Benedikt Schulz: Und wir bleiben beim Thema, das natürlich nicht auf das Bistum Regensburg beschränkt ist. Auch in anderen katholischen Einreichungen kam es zu Missbrauchsfällen, gepaart mit einigem Unwillen zur Aufklärung. 2011 hatte die Deutsche Bischofskonferenz beschlossen, die Missbrauchsfälle aufklären zu lassen durch das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen beziehungsweise durch dessen damaligen Leiter Christian Pfeiffer. Das Projekt ist gescheitert bekanntermaßen, die Bischöfe hatten die Zusammenarbeit mit Pfeiffer aufgekündigt Anfang 2013, und über die Gründe dafür gibt es unterschiedliche Ansichten, vorsichtig ausgedrückt. Der Kriminologe Pfeiffer erklärte unter anderem, dass die Kirche den ausgehandelten Vertrag habe nachträglich ändern wollen und sich das Recht vorbehalten, die Veröffentlichung von Texten zu verbieten. Die Deutsche Bischofskonferenz hat vor einiger Zeit schon eine neue Studie in Auftrag gegeben, und ein Forschungskonsortium soll diesmal die Missbrauchsgeschichte aufklären. Koordinator des Konsortiums ist der forensische Psychiater Harald Dreßing, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Dreßing!
Harald Dreßing: Guten Morgen!
Schulz: Herr Dreßing, Ihr Forschungsvorhaben wurde vor Kurzem noch verlängert, und zwar um neun Monate bis September 2018. Das heißt also, dass die Zusammenarbeit mit der Deutschen Bischofskonferenz in Ihrem Fall reibungslos verläuft?
Dreßing: In der Tat können wir diesbezüglich nicht klagen. Die Daten, die wir aus den Diözesen anfordern, und das sind gewaltige Datenmengen, die wir anfordern, gewaltige Erhebungen, die wir durchführen, die bekommen wir bisher.
Schulz: Ihr Quasi-Vorgänger, Herr Pfeiffer, hatte ja damals schwere Vorwürfe erhoben gegen die Deutsche Bischofskonferenz. Haben Sie denn die Zusicherung, dass Sie Ihre Ergebnisse ganz unabhängig veröffentlichen dürfen?
Dreßing: Wir haben nicht nur die Zusicherung, sondern das war eine Grundbedingung, dass wir dieses Projekt überhaupt begonnen haben. Wir sind alle renommierte Wissenschaftler, und wir würden kein Projekt eingehen, bei dem wir nicht alles das publizieren können, was wir letztendlich auch erforschen. Und das ist eine ganz klare vertragliche Formulierung, dass wir alles publizieren werden, was aus unserer Sicht wissenschaftlich bedeutsam ist.
"Alle 27 Diözesen haben sich vertraglich zur Mitarbeit verpflichtet"
Schulz: Und warum klappt das jetzt bei Ihnen, und warum gab es damals diese Zusicherung nicht beziehungsweise wurde diese Zusicherung zurückgezogen?
Dreßing: Ich kann Ihnen über das Projekt mit Christian Pfeiffer, der ja auch ein renommierter Kriminologe ist, nichts Näheres sagen. Wir haben da sicherlich auch etwas den Vorzug, dass das Terrain vielleicht schon etwas bereitet war und dass manche Fehler oder Unausgesprochenheiten von vornherein vertraglich auch von uns adressiert wurden. Wir haben zum Beispiel einen Vertrag mit dem Verband der Diözesen Deutschlands und mit allen 27 Diözesen, das heißt, alle 27 Diözesen haben sich vertraglich auch zur Mitarbeit verpflichtet. Das ist ein Unterschied vielleicht zum Vorgängerprojekt, und möglicherweise profitieren wir da auch von dem Vorgängerprojekt insoweit, dass Schwierigkeiten, die da erkennbar waren, beim zweiten Anlauf vermieden worden sind.
Schulz: Haben Sie in den Bistümern auch Zugriff auf die Geheimarchive, die es ja in jedem Bistum geben muss auch laut Kirchenrecht?
Dreßing: Absolut. Wir werden – also ein Teilprojekt unseres großen Forschungsprojekts – es ist ja ein mehrdimensionales Forschungsprojekt, das unterschiedliche Quellen nutzt - aber ein Teilprojekt befasst sich mit den Personalakten, aber auch mit allen Dokumenten in den Geheimarchiven. Und es gibt in vielen Diözesen auch sogenannte Handaktensammlungen, in denen Fälle des sexuellen Missbrauchs schon auch separat analysiert wurden. Wir sind ja in einem Stadium eingestiegen, in dem die Akten sicherlich nicht mehr jungfräulich gewesen sind, sondern in einem Stadium, wo sicherlich viele Diözesen auch schon geguckt haben, was bei ihnen denn so alles vorgekommen ist und was in den Akten steht.
"Akten sind immer nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit"
Schulz: Die Frage ist natürlich, inwieweit diese Akten maßgeblich sind. Es gibt ja den etwas kuriosen, nenne ich das jetzt mal, Passus im Kirchenrecht, dass Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren, wo die Angeklagten verstorben sind, zu vernichten sind. Ist das denn überhaupt klar, dass die Akten überhaupt noch existieren, dass relevante Akten überhaupt noch vorhanden sind?
Dreßing: Lassen Sie mich vielleicht kurz ausholen zu dem Thema. Die Personalaktenanalyse ist, wie bereits erwähnt, ein Teil des Erkenntnisinteresses bei uns. Akten sind immer nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit. Das ist natürlich auch bei den kirchlichen Personalakten so. Um Ihnen ein Bild zu sagen: Wir können mit Aktenanalysen, das sind Hellfeld-Studien, immer nur die Spitze des Eisberges sozusagen analysieren, die über der Meeresoberfläche liegt. Und bekanntermaßen ist das Wesentliche ja unterhalb der Meeresoberfläche. Deshalb nutzen wir in unserem mehrdimensionalen Forschungsansatz auch andere Erkenntnisquellen. Wir haben eine anonyme Onlinebefragung geschaltet für Betroffene, die sich melden können, die vielleicht noch nie über sexuelle Missbrauchsvorkommnisse berichtet haben, da eine Möglichkeit haben, ein Forum haben, das zu berichten. Wir machen Interviews mit Betroffenen, die teilweise sich auch noch nie an die Kirche oder an andere Institutionen gewendet haben. Und wir nutzen auch noch eine andere Hellfeld-Quelle, nämlich die Strafrechtsakten, die gar nicht im Zugriff der Kirche stehen. Die Akten bekommen wir von den Staatsanwaltschaften und können dann sozusagen auch die Güte der Informationen aus den kirchlichen Personalakten abgleichen mit Informationen aus den Strafrechtsakten. Deshalb haben wir auch ein interdisziplinäres Forschungskonsortium, das ist vielleicht auch ein Unterschied zum Vorgängerprojekt. Wir haben Kriminologen, das ist Professor Dölling, Frau Professor Bannenberg. Wir haben Soziologen, Professor Salize, Professor Hermann, und wir haben Psychologen, Professor Kruse und Professor Schmitt. Und ich selbst bin ja die medizinisch-psychotherapeutische Kompetenz als Psychiater in diesem Konsortium.
Schulz: Wenn Sie demnächst dann Ergebnisse veröffentlichen können, dann sind Sie ja schnell auch bei Verantwortlichkeiten, möglicherweise auch schon bei Namen von höheren Amtsträgern. Sind Sie denn völlig frei darin, diese Namen dann auch öffentlich bekannt zu geben, oder werden die Vorveröffentlichungen geschwärzt?
Dreßing: Das ist sicherlich ein Missverständnis unseres Forschungsansatzes. Das unterscheidet es zum Beispiel auch, was bei den Regensburger Domspatzen oder in Ettal oder an sonstigen Institutionen durchgeführt wurde: Wir untersuchen aggregierte wissenschaftliche Daten. Die sind alle anonymisiert. Wir können das nicht auf Personen zurückführen, und das ist auch nicht unser Interesse. Solche wichtige Untersuchungen wie jetzt bei den Regensburger Domspatzen, das ist, wenn ich mal einen Vergleich benutzen darf, das ist, wie wenn im Fußball Doping untersucht wird. Man untersucht einen Verein, da kann ich alle Akten und Vorkommnisse und Spieler und Verantwortliche befragen. Wir untersuchen den gesamten deutschen Fußballbund sozusagen, um im Vergleich zu bleiben, und das mit anonymisierten und aggregierten Daten.
Schulz: Aber man braucht doch trotzdem Verantwortlichkeiten am Ende einer solchen Untersuchung, oder nicht?
Dreßing: Verantwortlichkeiten nicht personenbezogen, sondern unser Interesse ist es eher, herauszufinden, gibt es besondere Strukturen und Dynamiken, die für die katholische Kirche spezifisch sind, die sexuellen Missbrauch in dieser Institution begünstigt haben, der doch, so zeigen das ja viele andere internationale empirische Studien, in großem Maße vorgekommen ist.
Ergebnisse im September 2018
Schulz: Letzte Frage, kurze Antwort, wenn es geht: Auf dem Höhepunkt der Debatte, um 2010 herum, war das öffentliche Interesse gewaltig. Es scheint inzwischen ein bisschen nachgelassen zu haben. Haben Sie auch diesen Eindruck, und wenn ja, woran liegt das?
Dreßing: Das müssen Sie Ihre Journalistenkollegen vielleicht fragen. Das sind immer solche Ereignisse wie heute, Vorstellung des Berichtes von Dr. Weber, die das Interesse wieder erwecken. Aber ich denke, wenn wir im September 2018 unsere wirklich komplexen und vielfältigen Ergebnisse publizieren werden, das wird auf großes Interesse in der Öffentlichkeit, bei den Betroffenen, aber auch, so hoffen wir zumindest, bei Verantwortlichen in der katholischen Kirche führen.
Schulz: Harald Dreßing über den Stand der Aufklärung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Er leitet den Forschungsverbund, der von der Deutschen Bischofskonferenz mit dieser Aufklärung beauftragt wurde. Herr Dreßing, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit heute Morgen!
Dreßing: Gern!
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