Agnes Wich hat lange geschwiegen. Seit einigen Jahren spricht sie über darüber, was ihr, als sie ein Kind war, ein römisch-katholischen Priester angetan hat. Sie engagierte sich in einem Münchner Kunstprojekt gegen sexuelle Gewalt; der Bayerische Rundfunk porträtierte sie, in der Talk-Runde von Anne Will diskutierte sie im Februar 2019 über den Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan. Agnes Wich ist Sozialpädagogin und Traumatherapeutin. Als Expertin und als Betroffene ist sie eine wichtige Stimme in der Missbrauchsdebatte.
Kürzlich suchte das Erzbistum München und Freising Mitglieder für den Betroffenenbeirat. Agnes Wich erzählt:
"Ich wurde vorab gefragt, ob ich in so einem Beirat mitarbeiten würden. Ich sagte: Ja sicherlich, würde ich schon machen. Dann habe ich nichts mehr gehört. Circa Mitte Dezember kam ein Aufruf der Erzdiözese, eine Ausschreibung für einen Betroffenenbeirat, der zu gründen sei, mit einer Ausschreibefrist bis Ende Januar. Ich wurde dann noch mal persönlich angefragt, ob ich mich denn bewerben würde und habe dann auch zugesagt. So bin ich dann irgendwann in diesen Betroffenenbeirat hineingekommen nach einem sogenannten Bewerbungsgespräch im Februar."
Eine Art Casting
Mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Johannes Wilhelm Rörig hat die Deutsche Bischofskonferenz vereinbart, in den Diözesen einen Betroffenenbeirat und eine Aufarbeitungskommission einzurichten. So auch in München, dem Hoheitsbereich des früheren Bischofskonferenz-Vorsitzenden Reinhard Marx.
Insgesamt hätten sieben Personen Interesse an einer Mitwirkung im Betroffenenbeirat bekundet, teilt das Erzbistum auf Deutschlandfunk-Anfrage mit: eine Frau und sechs Männer. Das Procedere ähnelt einem Casting: Die Betroffenen reichen Bewerbungsunterlagen ein und präsentieren sich einem Auswahlgremium. Das stellt eine Besetzungsliste zusammen. Ohne den Erzbischof geht gar nichts, er beruft die Auserwählten. Die Namen der Beirats-Mitglieder würden auf "ausdrücklichen Wunsch" der Betroffenen nicht an die Medien weitergegeben, so die Pressestelle.
In den Beirat wurden vier Männer und eine Frau berufen. Dieses eine weibliche Mitglied ist – Agnes Wich. Besser gesagt: Sie war es.
Ende April – nach zwei Sitzungen - hat sie den Beirat verlassen.
Sie erhebt Vorwürfe: "Weil ich als einzige Frau nicht gehört wurde, weil ich den Eindruck bekommen hatte, ich werde nicht ernst genommen mit meinen Belangen, mit den Belangen weiblicher Missbrauchs-Betroffener."
Großes Bedauern
Generalvikar und Amtschefin schrieben ihr sofort einen Brief, in dem mehrfach das Wort "Bedauern" zu lesen ist. Bisher handhabte das Erzbistum München den Vorgang diskret. Auf Dlf-Anfrage erklärt ein Pressesprecher:
"Ein Mitglied des Betroffenenbeirats ist auf eigenen Wunsch aus dem Gremium ausgeschieden. Die Erzdiözese respektiert diese Entscheidung, bittet aber um Verständnis, dass sie dies nicht kommentiert."
Agnes Wich ist so frei - und kommentiert:
"Ich habe diese vier Männer wirklich als deutlichen Block erlebt mir gegenüber."
Das Erzbistum München hat unterhalb der Bischofsebene eine Art Doppelspitze: einen Generalvikar, also einen Kleriker, uns als weibliches Pendant eine Amtschefin, qua Geschlecht ungeweiht. Eine Frauenförderungsmaßnahme. Im Brief des Generalvikars und der Amtschefin an Agnes Wich heißt es, man habe sich bemüht, Frauen wie Männer gleichermaßen für den Betroffenenbeirat anzusprechen, müsse aber akzeptieren, dass sich weniger weibliche Betroffene gemeldet hätten.
Wich: "Ein gewisser Verführungscharakter wird unterstellt"
Der Betroffenenbeirat entsendet zwei Mitglieder in die Aufarbeitungskommission. Agnes Wich hätte sich wenigstens hier Geschlechterparität gewünscht, doch die einzige Frau gehörte nicht zu den Entsandten. Für diese Wahl sei der Betroffenenbeirat selbst verantwortlich, erklärt das Erzbistum. Agnes Wich sieht dagegen eine strukturelle Benachteiligung:
"Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Frauen immer wieder ein gewisser Verführungs-Charakter unterstellt wird, ein Aspekt der Erotik. Und dann sage ich: Ich war neun Jahre. Was soll das denn? Das ist so ein Bild, was sich durchgängig immer wieder finden lässt, also eine Rollenzuschreibung: Wenn ein katholischer Kleriker ein Kind oder eine Frau missbraucht, dann müsse das doch irgendwas mit einer Verführung oder mit einer gewissen Erotik zu tun haben. Und ich glaube, es ist etwas sehr stark Schambesetztes, was Frauen immer noch hindert, deutlich damit nach außen zu treten und was es doppelt erschwert zu zeigen, dass nichts von dem zutrifft."
Im "Männerblock", wie Wich es nennt, saß auch ein geweihter Mann. Agnes Wich schildert ihre Bedenken:
"Was ich als schwierig erlebt hatte im Betroffenenbeirat war, dass da ein katholischer Priester als Betroffene saß und ich auch nie gefragt wurde, wie ich denn damit klarkommen würde. Also, ich hätte es gut angemessen gefunden, wenn ich vorher gefragt worden wäre. Wie ist es für mich als Betroffene?"
Mertes: "Da bleibt ein Loyalitätskonflikt"
Der Jesuit Klaus Mertes machte 2010 als Rektor des Berliner Canisius-Kollegs das Thema Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen mit einem Schlag öffentlich. Er ist selbst Priester und kann – ohne die konkrete Person zu kennen – Agnes Wichs Kritik nachvollziehen. Sowohl die von einem Geistlichen missbrauchte Frau als auch der Priester gerieten in einen inneren Konflikt.
Mertes fragt: "Wie ist es möglich, dass in Betroffenenbeiräten Personen sitzen, die in einem Angestellten- , das heißt wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche sind, die ihr Arbeitgeber ist? Es steigert sich noch einmal mehr, wenn Priester darin sitzen. Ich bestreite ja nicht, dass Priester auch Missbrauchsopfer sein können. Aber trotzdem bleibt ja der Loyalitätskonflikt."
Mertes hat gerade ein Buch veröffentlicht über Aufarbeitung und die Rolle der Betroffenen. "Den Kreislauf des Scheiterns durchbrechen" heißt es. Damit der Kreislauf durchbrochen werden kann, muss sich der Kreis erst mal schließen. Und das könnte zynischerweise bedeuten: Erst wenn alle 27 römisch-katholischen Bistümer und die evangelische Kirche gescheitert sind, wird eine von den Kirchen unabhängige Aufarbeitung wahrscheinlich.
Der Bischof und die "Aktivisten"
Gescheitert ist schon einiges: Im Erzbistum Köln verließen mehrere Mitglieder den Betroffenenbeirat, sie fühlten sich instrumentalisiert im Gutachten-Kampf. Der Betroffenenbeirat der Evangelischen Kirche wurde Anfang Mai – hier gehen die Deutungen auseinander - aufgelöst, sagen ehemaligen Mitglieder. "Ausgesetzt", nennt es die EKD. Die Institutionen führen oft "interne Konflikte" unter den Betroffenen als Grund an. Da schwingt der infame Vorwurf mit, traumatisierte Menschen seien nun mal schwierig. Dabei machen es die diktierten Bedingungen den Betroffenen schwer.
Stephan Ackermann, Bischof von Trier und Missbrauchsbeauftragter der Bischofskonferenz, ließ auf dem Ökumenischen Kirchentag durchblicken, welche Betroffene ins Castingprofil nicht so gut reinpassen:
"Wenn ein Beirat mehrheitlich besetzt wäre durch Aktivisten, wo man sagt: Wir bleiben immer nur im klaren Gegenüber zur Kirche, wir werden kompromisslos die Fehler aufdecken und wir werden zu keiner Kooperation bereit sein, sondern unsere Rolle ist, aufzudecken und immer den Finger in die Wunden zu legen. Die Menschen, die ihre Bereitschaft bekunden, denen muss man klar machen: Was ist das Mandat eines solchen Beirates und auf was lassen sie sich da ein?"
Stephan Ackermann entschuldigte sich für den "Aktivisten-Satz", aber der Gedanke von den lieben und den bösen Betroffenen bleibt in der Welt.
Agnes Wich stellt klar: "Das ist doch der Job der Aktivisten. Klar, deutlich, unmissverständlich zu sprechen und zu sagen: Hier geht es lang, das ist der Weg der Aufarbeitung."
"Wir haben vertuscht, Täter geschützt, gelogen. Punkt"
Auch für Klaus Mertes hallt der Aktivisten-Satz nach:
"Damit unterscheidet er zwischen solchen Betroffenen, die er in dem Beirat haben möchten und solchen, die er nicht haben möchte. Und damit zeigt sich genau das Problem, weil der Bischof eben entscheidet, wen er drin haben möchte und wen nicht."
Agnes Wich wünscht sich wie Klaus Mertes eine von der Kirche unabhängige Betroffenenarbeit. Und sie hat einen weiteren Vorschlag:
"Wenn die Herren Bischöfe und die Kleriker einfach dazu bereit wären zu sagen: Wir haben vertuscht, wir haben die Täter geschützt, wir haben gelogen. Punkt. Und sie ziehen die Konsequenzen aus diesem Verhalten. Dann könnte man sich die ganzen unglaublichen Aktionen sparen."
Eine unglaublich große Aktion im Erzbistum München ist die Veröffentlichung eines Gutachtens der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl. Das Werk sollte in diesem Sommer erscheinen, so hatte Reinhard Marx im März noch öffentlich gesagt. Auf Nachfrage des Deutschlandfunks will sich das Erzbistum nun nicht mehr festlegen.
"Das Gutachten soll nach Fertigstellung in diesem Jahr veröffentlicht werden und wird dann natürlich auch dem Betroffenenbeirat zur Verfügung stehen."
Von Sommer keine Spur mehr. Beiläufig wird im Zuge der Beiratsrecherche klar: Auch das Münchner Gutachten dauert länger.