Silvia Engels: Seitdem Anfang des Jahres die ersten Fälle von sexuellem Missbrauch in katholischen Einrichtungen bekannt geworden sind, ist eine wahre Lawine in Gang gekommen. Immer neue Beispiele von sexueller Gewalt gegen Kinder in kirchlichen und schulischen Einrichtungen sind ans Licht gekommen. Die von der Bundesregierung eingesetzte Beauftragte, Christine Bergmann, spricht von 2500 Menschen, die sich bislang bei ihr gemeldet hätten. Heute zog sie Bilanz und sie startete zugleich eine neue Öffentlichkeitskampagne. Am Telefon ist nun Heinz Hilgers, er ist der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Guten Tag, Herr Hilgers.
Heinz Hilgers: Ja, guten Tag.
Engels: Wir haben es gerade gehört: Christine Bergmann spricht davon, 2500 Menschen hätten sich bislang bei ihrer Stelle gemeldet und viele seien ältere Menschen, die erst jetzt von ihren Erfahrungen als Kinder sprechen könnten. Wie ordnen Sie diese Zahlen ein?
Hilgers: Ja, danach ist ja auch gefragt worden. Es ist ja so, dass Frau Dr. Bergmann dankenswerterweise dieses Thema in den Mittelpunkt gestellt hat und natürlich Ansprechpartnerin auch war und ist für alle die, die vor Jahren und Jahrzehnten missbraucht worden sind. Dafür ist sie auch beauftragt worden und das macht sie auch sehr gut und richtig. Und die Erkenntnisse, die da jetzt zu Tage gefördert werden, die sind ja auch sehr aufklärend.
Richtig ist aber auch, dass es heute noch oder immer schon viele Beratungsstellen gibt, auch beim Deutschen Kinderschutzbund, die Kinderschutzzentren und die anderen Beratungsstellen, aber auch bei anderen Organisationen wie Zartbitter oder Wildwasser oder Dunkelziffer, um viele mal zu nennen, bei denen sich auch heute jeden Tag Kinder melden, die missbraucht werden, oder auch andere melden, die wissen, dass Kinder missbraucht werden, denen sich anvertraut wurde. Da ist die Situation so, dass das meistens in den Familien stattfindet, und unser Hauptthema ist natürlich, den Kindern zu helfen, die heute unter Missbrauch leiden.
Engels: Das heißt, wenn man jetzt den Rückschluss ziehen würde, dass so oder so Menschen, die missbraucht worden sind, Jahre brauchen, um über diese Erfahrung zu sprechen, wäre das in dem Fall nicht korrekt, sondern Sie sagen, da sei schon früher Sprechen möglich nach Ihren Erfahrungen?
Hilgers: Ja. Es ist so, dass das viele tun, aber es ist auch so, dass viele, ganz viele - und das hat Frau Dr. Bergmann zurecht festgestellt - viele Jahre brauchen, um dieses schreckliche Erlebnis überhaupt wieder hochkommen zu lassen. Viele haben es verdrängt auch. Unser Gehirn funktioniert ja so, dass es ganz schlimme Erlebnisse in eine ganz untere Schublade tut, um uns zu schützen auch. Irgendwann kommt das wieder hoch und eine Möglichkeit, dass das wieder hochkommt und verarbeitet werden kann, ist natürlich jetzt diese Debatte, und da leistet das, was Frau Bergmann jetzt mit ihrer Anlaufstelle und ihrer Beratungsstelle da macht, und mit dem, was sie vermittelt, eine wichtige Arbeit.
Engels: Christine Bergmann hat heute ja auch eine Kampagne gestartet, die das Ganze breiter fassen will. Nachdem das Ganze ja begann mit sexuellen Missbrauchsfällen, die eben in früheren Zeiten in Heimen oder Schulen bekannt wurden, soll nun breiter aufgeklärt werden, auch darauf hinweisend, dass sexueller Missbrauch vielfach auch in Familien auftritt. Ist das überfällig, oder sagen Sie, das ist doch schon eigentlich gut auch öffentlich bekannt?
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Hilgers: Nein, das ist immer wieder nötig und es ist auch nötig, jetzt dieses Thema des sexuellen Missbrauchs in Institutionen noch einmal anzugehen, weil das ja jetzt auch deutlich geworden ist. Deswegen begrüße ich das, dass sie eine solche Kampagne jetzt startet. Wir haben schon vor mehr als 25 Jahren als Deutscher Kinderschutzbund mit "Helfen statt Schweigen" eine solche Kampagne gestartet. Das hat damals noch viel Empörung in der Gesellschaft hervorgerufen, weil die Gesellschaft es nicht wahr haben wollte, dass Kinder missbraucht werden von Erwachsenen in den Familien, in den Institutionen, und da hat man sehr böse reagiert. Und es ist jetzt gut, dass das die Missbrauchsbeauftragte macht, und das ist auch ganz in unserem Sinne.
Engels: Gewisse Kritiker warnen allerdings auch davor, dass durch die Erweiterung des Themas Kindesmissbrauch auch auf die Bereiche Familie die möglichen Verantwortlichen in kirchlichen und schulischen Kreisen in den Hintergrund treten könnten. Sehen Sie die Gefahr?
Hilgers: Nein! Ich muss sehr deutlich sagen, man darf natürlich nicht den Hauptbereich des Missbrauchs, die eigene Familie, die gerade bei den immer wieder aktuellen Fällen, die uns bekannt werden, und wo wir ja auch viel Arbeit leisten mit unseren Kinderschutzzentren und Beratungsstellen, den darf man nicht in den Hintergrund drängen. Es ist so, dass heute jeden Tag Kinder in der eigenen Familie missbraucht werden, im Jahr vielleicht 80 bis 120.000, wenn man die Dunkelziffer mitrechnet - das ist so die Schätzung der Experten -, und mit Sicherheit weit über 30.000, weil das sind die Beratungsfälle, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Institutionen zu leisten haben. Das ist in den letzten Wochen und Monaten etwas in den Hintergrund gedrängt worden und es ist gut, dass das jetzt auch wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht.
Engels: Herr Hilgers, unabhängig von dieser Kampagne, die heute in Berlin gestartet wurde, haben wir ja auch in den letzten Wochen und Monaten von Fällen gehört, in denen Jugendliche und Kinder selbst andere Kinder auf Ferienfreizeiten sexuell misshandelt haben. Entwickelt sich da eine ganz neue Gewaltform?
Hilgers: Das sehe ich mit großer Betroffenheit. Sehen Sie, wir als Kinderschutzbund, wir vertreten natürlich die Auffassung, dass wir Kinder nicht nur vor der Gewalt schützen müssen, die sie erfahren, sondern auch vor der Gewalt, die sie ausüben, weil sie damit ihre ganze Zukunft aufs Spiel setzen und weil sie dieses nie mehr los werden. Deswegen ist es ganz wichtig, dass das Thema auch in den Mittelpunkt kommt. Ich denke, es ist vielleicht eine Veränderung eingetreten in diesen Gewaltformen, weil bestimmter Konsum elektronischer Medien - damit meine ich nicht unbedingt Funk und Fernsehen, sondern das, was man sich auf's Handy runterlädt an Gewaltformen, an Gewaltpornographie, das was man über den PC mitbekommt an Software und so weiter -, dass das natürlich auch eine falsche Vorbildfunktion für unsere Kinder und Jugendlichen ist. Deswegen appelliere ich an die Eltern: bitte mischen sie sich da ein, schauen sie sich an, was ihre Kinder da sich auf's Handy runterladen. Das ist kein Tabu- und das ist auch kein Geheimnisbruch, sondern es ist ihre Aufgabe, sich da einzumischen, und erlauben sie das auch den Lehrerinnen und Lehrern und den Erziehern.
Engels: Heinz Hilgers, der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Vielen Dank für das Gespräch heute Mittag.
Heinz Hilgers: Ja, guten Tag.
Engels: Wir haben es gerade gehört: Christine Bergmann spricht davon, 2500 Menschen hätten sich bislang bei ihrer Stelle gemeldet und viele seien ältere Menschen, die erst jetzt von ihren Erfahrungen als Kinder sprechen könnten. Wie ordnen Sie diese Zahlen ein?
Hilgers: Ja, danach ist ja auch gefragt worden. Es ist ja so, dass Frau Dr. Bergmann dankenswerterweise dieses Thema in den Mittelpunkt gestellt hat und natürlich Ansprechpartnerin auch war und ist für alle die, die vor Jahren und Jahrzehnten missbraucht worden sind. Dafür ist sie auch beauftragt worden und das macht sie auch sehr gut und richtig. Und die Erkenntnisse, die da jetzt zu Tage gefördert werden, die sind ja auch sehr aufklärend.
Richtig ist aber auch, dass es heute noch oder immer schon viele Beratungsstellen gibt, auch beim Deutschen Kinderschutzbund, die Kinderschutzzentren und die anderen Beratungsstellen, aber auch bei anderen Organisationen wie Zartbitter oder Wildwasser oder Dunkelziffer, um viele mal zu nennen, bei denen sich auch heute jeden Tag Kinder melden, die missbraucht werden, oder auch andere melden, die wissen, dass Kinder missbraucht werden, denen sich anvertraut wurde. Da ist die Situation so, dass das meistens in den Familien stattfindet, und unser Hauptthema ist natürlich, den Kindern zu helfen, die heute unter Missbrauch leiden.
Engels: Das heißt, wenn man jetzt den Rückschluss ziehen würde, dass so oder so Menschen, die missbraucht worden sind, Jahre brauchen, um über diese Erfahrung zu sprechen, wäre das in dem Fall nicht korrekt, sondern Sie sagen, da sei schon früher Sprechen möglich nach Ihren Erfahrungen?
Hilgers: Ja. Es ist so, dass das viele tun, aber es ist auch so, dass viele, ganz viele - und das hat Frau Dr. Bergmann zurecht festgestellt - viele Jahre brauchen, um dieses schreckliche Erlebnis überhaupt wieder hochkommen zu lassen. Viele haben es verdrängt auch. Unser Gehirn funktioniert ja so, dass es ganz schlimme Erlebnisse in eine ganz untere Schublade tut, um uns zu schützen auch. Irgendwann kommt das wieder hoch und eine Möglichkeit, dass das wieder hochkommt und verarbeitet werden kann, ist natürlich jetzt diese Debatte, und da leistet das, was Frau Bergmann jetzt mit ihrer Anlaufstelle und ihrer Beratungsstelle da macht, und mit dem, was sie vermittelt, eine wichtige Arbeit.
Engels: Christine Bergmann hat heute ja auch eine Kampagne gestartet, die das Ganze breiter fassen will. Nachdem das Ganze ja begann mit sexuellen Missbrauchsfällen, die eben in früheren Zeiten in Heimen oder Schulen bekannt wurden, soll nun breiter aufgeklärt werden, auch darauf hinweisend, dass sexueller Missbrauch vielfach auch in Familien auftritt. Ist das überfällig, oder sagen Sie, das ist doch schon eigentlich gut auch öffentlich bekannt?
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Hilgers: Nein, das ist immer wieder nötig und es ist auch nötig, jetzt dieses Thema des sexuellen Missbrauchs in Institutionen noch einmal anzugehen, weil das ja jetzt auch deutlich geworden ist. Deswegen begrüße ich das, dass sie eine solche Kampagne jetzt startet. Wir haben schon vor mehr als 25 Jahren als Deutscher Kinderschutzbund mit "Helfen statt Schweigen" eine solche Kampagne gestartet. Das hat damals noch viel Empörung in der Gesellschaft hervorgerufen, weil die Gesellschaft es nicht wahr haben wollte, dass Kinder missbraucht werden von Erwachsenen in den Familien, in den Institutionen, und da hat man sehr böse reagiert. Und es ist jetzt gut, dass das die Missbrauchsbeauftragte macht, und das ist auch ganz in unserem Sinne.
Engels: Gewisse Kritiker warnen allerdings auch davor, dass durch die Erweiterung des Themas Kindesmissbrauch auch auf die Bereiche Familie die möglichen Verantwortlichen in kirchlichen und schulischen Kreisen in den Hintergrund treten könnten. Sehen Sie die Gefahr?
Hilgers: Nein! Ich muss sehr deutlich sagen, man darf natürlich nicht den Hauptbereich des Missbrauchs, die eigene Familie, die gerade bei den immer wieder aktuellen Fällen, die uns bekannt werden, und wo wir ja auch viel Arbeit leisten mit unseren Kinderschutzzentren und Beratungsstellen, den darf man nicht in den Hintergrund drängen. Es ist so, dass heute jeden Tag Kinder in der eigenen Familie missbraucht werden, im Jahr vielleicht 80 bis 120.000, wenn man die Dunkelziffer mitrechnet - das ist so die Schätzung der Experten -, und mit Sicherheit weit über 30.000, weil das sind die Beratungsfälle, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Institutionen zu leisten haben. Das ist in den letzten Wochen und Monaten etwas in den Hintergrund gedrängt worden und es ist gut, dass das jetzt auch wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht.
Engels: Herr Hilgers, unabhängig von dieser Kampagne, die heute in Berlin gestartet wurde, haben wir ja auch in den letzten Wochen und Monaten von Fällen gehört, in denen Jugendliche und Kinder selbst andere Kinder auf Ferienfreizeiten sexuell misshandelt haben. Entwickelt sich da eine ganz neue Gewaltform?
Hilgers: Das sehe ich mit großer Betroffenheit. Sehen Sie, wir als Kinderschutzbund, wir vertreten natürlich die Auffassung, dass wir Kinder nicht nur vor der Gewalt schützen müssen, die sie erfahren, sondern auch vor der Gewalt, die sie ausüben, weil sie damit ihre ganze Zukunft aufs Spiel setzen und weil sie dieses nie mehr los werden. Deswegen ist es ganz wichtig, dass das Thema auch in den Mittelpunkt kommt. Ich denke, es ist vielleicht eine Veränderung eingetreten in diesen Gewaltformen, weil bestimmter Konsum elektronischer Medien - damit meine ich nicht unbedingt Funk und Fernsehen, sondern das, was man sich auf's Handy runterlädt an Gewaltformen, an Gewaltpornographie, das was man über den PC mitbekommt an Software und so weiter -, dass das natürlich auch eine falsche Vorbildfunktion für unsere Kinder und Jugendlichen ist. Deswegen appelliere ich an die Eltern: bitte mischen sie sich da ein, schauen sie sich an, was ihre Kinder da sich auf's Handy runterladen. Das ist kein Tabu- und das ist auch kein Geheimnisbruch, sondern es ist ihre Aufgabe, sich da einzumischen, und erlauben sie das auch den Lehrerinnen und Lehrern und den Erziehern.
Engels: Heinz Hilgers, der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Vielen Dank für das Gespräch heute Mittag.