Für den Literaturtheoretiker Gérard Genette waren Autoreninterviews ein vernachlässigbares Format. Es gäbe, schreibt er in seinem Buch "Paratexte", ein Set an vorhersehbaren Fragen; vor allem müsse der Autor oder die Autorin immer wieder Auskunft darüber geben, ob er oder sie das Geschriebene wirklich erlebt habe. Die Antworten seien laut Genette genauso standardisiert, sprich: langweilig. Jeder und jede spiele bei diesem medial aufgebauschten Spiel mit, der Erkenntnisgewinn aber gehe gegen null.
Das autobiografische Schreiben und die Autofiktion haben diesen Status Quo in den letzten Jahren ordentlich aufgemischt. Die populäre Bresche schlug hierzulande Karl Ove Knausgård mit seiner "Min-kamp"-Reihe, es folgten französische Autoren und Autorinnen, darunter Édouard Louis und Annie Ernaux sowie Wiederauflagen von Büchern von Sophie Calle und Pierre Guyotat.
Die Illusion des Authentischen
Auch deutschsprachige Autoren und Autorinnen wie Christian Baron, Jan Wilm und Isabelle Lehn fragten in ihren Werken nach dem Konnex von Erlebtem und Erschriebenem, nach der Illusion des Authentischen und dem politischen Reiz, sich selbst zum Thema zu machen.
Letztlich arbeiten sie alle, mal gewitzter, mal einfallsloser, an der willkommenen Entbanalisierung einer oftmals bloß banal gestellten Frage.
In einem Essay für die Literaturzeitschrift "Volltext" holte Jan Wilm kürzlich zum Rundumschlag aus: "Meine Feuilleton-Frustration wurzelte in der unterbelichteten Weise, mit der man über Autofiktionen schrieb, erst ganz schnell alles autofiktional nannte und bald ebenso schnell wieder davon gelangweilt war. Immer störten mich drei Dinge. Erstens: Man machte zu viel aus dem autobiografischen Anteil der Autofiktion. Zweitens: Man machte zu viel aus dem fiktiven Anteil der Autofiktion. Obwohl die Gattungsbezeichnung Auto-Fiktion doch eigentlich unmissverständlich ein Doppelgenre bezeichnete. Und drittens: Aus der eigenen Autofiktion machten die Feuilleton-Funktionäre beim Schreiben von Autofiktionsfeuilletons rein gar nichts."
Deckungsgleiche Details eines Lebens
Das Autobiografische ist in der Tat eines der prägendsten Merkmale der Gegenwartsliteratur. Das gilt auch hinsichtlich Romanen, die Bezüge zur Herkunft, zur Familie und zum sozialen Hintergrund der Schreibenden weniger offensiv und eindeutig herstellen als etwa Annie Ernaux.
Auch wenn Ulrike Almut Sandigs Roman "Monster wie wir" sich nicht als Autofiktion entwirft, lässt er sich doch unter diesem Aspekt des Autobiografischen betrachten. Die Hauptfigur Ruth erzählt darin eine doppelte Missbrauchsgeschichte in der DDR. An ihr vergeht sich der Großvater, ihr Kindheitsfreund Viktor wird wiederum vom Freund seiner älteren Schwester sexuell missbraucht.
Im Verlauf der Geschichte wird auch Ruths Vater portraitiert. Er wird Anfang der 1960er Jahre als Sechzehnjähriger der Oberschule verwiesen, weil er sich wegen seines christlichen Glaubens gegen eine FDJ-Initiative sträubt. Später besucht er als Internatsschüler das Kirchliche Proseminar Moritzburg und studiert am Theologischen Seminar in Leipzig.
Es sind Details eines Lebensweges, die die Figur mit dem Vater der Autorin teilt. Hier offenbart sich ein Lese-Effekt, der sich in Zeiten der Internet-Recherche verselbstständigt hat: Nie war es einfacher, an Zusatzinformationen zu Autoren und Autorinnen, zu historisch verbürgten Figuren oder Kontexten der Erzählung zu gelangen. Das führt immer öfters zu stromernden Parallellektüren: hier ein wenig googlen, dort ein paar Seiten weiterlesen, schließlich beides miteinander verknüpfen.
Verdrängen, Verschweigen, Benennen
Im Fall von "Monster wie wir" verschränkt ein Wikipedia-Artikel zu Sandigs Vater Leben und Literatur. Wer Romane wie Einkaufslisten liest, kann sich an dieser Stelle zurücklehnen. Schnell ist alles abgehakt, alles verstanden. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Gute Literatur erschöpft sich nicht im bloßen Positivismus.
Es gibt im Roman von Ulrike Almut Sandig auch etliche Details, die nicht deckungsgleich sind. Zugleich müssen Leser und Leserinnen eine Tatsache anerkennen: In "Monster wie wir", das mit subtiler Klugheit von Verdrängen, Verschweigen und Benennen erzählt, stechen die erwähnten Realbezüge heraus.
Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Satz an Gewicht, den die Hauptfigur gleich zu Beginn sagt: "Vielleicht kann man nur zu etwas eine Haltung haben, von dem man sich unterscheidet." Es ist ein Satz, der einfach daherkommt, in sich aber den Clou autofiktionaler und autobiografischer Literatur trägt.
Die voyeuristische Lust
Das Biografische kann im Schreib-, auch im Lesevorgang affirmiert werden und zugleich in den Hintergrund treten; ja, vielleicht muss es sich sogar bis zu einem gewissen Punkt auflösen, damit das Ich als Gegenstand betrachtet, beschrieben, bewertet werden kann.
Zum Ende des Romans heißt es einmal: "Auch später habe ich ihm nicht erzählt, was Großvater gemacht hat. Und auch du, Voitto, wirst es dir zusammenreimen müssen. Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Jetzt werd mal eindeutig! Aber nichts war eindeutig."
Diese Uneindeutigkeit lässt sich nicht einfach so in einem möglichst aufrichtigen Bericht aushebeln, in dem alles klipp und klar benannt wird. Das wäre gewissermaßen eine zu leichte Pointe für ein zu schwerwiegendes Thema. Die Uneindeutigkeit stattdessen auszuhalten, sie zum erzählerischen Prinzip zu machen, das ist eine der Stärken von Sandigs Debütroman.
"Monster wie wir" setzt dabei auch auf die Überantwortung an die Leser und Leserinnen, darauf, dass sie ihre voyeuristische Lust zügeln, Leben und Literatur immerzu kurzuschalten. Das behagt nicht jedem, weil dadurch eine Differenz bejaht wird, die oftmals gerade durch das Lesen überbrückt werden soll.
Selbstbewusste autobiografische und autofiktionale Literatur hingegen will ihrem Sujet doppelt gerecht werden: Sie gesteht ihren Figuren zu, Figuren zu sein, gerade weil sie der sogenannten Realität entspringen.
Ulrike Almut Sandig: "Monster wie wir". Schöffling &Co., Frankfurt am Main, 234 Seiten, 22 Euro.