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Missbrauchsbeauftrager der Regierung
Rörig: "Müssen endlich weg von diesen riesen Fallzahlen"

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, ruft dazu auf, den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauchs als nationale Aufgabe zu verstehen. Das Thema müsse auch viel stärker in den Programmen der politischen Parteien Erwähnung finden, sagte Rörig im Dlf.

Johannes-Wilhelm Rörig im Gespräch mit Christiane Kaess |
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Roerig Foto, lobte die Fortschritte der Evangelische Kirche in Deutschland
Johannes-Wilhelm Roerig: Katholische und Evangelische Kirche sind aber heute im Jahr 2020 noch immer in der Anfangsphase der Aufarbeitung (imago / Heike Lyding)
Zehn Jahre ist es her. Am 28. Januar 2010 wurde der Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg unter der Trägerschaft des Jesuitenordens öffentlich. Nachdem zuvor einige wenige Betroffene ihre Geschichte dem damaligen Schulleiter Klaus Mertes erzählt hatten, fragte der bei anderen ehemaligen Schülern nach, und es kam ans Licht, was jahrzehntelang verschwiegen worden war: der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Geistliche. Der Skandal zog große Kreise. Überall meldeten sich plötzlich Betroffene zu Wort. Nicht nur innerhalb der Kirche war man erschüttert, sondern in der ganzen Gesellschaft. Seither ist einiges passiert, aber zu wenig, sagen die Kritiker. Bischof Stephan Ackermann wurde Missbrauchsbeauftragter der Kirche. Die Bundesregierung richtete einen Runden Tisch ein und eine unabhängige Kommission, und sie benannte einen unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Johannes-Wilhelm Rörig ist jetzt am Telefon.
Christiane Kaess: Zehn Jahre Zeit zur Aufarbeitung und bis jetzt gibt es keine wissenschaftliche Bewertung der Fälle am Canisius-Kolleg, wo der Stein ins Rollen gekommen ist. Wie kann das sein?
Katholische Kirche - Zehn Jahre Missbrauchsskandal
Am 28. Januar 2010 wurden die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg erstmals in der Öffentlichkeit publik. Daraus entwickelte sich der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Was genau ist geschehen und welche Folgen hatte er? Ein Überblick.
Johannes-Wilhelm Rörig: Na ja. Es ist tatsächlich so, dass die Katholische Kirche, aber auch die Evangelische Kirche heute im Jahr 2020 noch immer in der Anfangsphase der Aufarbeitung ist und noch lange nicht am Ziel. Und auch gerade im Bereich der katholischen Orden steht Aufarbeitung jetzt dringend auf der Tagesordnung. Da ist tatsächlich wenig unternommen worden in der letzten Zeit. Aber im Bereich der Diözesen, im Bereich der Bischofskonferenz sehe ich doch jetzt ein gesteigertes Tempo pro Aufarbeitung.
Kaess: Herr Rörig, der Vorwurf der Kritiker an die Katholische Kirche ist ja relativ klar. Man sagt da, es werden nur Akten bisher untersucht, die die Bistümer herausgegeben haben. Die Kirche handelt immer nur auf Druck und die Täter wurden auch zum Teil nach 2010 nicht der Staatsanwaltschaft gemeldet. Warum ist der Staat gegenüber der Kirche, die sich in einem so großen Ausmaß schuldig gemacht hat, so zaghaft?
Rörig: Na ja. Es gibt eine klare Regelung zwischen Kirche und Staat, im Konkordat klar geregelt, und jetzt muss die Kirche zusehen, wie sie Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnt, und das geht nur durch eine wirklich umfassende Aufklärung und Aufarbeitung dieser scheußlichen Sexualverbrechen durch katholische Geistliche. Mit Bischof Ackermann haben wir im letzten Jahr sehr intensiv an einer gemeinsamen Erklärung gearbeitet, die die Einrichtung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen in den einzelnen Diözesen vorsieht, mit einer verbindlichen Betroffenen-Beteiligung und auch mit Zugangsrechten zu Informationen, Akten und Archiven, und ich hoffe, dass dem Bischof Ackermann es jetzt gelingt, seine Mitbrüder davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg ist. Ansonsten sehe ich große Probleme für die Katholische Kirche.
"Wir haben einmal keine Anzeigepflicht"
Kaess: Aber, Herr Rörig, hätte sich der Staat nicht schon längst mal den Zugang zu den Akten erzwingen können? Denn die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland sind ja verpflichtet zu ermitteln, wenn ein Verdacht auf eine Straftat besteht.
Rörig: Wir haben einmal keine Anzeigepflicht. Aber die Katholische Kirche hat klar in einer Ordnung zum Umgang mit sexuellem Missbrauch geregelt, dass alle Fälle, die jetzt bekannt werden, der Staatsanwaltschaft gemeldet werden. Und auch nach Bekanntgabe der MAG-Studie vom Herbst 2018 hat eine Kooperation mit den jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften stattgefunden.
Kaess: Da verweist aber der Sprecher des sogenannten Eckigen Tisches, der Initiative der Missbrauchsopfer, Matthias Katsch, noch mal darauf, dass weder strafrechtlich, noch kirchenrechtlich bisher ein Vorgesetzter verurteilt worden ist, der vertuscht oder verheimlicht hat. Müsste das nicht nach diesem Skandal ganz anders sein?
Rörig: Jetzt geht es darum, dass in den Diözesen durch die Aufarbeitung tatsächlich herausgefunden wird – und das ist der entscheidende Punkt -, wer hat vertuscht, wer hat Aufdeckung dieser scheußlichen Taten verhindert und wer hat Tätern geholfen als Mitwisser, dass das nicht angezeigt wurde, und wer hat vor allen Dingen die Verantwortung dafür, dass Sexualstraftäter versetzt wurden an andere katholische Orte, wo sie ihr Unwesen weitertreiben konnten.
Kaess: Aber wie gesagt, die Aufdeckung des Skandals ist zehn Jahre her. Lassen Sie mich da noch einmal nachhaken. Hätte der Staat da einfach härter durchgreifen müssen?
Rörig: Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, wegen Missbrauch zu ermitteln, so wie sie Kenntnis hat, und es gibt kein Kirchenprivileg, bezogen auf sexuellen Missbrauch. Die Staatsanwaltschaften sind verpflichtet, dann, wenn sie Kenntnis haben – das ist das Legalitätsprinzip -, zu ermitteln.
Kaess: Sagen Sie mir noch Ihre Einschätzung. Waren die da zu zaghaft? Denn wie gesagt, ich habe es gerade noch mal gesagt: Es gab kein Urteil.
Rörig: Es gab auch schon Urteile. Aber vielleicht hätte die Katholische Kirche (und dann hätte sie heute auch nicht dieses große Glaubwürdigkeits- und Vertrauensproblem) die Fälle natürlich immer der Staatsanwaltschaft anzeigen müssen.
"Wir müssen endlich weg von diesen riesen Fallzahlen"
Kaess: Gehen wir über die Katholische Kirche hinaus. Die großen Missbrauchsskandale in der letzten Zeit, die aufgedeckt wurden, waren zum Beispiel der Fall Lügde oder Bergisch Gladbach, wo Täter jahrelang in mehreren hundert Fällen Kinder missbraucht haben und Bilder davon ins Internet gestellt haben. Warum ist Missbrauch in diesem Ausmaß überhaupt möglich?
Rörig: Weil tatsächlich bisher alle Anstrengungen, die auch seit 2010 unternommen wurden von Bund, Ländern und Zivilgesellschaft, nicht ausgereicht haben, dieses unerträgliche Leid für viele tausend Kinder zu verhindern. Und es ist ganz, ganz wichtig, dass wir in Deutschland den Kampf gegen Missbrauch als nationale Aufgabe verstehen. Wir müssen endlich weg von diesen riesen Fallzahlen. Wir haben 20.000 Ermittlungs- und Strafverfahren allein wegen sexuellem Kindesmissbrauch und sogenannter Kinderpornographie, und wir wissen, dass viele Taten gar nicht angezeigt werden und im Dunkeln bleiben. Da muss jetzt politisch eine ganz neue Dimension betreten werden und es ist eine nationale Aufgabe, und ich fordere für Deutschland einen Pakt gegen sexuellen Missbrauch, an dem sich alle, die dazu beitragen können, beteiligen müssen.
Kaess: Wie sollte dieser Pakt genau aussehen?
Rörig: Da müssen sich alle verpflichten, die Verantwortung tragen, sowohl für den Bereich in den Einrichtungen, Schulen, Kitas, Kirchengemeinden beispielsweise, oder auch in Sportvereinen und Kliniken, dass diese Orte keine Tatorte werden. Aber insbesondere müssen diese Orte Schutzorte sein, wo die vielen, vielen tausend Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt in ihren eigenen Familien oder im sozialen Nahfeld erleiden oder sexuelles Mobbing erleiden, dass die dort Wege zur Hilfe aufgezeigt bekommen und dort Unterstützung bekommen.
Ich sage Ihnen: Mich treibt als Missbrauchsbeauftragten wirklich im Moment um, mit welcher inakzeptablen Gelassenheit und auch welchem unerträglichen Schweigen Politik, Zivilgesellschaft und Bevölkerung auf die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche reagiert.
Kaess: Das war ja damals bei der Kirche anders. Wie erklären Sie sich denn das?
Rörig: Damals war, glaube ich, der große Schreck, dass in einer Institution, die so hohe moralische Anforderungen stellt, wie die Katholische Kirche, solche scheußlichen Sexualverbrechen begangen werden. Ich glaube, viele denken, dass dieser Abgrund unserer Gesellschaft – und ich finde, sexuelle Gewalt ist ein Abgrund unserer Gesellschaft -, dass diese Sexualstraftaten sowieso niemals verhindert werden können, und deswegen wird so relaxed reagiert.
"Wir brauchen starke Jugendämter"
Kaess: Jetzt haben Sie gesagt, es muss ein Bekenntnis der entsprechenden Einrichtungen zum Schutz dieser Kinder geben. Das ist die eine Seite. Aber sind denn auch die Ermittlungen in diesen letzten Jahren vorangekommen? Sind die Ermittler heutzutage erfolgreicher als früher?
Rörig: Sie müssen noch viel erfolgreicher werden, und es sind ja nicht nur die Ermittler, sondern wir brauchen starke Jugendämter, starke Fachberatungsstellen und natürlich auch starke Ermittlungsbehörden. Ich sehe hier auch die politischen Parteien in der Pflicht. Wenn Sie mal in die Parteiprogramme schauen, ist das Thema Bekämpfung von sexuellem Missbrauch dort entweder gar kein Thema, oder es wird nur ganz allgemein als Thema des Kinderschutzes gesehen. Wir brauchen eine starke Programmatik aller Parteien, so dass es dann auch zu konsequentem Regierungshandeln kommt. Im Moment schwächeln die Koalitionsvereinbarungen in Bund und Ländern doch enorm. Ich suche den Kontakt im Moment zu allen Geschäftsführern der Bundesparteien und Generalsekretären, um hier darüber zu sprechen, wie die Parteiprogrammatik zu unserem Themenfeld gestärkt werden kann.
Kaess: Aber auch die Parteiprogramme – das wäre ja nur wieder eine Festlegung in einem Parteiprogramm. Was wünschen Sie sich denn in der konkreten Umsetzung? Es hat ja zum Beispiel vor kurzem der Bundestag beschlossen, dass das sogenannte Cybergrooming, das Anbahnen von sexuellem Kontakt im Internet, künftig als Straftat verfolgt wird. Ist das ein wichtiger Schritt, oder ist das auch immer noch zu wenig?
Rörig: Das war ein sehr wichtiger Schritt zur Stärkung der verdeckten Ermittlung – übrigens ohne Unterstützung von Grünen, FDP und Linken. Aber die Ermittlungsinstrumente müssen insgesamt weiter geschärft werden. Wir brauchen – ich wiederhole das immer wieder – eine EU-rechtskonforme Vorratsdatenspeicherung in Deutschland, um die Spur zu den Tätern und Täterinnen nicht zu verlieren, und wir brauchen ganz dringend gesetzliche Meldepflichten zu Missbrauchsabbildungen im Netz. Und ich erwarte jetzt, dass ein gesellschaftlicher Diskurs zum Verhältnis von Datenschutz und Kinderschutz geführt wird. Ich finde, Datenschutz darf nicht über Kinderschutz stehen, und Missbrauchsabbildungen, sogenannte Kinderpornographie darf doch nicht weiterhin Bestseller im Internet bleiben. Wir müssen dazu kommen, dass Täter und Täterinnen sich in Deutschland viel stärker vor Entdeckung fürchten müssen, sowohl im Netz als auch in ihrem sozialen Umfeld.
Kaess: Reichen dazu die Stellen, die für Ermittlungen im Moment vorgesehen sind?
Rörig: Überhaupt nicht! Es ist dringend erforderlich, dass sowohl eine personelle als auch eine technische Aufrüstung stattfindet, und zwar bitte nicht nur in den Ländern, in denen einzelne Fälle wie Lügde oder Staufen zum Skandal geworden sind, sondern in allen Bundesländern ist das dringend erforderlich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.