"Ich bin jetzt 16 Jahre Leiter eines Bistums, zunächst Bischof von Trier und seit zehn Jahren Erzbischof von München. … Ich empfinde Scham beim Blick auf das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist, die bagatellisiert haben und eben nicht hinsehen wollten und nicht hören wollten. Da schließe ich mich ein. Wir haben den Opfern zu wenig zugehört."
Das sagt Reinhard Marx im September 2018. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz stellt eine Studie zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche vor.
Stephan Ackermann, Missbrauchsbeauftragter der Bischofskonferenz und Marx‘ Nachfolger in Trier, schämt sich bei gleicher Gelegenheit ebenfalls öffentlich:
"Als ich eingesetzt wurde als Beauftragter, da war für mich vor allen Dingen die Perspektive: Da sind sozusagen Aufgabenpakete zu bewältigen. Und je länger ich aber die Aufgabe habe, umso mehr ist für mich wirklich auch existenziell und emotional die Perspektive der Betroffenen in mein Leben getreten und damit wirklich auch die Fassungslosigkeit und die Abscheu gegen dieses Verbrechen", so Ackermann.
Pfarrer riet Missbrauchsopfer zur Abtreibung
Karin Weißenfels ist eine Betroffene. Sie möchte ihre Stimme nicht im Radio hören, der Name ist ein Pseudonym. Seit mehr als 20 Jahren ist sie eine Aufgabe im, wie Stephan Ackermann es hier nennt, kirchlichen "Aufgabenpaket". Sie soll – so schildert sie es dem Deutschlandfunk und so legen es offizielle Briefe nahe – nicht als Minderjährige, sondern als junge Frau Missbrauch erlebt haben. Sie erwartete vom Priester ihrer Gemeinde ein Kind – und trieb es ab. Der Priester und ein mit ihm befreundeter Pfarrer hatten der verzweifelten Frau dazu geraten, sogar in einem Beichtgespräch.
Karin Weißenfels ist beim Bistum Trier angestellt. Sie kennt die beiden Bischöfe persönlich, die hier gerade zu hören waren. Mit Stephan Ackermann ist sie schon lange per Du. Und die beiden Bischöfe kennen ihre Geschichte. Es gibt viele Briefe an Karin Weißenfels mit bischöflichem Siegel und der typischen Unterschrift mit dem Kreuz vor dem Namen. Zuletzt wurden Marx und Ackermann Anfang dieses Monats auf der Reformkonferenz "Synodaler Weg" an Karin Weißenfels erinnert.
Eine der Synodalinnen, Regina Nagel vom Bundesverband der GemeindereferentInnen, schildert am 4. Februar vor dem digital versammelten Plenum die Vorwürfe, die Karin Weißenfels öffentlich erhebt:
"Karin Weißenfels, wurde von ihrem dienstvorgesetzten Pfarrer jahrelang sexuell missbraucht. Als sie schwanger wurde, verlangte er die Abtreibung. Danach möge sie bei einem Freund von ihm beichten. Noch schwanger, bat sie diesen Priesterfreund in der Beichte um Hilfe. Dieser sagte zu ihr, sie müsse abtreiben und gab ihr in dieser Beichte die Lossprechung. Bis heute leidet diese Frau unter diesem Missbrauch und natürlich auch sehr unter dieser Abtreibung. Sie ist extrem belastet durch den Umgang der Verantwortlichen mit ihrem Fall. Der Beichtpriester machte Karriere. Sie selbst ist vom Dienst freigestellt, ist vereinsamt und leidet."
Reinhard Marx und Stephan Ackermann, der frühere und der amtierende Trierer Bischof, hören an diesem Februartag beim Synodalen Forum zu. Videokonferenz-Bildschirme sind zu klein, um Gefühlsregungen erkennbar zu machen. Die beiden Bischöfe sind als Verantwortliche "umgegangen" mit dem Fall. Weggeschaut haben sie nicht. Sie haben gehandelt – allerdings – so ergibt es sich aus der Korrespondenz, die dem Deutschlandfunk vorliegt – nur auf Drängen von Frau Weißenfels hin. Sie haben die kirchliche Angestellte wie eine Bittstellerin behandelt.
Regina Nagel fasst es so zusammen: "Kirchenrechtlich ist es kompliziert, moralisch ist es einfach schrecklich."
Milde für die Kleriker
Für Karin Weißenfels war die katholische Kirche nicht nur Arbeitsgeberin, sondern Heimat. Dann wurde diese Kirche zum Tatort. Das Heimatgefühl ist weg. Seit Jahrzehnten fleht, bettelt, kämpft sie darum, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt, dass ihre Geschichte aufgearbeitet wird. Bischöfe, Generalvikare und Personalchefs haben ihre Briefe gelesen, haben ihr gegenübergesessen. Die Geistlichen haben erfahren, was zwei andere Geistliche ihr angetan haben. Sie haben ihr geglaubt.
Das Unglaubliche für Karin Weißenfels: Die Konsequenzen für die Kleriker fielen milde aus. Sie aber brauchte Psychotherapien, benötigte kirchenrechtlichen und arbeitsrechtlichen Beistand. Seit Jahren ist sie vom Dienst freigestellt. Sie hat die Erlebnisse aus ihrer Sicht aufgeschrieben und sich dafür dieses Pseudonym gegeben: Karin Weißenfels.
Erwachsene als Opfer sexualisierter Gewalt
Ist sie ein Opfer sexualisierter Gewalt? Bei diesem Wort ziehen manche die Brauen hoch. Als "es" geschehen sein soll, war sie 30 Jahre alt. "Du warst doch kein Kind mehr. Du hättest dich doch wehren können!", sagen die hochgezogenen Brauen. Erwachsene als Betroffene – das ist ein öffentlich wenig wahrgenommenes Thema. Sie hat ein psychotherapeutisches Fachgutachten anfertigen lassen; die Expertin diagnostiziert bei Karin Weißenfels eine "krankhafte emotionale Abhängigkeit" (von dem Priester).
Karin Weißenfels wächst in einer katholischen Familie auf, engagiert sich in der Kirche. Mit 24 bekommt sie ihre erste Stelle im Bistum Trier. Sie und der Priester seien ein gutes Team gewesen, schreibt sie. Sechs Jahre später verändert eine Sommerfreizeit für sie alles. In einer Stresssituation bricht sie vor den Augen des Priesters in Tränen aus. Der Kirchenmann ist auch ihr Vorgesetzter. Anscheinend ganz fürsorglicher Chef, bittet er sie zum Seelsorge-Gespräch. Danach, so stellt sie es dar, soll er sie mit Umarmungen und Zungenküssen überfallen haben.
"Ich erwiderte seine Berührungen nicht, ließ es aber an mir geschehen", schreibt sie. Der Priester bittet sie offenbar abends auf sein Zimmer, sie geht hin. Er ist für sie nicht nur der Chef, er ist eine geistliche Autorität. Was dann geschehen sein soll, beschreibt sie so:
"Noch am selben Abend bat er mich, abends in sein Zimmer zu kommen, dort küsste und berührte er mich noch intensiver und ließ sich davon erregen. Dann hatte er einen Samenerguss. Das veränderte sein Verhalten von einer Sekunde auf die andere. Er schickte mich ohne Erklärung weg. Ich hatte in diesem Moment nicht verstanden, was vorgefallen war, ich war ja sexuell völlig unerfahren."
Katholisches Frauenbild: hinnehmen, schweigen, fürsorglich sein
Die von Karin Weißenfels geschilderten Geschehnisse sind im Einzelnen weder von einem kirchlichen, noch von einem weltlichen Gericht festgestellt worden. Der Vorwurf der sexualisierten Gewalt bleibt unaufgeklärt.
Unstrittig ist jedoch, dass es eine sexuelle Beziehung zwischen Karin Weißenfels und dem mehr als 20 Jahre älteren Priester gegeben hat. Und: dass es nicht bei einem Mal geblieben ist. Der Priester hat auf Anfrage des Deutschlandfunks keine Stellungnahme abgegeben.
In Karin Weißenfels‘ Familie war Sexualität ein Tabu. Ein katholisches Mädchen spart sich für die Ehe auf. Das galt für sie auch noch, als die Zeiten liberaler wurden. Kein Einzelfall, sagt die Theologin Ute Leimgruber, die sich mit erwachsenen Missbrauchsopfern beschäftigt hat, in einem Dlf-Interview:
"Viele der betroffenen Frauen beschreiben, dass sie als brave Mädchen erzogen worden sind, die als Mädchen auch hinzunehmen haben, was die Autorität sagt. Es spielt eine Rolle, dass im katholischen Frauenbild – als Lehre – Frauen diejenigen sind, die hinnehmen, die demütig sind, die als Ideal schweigen, sich einfügen, fürsorglich sind."
"Er redete mir zu, es gäbe keinen anderen Weg"
Dass ein Priester ihr erster Mann sein könnte – diese Vorstellung kommt im Weltbild der jungen Kirchenmitarbeiterin nicht vor – bis zu jener Sommerfreizeit.
Einige Monate später bemerkt Karin Weißenfels, dass sie schwanger ist - von ihrem Vorgesetzten, dem Priester. Sie hofft darauf, dass er sie unterstützt. Aber er rät zur Abtreibung – nach katholischer Lehre ein "verabscheuungswürdiges Verbrechen", eine schwere Sünde.
Einen Abtreibungstermin lässt Karin Weißenfels verstreichen. Dem Priester spielt sie vor, den Schwangerschaftsabbruch vorgenommen zu haben. Er rät ihr, bei einem befreundeten Priester zu beichten. Sie vertraut sich, wie geheißen, dem anderen Geistlichen an und beichtet bei ihm:
"Ich wollte, dass er mir einen anderen Weg als den der Abtreibung aufzeigte. Aber er redete mir zu, dass es keinen anderen Weg gäbe: Ich müsse die Abtreibung vornehmen lassen, sonst würde ich künftig alleine dastehen", schreibt sie. Den nächsten Abbruchtermin nimmt sie wahr. Niemand begleitet sie.
Emotional, spirituell – und arbeitsrechtlich abhängig
Karin Weißenfels arbeitet weiter in der Gemeinde. Fast täglich soll es auch nach der Abtreibung zu sexuellen Kontakten mit dem Priester gekommen sein. Er habe ihr von seiner triebhaften Sexsucht erzählt. Sie empfindet Mitleid für ihn, an anderer Stelle nennt sie es "innige Liebe". Sie träumt vom gemeinsamen Leben, von Familie. Er bleibt Priester und möchte weiterhin Sex mit ihr, so schildert es Karin Weißenfels. Sie soll über alles schweigen.
Das Wort Missbrauch ist damals kaum verbreitet. Was zwischen einem Priester und einer erwachsenen Frau im Bett passiert – das bietet Stoff für Haushälterinnenwitze bei Pfarrsitzungen. Aber Karin Weißenfels ist nicht die heimliche Geliebte, deren Gefühle erwidert werden. Sie ist eine Abhängige, emotional, spirituell – und arbeitsrechtlich.
Ende der 1990er-Jahre wendet sie sich zum ersten Mal ans Bistum Trier. Im September 1999 kommt es zu einem Gespräch mit dem damaligen Bischof Hermann-Josef Spital. Konsequenzen für die Priester gibt es nach dieser Begegnung nicht.
Stellungnahmen des Bistums
Auf Anfrage bestätigt das Bistum Trier, dass dieses Gespräch stattfand, zum Inhalt heißt es:
"Hierüber liegen uns jedoch keine Aufzeichnungen von Seiten des Bistums vor."
Im Juni 2001 informiert Karin Weißenfels das Bistum erstmals schriftlich. Wieder geschieht nichts. In seiner Erklärung gegenüber dem Deutschlandfunk beruft sich das Bistum auf die Expertise des eigenen Kirchenrichters, des Offizials:
"Dessen Prüfung bezog sich auf die Vorwürfe der Abtreibung (can. 1398 CIC) und der Mittäterschaft (can 1329 §2 CIC) sowie des Amtsmissbrauchs (can 1389 § 1 CIC); er kam zu dem Ergebnis, dass die möglichen Straftaten verjährt sind."
Im April 2002 wird Reinhard Marx Bischof von Trier. Karin Weißenfels bittet mehrfach den neuen Bischof um ein Gespräch. Im Mai 2003 schreibt sie: "Sehr geehrter Herr Bischof, für meinen Heilungsprozess ist es mir sehr wichtig, mit Ihnen persönlich zu sprechen, über das, was ich Ihnen offengelegt habe."
Verstoß gegen Kirchenrecht
Zwei Monate später, am 15. Juli 2003, trifft Karin Weißenfels Reinhard Marx. Sie erzählt ihre Geschichte und übergibt eine ausführliche schriftliche Schilderung. Er hört regungslos zu, so erinnert sie sich. Zunächst geschieht wieder nichts. Karin Weißenfels holt sich kirchenrechtlichen Beistand. Erst dann reagiert Marx. Er leitet eine Untersuchung ein, allerdings nur gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten, nicht gegen den Beichtpriester. Auf die Frage, warum nicht gegen beide Priester ermittelt wurde, erklärt das Bistum:
"Aus heutiger Sicht ist das nicht mehr nachvollziehbar, und auch der damalige Bischof Marx hat diesbezüglich in einem Schreiben an die Kleruskongregation 2007 einen Fehler eingeräumt. Die Gründe für die Nicht-Durchführung lagen darin, dass es unter anderem um die schwierige Beurteilung eines Beichtgesprächs ging, zu dem nur Karin Weißenfels, nicht aber der Beichtpriester wegen der absoluten Wahrung des Beichtgeheimnisses gehört werden durfte."
Untersucht wird also, ob der frühere Chef zum Schwangerschaftsabbruch riet. Im Kirchenrecht CIC heißt es in Canon 1041:
"Irregulär für den Empfang der Weihen ist:
4° wer vorsätzlich einen Menschen getötet oder eine vollendete Abtreibung vorgenommen hat, sowie alle, die positiv daran mitgewirkt haben"
4° wer vorsätzlich einen Menschen getötet oder eine vollendete Abtreibung vorgenommen hat, sowie alle, die positiv daran mitgewirkt haben"
Auch schon geweihte Männer dürfen laut CIC nicht positiv an einer Abtreibung mitwirken. Gemäß Can. 1044 und Can. 1041 wird für den Priester die Irregularität festgestellt. Das heißt, er darf sein Weiheamt nicht ausüben – allerdings gilt diese disziplinarische Maßnahme nur kurzzeitig. Und das hat mit Rom zu tun.
Täter wurde von Rom begnadigt
Der damalige Papst Johannes Paul II. und sein Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger verurteilen Schwangerschaftsabbrüche scharf. Von einer "Kultur des Todes" sprechen sie, die Kirche in Deutschland musste Ende der 1990-Jahre auf Geheiß Roms aus der Schwangerenkonfliktberatung aussteigen. Mit dem Trierer Geistlichen aber, der seiner Angestellten zur Abtreibung seines eigenen Kindes riet, geht der Vatikan nachsichtig um. Dem Priester, der nicht Vater werden will, wird die väterliche Fürsorge Roms zuteil. Er schreibt im September 2004 an Karin Weißenfels, dass der Vatikan ihn begnadigt habe:
"In diesen Tagen wurde mir mitgeteilt, dass der Heilige Vater meiner Bitte um Dispens von der Irregularität gemäß Can. 1041 N. 4 CIC durch ein Schreiben der zuständigen Kongregation an Bischof Dr. Reinhard Marx entsprochen hat. Im Juni hatte ich diese Bitte nach Abschluss der bischöflichen Untersuchung auf Ersuchen von Bischof Dr. Reinhard Marx an den Heiligen Vater gerichtet."
Marx bittet Opfer, "nach vorn zu schauen"
Bischof Marx hat den Priester also sofort darauf hingewiesen, dass er in Rom um Dispens bitten könne. Die Irregularität ist damit innerhalb von drei Monaten aus der Welt. Auf Anfrage des Deutschlandfunks bestätigt das Bistum Trier diese Darstellung:
"Es ist zutreffend, dass der damalige Bischof Marx den Hinweis auf die Möglichkeit einer Dispens durch Rom gegeben hat, weil derartige Hinweise zu den Rechtswegen zur Information und Rechtsbelehrung dazugehören."
Hinweise auf sexuelle Gewalt hat das Bistum zunächst nicht gefunden. In einem Brief an Frau Weißenfels vom Juli 2005 kündigt Marx an, er werde auch die Beschuldigung wegen sexualisierter Gewalt prüfen. Er schreibt:
"Ich hoffe sehr, dass Sie wissen, wie sehr ich Verständnis habe für das, was Sie empfinden. Ich bitte Sie aber auch herzlich darum, nach vorn zu schauen, soweit Ihnen das möglich ist."
Zwei Monate später teilt Reinhard Marx mit, er könne kirchenrechtlich nichts mehr unternehmen.
"Angesichts dieser Rechtslage möchte ich Sie noch einmal … eindringlich darum bitten, sich endgültig von der Vergangenheit und den emotionalen Bindungen an Pfarrer […] zu lösen und nach vorne zu schauen."
Bistumsleitung sieht "kein Verschulden"
Als Karin Weißenfels an den Generalvikar schreibt, der Pfarrer habe sie "in seiner Gewalt", wird im November 2005 doch noch eine kirchenrechtliche Untersuchung eingeleitet. Sie soll als Zeugin aussagen. Karin Weißenfels sieht sich psychisch nicht in der Lage, eine Befragung durchzustehen.
Von sich aus unternimmt das Bistum nichts mehr gegen jenen Priester, den es trotz Zölibat fast täglich nach Sex mit seiner Angestellten gelüstet haben soll. Aktiv werden soll Karin Weißenfels. Sich lösen und nach vorn schauen, hat ihr der Bischof geraten. Sie zeigt tatsächlich Vergebungsbereitschaft. Als Reinhard Marx von ihr davon erfährt, lässt er sie in einer handschriftlichen Nachricht mit Bischofsbriefkopf am 22. Februar 2006 wissen:
"Ich habe mich über Ihren Brief gefreut, vor allem darüber, dass Verzeihung und Vergebung möglich werden."
Im April 2006 vergibt Karin Weißenfels ihrem Priester in einer offiziellen Zeremonie, in einem Wortgottesdienst, wie ein Protokoll festhält. Nach Angaben des Bistums habe auch die Annahme der Entschuldigung dazu geführt, dass das Verfahren eingestellt wurde.
"Weder Kosten noch Mühe gescheut"
Ende Juni 2006 listet ein Mitarbeiter der Personalabteilung in einem Brief auf, was das Bistum alles für Karin Weißenfels getan habe, wie viele Stellen man ihr angeboten, wie viel Geld man gezahlt habe.
"Die Dokumentation des Verlaufs der vergangenen fünf Jahre zeigt, …, dass die Personalverantwortlichen des Bistums weder Kosten noch Mühe gescheut haben, Ihnen in Ihrer persönlichen Situation aufrichtige Anteilnahme und Verständnis entgegenzubringen..."
Der ganze Satz ist acht Zeilen lang. Am Ende wird betont, das Bistum Trier bringe ihr diese Anteilnahme entgegen,
"ohne dass auch nur einer der in Verantwortung stehenden Personen oder die Institution Bischöfliches Generalvikariat daran ein Verschulden träfe."
Kein Verschulden. Karin Weißenfels akzeptiert die Selbstabsolution der Bistumsleitung nicht. Sie strebt nun ein kirchenrechtliches Verfahren gegen jenen Priester an, der ihr in der Beichte zu Abtreibung riet. Das Bistum prüft den Fall und vernimmt sie im August 2006. In einem 38-Seiten Protokoll ist ihre Befragung festgehalten, es liest sich wie ein Verhör.
Beichtpriester macht Karriere
Das Bistum glaubt ihr – und erklärt auch diesem Priester, er dürfe sein Weiheamt nicht ausüben. Wieder wird also Irregularität festgestellt – und wieder gibt es wenige Monate später Dispens, also Gnade, aus Rom. Auch gegen diesen Priester ergreift das Bistum keine weiteren disziplinarischen Maßnahmen. Die Befugnis, die Beichte abzunehmen, behält er.
Der Geistliche macht Karriere. Er gilt als theologischer Star, kommt für höhere Weihen in Frage.
2009 wird Stephan Ackermann Bischof. Karin Weißenfels kennt ihn seit Jahrzehnten, eher flüchtig, wie Ackermann heute gegenüber dem Deutschlandfunk schreibt. Sie gratuliert ihm zur Ernennung und fragt an, ob sie bei seiner Amtseinführung dabei sein könne. Er dankt freundlich per Mail und merkt an:
"In der Regel besteht bei solchen 'dicken Festanlässen' für kirchlich verwundete Menschen die Gefahr, dass alte Wunden wieder aufbrechen …"
Im Juli 2009 lässt er sie wissen, das Bistum zahle Therapiekosten und Gehalt weiter.
"Aus all dem kannst du erkennen, dass das Bistum alles Notwendige getan hat, um dir eine gesicherte Existenz zu ermöglichen."
Ackermann entschuldigt sich, geht aber nicht weiter gegen Täter vor
Ein halbes Jahr später, im Januar 2010, beginnt das Missbrauchsskandaljahr. Stephan Ackermann ist damals einer der jüngsten im Amt. Er bekommt den Job, um den sich niemand reißt: Er wird Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Im Mai 2010 entschuldigte er sich in einem Brief bei Karin Weißenfels, nicht nur als Bekannter aus Jugendtagen, sondern ausdrücklich als Bischof von Trier für das ...
"quälende Unrecht, was Dir durch Priester und Verantwortliche des Bistums Trier angetan worden ist."
Er wünscht seiner Bistums-Angestellten wieder "festeren Boden" unter den Füßen. Weitere disziplinarische Maßnahmen gegen die beiden Priester ergreift auch er nicht. Gegenüber dem Deutschlandfunk bestätige Stephan Ackermann, dass er nicht weiter kirchenrechtlich vorging. Seine Begründung:
"Die Verfahren gegen die genannten Priester waren bereits im Jahr 2004 durch Entscheidung der Kleruskongregation bzw. 2007 durch Entscheidung der Glaubenskongregation abgeschlossen."
Papst Benedikt betet für sie
Karin Weißenfels wendet sich an Benedikt XVI., den deutschen Papst, der sich als Aufklärer geriert. Dessen Staatssekretariat antwortet im Oktober 2012:
"Der Heilige Vater sieht es als eine vordringliche Sorge der Kirche Ihnen gegenüber an, soweit möglich, die inneren Wunden zu verbinden und die Versöhnung zu fördern."
Die Unterlagen zu ihrem Fall würden in Rom noch einmal geprüft. Und: Der Papst schließe sie in sein Gebet ein. Doch bebetet zu werden genügt ihr nicht. Sie möchte, dass ihr Beichtpriester zur Rechenschaft gezogen wird, dass er Reue zeigt. Im Mai 2013 kommt es zu einem Gespräch zwischen Karin Weißenfels, dem Trierer Bischof Stephan Ackermann und jenem Geistlichen. Aber das Zeichen der Reue bleibt aus.
Stephan Ackermann rät von weiteren kirchenrechtlichen Schritten beim Apostolischen Stuhl ab. Er zweifle persönlich daran, so schreibt er ihr im Oktober 2013 in einer Mail, dass sie das weiterbringe ...
"...in den Fortschritten, die Du in den vergangenen Jahren bei der Aufarbeitung machen durftest".
Karin W. will Konsequenzen für Täter
Sie möchte auch Aufarbeitung und meint damit etwas anderes als der Bischof. Sie möchte zunächst erkennbare Konsequenzen für den Beichtpriester. Das bedeutet für sie auch: Die Bistumsleitung soll Verantwortung übernehmen für das ihrer Ansicht nach täterschützende Verhalten.
Am 19. Dezember 2016 gibt es ein persönliches Gespräch zwischen Karin Weißenfels und Stephan Ackermann. Nach -zig Briefen und Mails ist vom vertrauensvollen Verhältnis zum "lieben Stephan" kaum etwas übrig. Die Begegnung endet im Konflikt. Es ist der letzte persönliche Kontakt.
Jahre vergehen. Im Juni 2019 schließlich wendet sich Karin Weißenfels mit Hilfe ihres Anwalts ans Erzbistum Köln. Rainer Maria Woelki ist Metropolit, dem Bischof von Trier also übergeordnet. Ende Dezember 2020 teilt ihr der oberste Kölner Kirchenjurist, der Offizial, mit:
"Aus dem vorgelegten Material ist für uns nicht ersichtlich, dass es seitens der Verantwortlichen im Bistum Trier einen Täterschutz gegeben hat."
Der päpstliche Erlass gegen Vertuschung aus dem Jahr 2019 finde hier keine Anwendung.
Der Priester, der Karin Weißenfels in der Beichte zum Schwangerschaftsabbruch riet, ist mittlerweile verstorben, hochdekoriert mit kirchlichen und akademischen Titeln. Der Priester, von dem Karin Weißenfels ein Kind erwartete, lebt noch.
Haben sich Marx und Ackermann etwas vorzuwerfen?
Sie kämpft weiter. Dem Kölner Bescheid hat sie widersprochen, ein Anwalt unterstützt sie. Sie möchte loskommen von der Kirche, aber vorher möchte sie Gerechtigkeit.
Haben sich Marx und Ackermann etwas vorzuwerfen?
Auf Anfrage des Deutschlandfunks erklärt Reinhard Marx, geistlicher Missbrauch von Erwachsenen habe er damals nicht im Blick gehabt, heute sei er sensibilisierter:
"So sehe ich mittlerweile, dass die kirchenrechtliche Perspektive Grenzen hat und allein nicht immer den unterschiedlichen Dimensionen eines Falles gerecht werden kann. Deshalb wird es zunehmend wichtig, ergänzend unabhängige Expertisen einzubeziehen und die Frage nach möglicher Aufarbeitung und Heilung umfassender zu stellen. Meine Mitarbeiter im Bistum Trier und ich haben versucht, KW zu helfen und auch berufliche Perspektiven mit ihr zu entwickeln. Es tut mir sehr leid zu erfahren, dass KW bis heute belastet."
Stephan Ackermann erklärt:
"Es gab in den zurückliegenden zwölf Jahren (und schon davor) eine Vielzahl von Versuchen, einen beruflichen Wiedereinstieg zu ermöglichen. Mehrfach habe ich mich dafür persönlich eingesetzt. Leider waren die vielen Bemühungen nicht von nachhaltigem Erfolg. Karin Weißenfels und ihre Geschichte begleiten mich seit meinem Amtsantritt. Es gibt kaum einen anderen Fall, bei dem ich so sehr an die Grenzen des Rechts, der beteiligten Personen und meiner Möglichkeiten gestoßen bin."
Die Bistumsleitung habe das "Mögliche" getan, das "Notwendige", sie habe Anteil genommen, keine Kosten und Mühen gescheut, so steht es in den Briefen.
Ein systemischer Skandal
"Wir haben den Opfern zu wenig zugehört", so Reinhard Marx im Spetember 2018.
Karin Weißenfels wurde zugehört und dennoch wurde sie überhört. Die Hierarchen reagierten nur auf Drängen. Betroffene wie sie sind lästig, nerven, werden vertröstet, belehrt, sollen Ruhe geben, nach vorn schauen, verzeihen, dankbar sein für jedes Gespräch, jeden Brief, jeden Euro. Was ihnen hilft, weiß der Bischof. Was Gerechtigkeit ist, weiß der Bischof. Was Aufarbeitung ist, weiß der Bischof. Wann es auch mal gut ist, weiß der Bischof.
Wenn eine Frau sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, begeht sie eine schwere Sünde. Wenn Priester einer Frau zu einer Abtreibung raten, gibt es Gnade aus Rom. Mutter Kirche hat sich gegenüber den geweihten Männern väterlich gezeigt. Mögliche Konsequenzen sind ihnen dadurch erspart geblieben. Die harten Folgen trägt die traumatisierte Frau.
Das, was geschah, ist moralisch schrecklich – und offenbar rechtmäßig. Das ist der systemische Skandal.
*Name ist ein Pseudonym.