch Männer, die unterdrückt werden. Auch bei solchen Fällen haben wir uns eingesetzt."
Dabei hilft die graue Tracht ihres Ordens "Dienerinnen des Heiligenkindes Jesu" – dieser wurde 1931 von einer irischen Ordensschwester in Nigeria gegründet – häufig enorm:
"Egal, wohin wir kommen. Die Menschen glauben an uns und unterstützen unsere Arbeit. Sie wissen, dass wir als katholische Ordensschwestern keine Familien ernähren müssen. Wir werden keine Häuser bauen und sind nicht auf der Suche nach Autos."
So viel Rückgrat wünscht sich die Ordensfrau aber auch von ihrer eigenen Kirche, in der es ebenfalls zu zahlreichen Missbrauchsfällen gekommen ist:
"Böses ist Böses, egal, wo, auf welcher Eben und von wem es kommt. Die Kirche gilt als Hoffnung der einfachen Leute. Für sie stellen wir das Gute dar. Wenn wir von dem abweichen, für das wir bekannt waren, ja was bis heute unser Kennzeichen ist, dann ist klar: Irgendetwas läuft falsch."
"Das ist Helen, die den Sohn ihres Vaters zur Welt gebracht hat"
Ihre Entscheidung für ein Leben als Ordensschwester hat Rosemary Ukata nie bereut. Die hat sie schon als Jugendliche getroffen, nachdem ihr Bruder sie auf die Idee gebracht hatte. Unter anderem schätzt sie daran, dass sie bereits in ganz Nigeria gearbeitet hat und ständig mit unterschiedlichen Menschen zusammen kommt. Auch wenn sie oft mit schweren Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wird, beobachtet Schwester Rosemary eine Entwicklung, über die sie sich freut: Frauen übernehmen zusehends mehr Aufgaben innerhalb der Kirche. In Nigeria seien sie längst zu deren Lebensader geworden. Auch im Gottesdienst werden sie immer sichtbarer.
"In der Vergangenheit war es noch so: Wenn außer einer Frau auch ein Priester, ein Diakon oder ein Seminarist die Kommunion verteilt hat, konnte man folgendes beobachten: Die Schlangen vor dem Priester und dem Diakon waren lang. Zu der Frau sind jedoch nur eine Handvoll Menschen gegangen. Doch diese Einstellung verblasst immer mehr."
Mehr Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit könnte schließlich dazu führen, dass sich ihre Stellung in der Gesellschaft künftig ändert und ihre Rechte mehr in den Vordergrund rücken. Bis dahin ist es jedoch noch ein langer Weg, was die aktuelle Situation von Helen zeigt. Schwester Rosemary Ukata:
"Sie hat ein dauerhaftes Stigma. Quasi jeder in der Stadt kennt sie: Ach Helen. Helen, die den Sohn ihres Vaters auf die Welt gebracht hat. Sie weint deshalb so viel, weil sie mit diesem Stigma leben muss. Deshalb ist mein Ziel, dass sie die Stadt verlässt. Das wird ihr sehr gut tun."