Am 23. Februar habe ich im Deutschlandfunk die Geschichte von Karin Weißenfels erzählt. In wenigen Sätzen zusammengefasst geht diese Geschichte so: Als junge Gemeindeangestellte wird Karin Weißenfels von einem katholischen Priester - ihrem Vorgesetzten - schwanger. Er und ein befreundeter Geistlicher, bei dem sie beichtet, raten ihr zur Abtreibung. Auch danach soll der Priester regelmäßig Sex verlangt haben. Sie ist arbeitsrechtlich und emotional von ihm abhängig, es ist keine gleichberechtigte Beziehung.
Der Name Karin Weißenfels ist ein Pseudonym, zum ersten Mal nutzt sie ihn in dem Buch „Erzählen als Widerstand“, das 2020 erscheint. Den Beginn der sexuellen Beziehung zu dem Priester beschreibt sie darin so: „Ich erwiderte seine Berührungen nicht, ließ es aber an mir geschehen."
Die 23 Frauen, die im Buch davon berichten, wie sie als Erwachsene von Geistlichen missbraucht wurden, haben alles anonymisiert. Weder Personen noch Gemeinden und Bistümer sind erkennbar.
Unterlagen zugespielt
Im Herbst 2020 erfahre ich: Karin Weißenfels' Geschichte spielt im Bistum Trier. Akteneinsicht geben Bistümer bei Presseanfragen zu einem Missbrauchsverdacht nicht. Aber mir werden Unterlagen zugespielt: hunderte Seiten. Briefe der Bistumsleitung an Karin Weißenfels, offizielle Post und private Grußkarten, viele mit dem bischöflichen Kreuz vor der Unterschrift.
Die Brisanz erschließt sich sofort: Die beiden hohen Würdenträger, die mit dem Fall befasst waren, sind noch im Amt. Der eine ist Kardinal Reinhard Marx, zunächst Bischof von Trier, heute Erzbischof von München und Freising, der andere Stephan Ackermann, amtierender Trierer Bischof und seit 2010 Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Beide kommen im Dlf-Beitrag vom Februar zu Wort.
Post vom beschuldigten Priester
Am 11. Juni 2021 erhalte ich einen Brief von einem Geistlichen, der im Beitrag nicht zu hören ist. Der Brief beginnt so:
„Sie haben recherchiert für die Konfrontation 'Zwei Priester, zwei Bischöfe und das Trauma der Karin W.'. Im Deutschlandfunk, gesendet am 23. Februar 2021. Der eine Priester bin ich. Sie haben sicher bei vielen Personen gewissenhaft recherchiert, aber so weit ich mich erinnern kann, weder irgendwann noch irgendwie, weder schriftlich noch telefonisch, zu mir Kontakt aufgenommen. Das hätte eigentlich nahe gelegen. 'Audiatur et altera pars', ein zentrales Verfahrensgrundrecht. Ihre Aussagen in der Konfrontation sind zu 90 Prozent unwahr und 10 Prozent entsprechen nicht der vollen Wahrheit.“
Hier schreibt also jener Priester, von dem Karin Weißenfels schwanger war. Der Fall ist kirchenrechtlich kompliziert, moralisch abgründig und menschlich schäbig gegenüber der betroffenen Frau.
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Zur Chronologie: Ende der 1990er-Jahre erzählt Karin Weißenfels erstmals der Trierer Bistumsleitung von der sexuellen Beziehung und dem Rat zur Abtreibung. Seitens des Bistums geschieht nichts. 2002 wird Reinhard Marx Bischof von Trier, Karin Weißenfels bekommt im Juli 2003 einen Gesprächstermin bei ihm. Ausführlich erzählt sie von der Abtreibung, ihrer emotionalen Abhängigkeit, ihrer Traumatisierung. Wieder geschieht nichts. Erst als sie sich kirchenrechtlichen Rat holt, leitet Marx eine Untersuchung gegen ihren Vorgesetzten ein.
Auf die Strafe folgt schnell die Gnade
Das Ergebnis: Für den Priester wird die sogenannte Irregularität festgestellt, der Geistliche darf sein Weiheamt zeitweise nicht ausüben. Allerdings erfährt er schon im September 2004, dass Rom ihm gegenüber Gnade walten lässt. Dispens wird diese Milde genannt. Dasselbe geschieht später auch mit dem Beichtpriester. Reinhard Marx selbst hat den beiden Geistlichen den Hinweis auf die Möglichkeit einer römischen Dispens gegeben. Weder Marx noch sein Nachfolger Stephan Ackermann unternehmen weitere Schritte gegen die Priester, wie sie gegenüber dem Dlf bestätigen. Negative Folgen hat nur Karin Weißenfels zu ertragen, psychisch und beruflich.
Stellungnahmen von Marx und Ackermann
Reinhard Marx erklärt im Februar auf Dlf-Anfrage: "So sehe ich mittlerweile, dass die kirchenrechtliche Perspektive Grenzen hat und allein nicht immer den unterschiedlichen Dimensionen eines Falles gerecht werden kann. Deshalb wird es zunehmend wichtig, ergänzend unabhängige Expertisen einzubeziehen und die Frage nach möglicher Aufarbeitung und Heilung umfassender zu stellen. Meine Mitarbeiter im Bistum Trier und ich haben versucht, KW zu helfen und auch berufliche Perspektiven mit ihr zu entwickeln. Es tut mir sehr leid zu erfahren, dass KW bis heute belastet ist.“
Stephan Ackermann betont, was er alles für Karin Weißenfels getan habe: „Es gab in den zurückliegenden zwölf Jahren (und schon davor) eine Vielzahl von Versuchen, einen beruflichen Wiedereinstieg zu ermöglichen. Mehrfach habe ich mich dafür persönlich eingesetzt. Leider waren die vielen Bemühungen nicht von nachhaltigem Erfolg. Karin Weißenfels und ihre Geschichte begleiten mich seit meinem Amtsantritt. Es gibt kaum einen anderen Fall, bei dem ich so sehr an die Grenzen des Rechts, der beteiligten Personen und meiner Möglichkeiten gestoßen bin.“
Der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz erklärte auf Anfrage, dass die DBK den Vorgang nicht kommentiere. Es sei eine Sache des Bistums Trier.
Der Priester antwortet nicht
Auch den Priester, von dem Karin Weißenfels ein Kind erwartete, bitte ich im Februar um eine Stellungnahme. Seine Behauptung, er sei nicht gehört worden, ist falsch. Daran ändert auch seine lateinische Belehrung „Audiatur et altera pars“ - "Man höre auch die andere Seite" - nichts. Das Bistum übermittelt ihm meine Fragen, er nimmt sie zur Kenntnis, aber antwortet nicht.
Das Bistum hingegen bestätigt - so scheint es im Februar 2021 zumindest – die Geschichte von Karin Weißenfels in wesentlichen Punkten: Es gab die Abtreibung, es gab die für einen Priester unzulässige sexuelle Beziehung, es gab das kirchenrechtliche Verfahren wegen des Rates zum Schwangerschaftsabbruch, es gab das Sträfchen der Irregularität und den bischöflichen Hinweis, es mit dem Gnadengesuch in Rom zu probieren.
Sprengsatz in der "Spiegel"-Titelgeschichte
Am 10. Dezember veröffentlicht der „Spiegel“ eine exzellent recherchierte Titelgeschichte zum Bistum Trier. Auch darin kommt das Schicksal von Karin Weißenfels ausführlich vor. Ein Satz in dieser Geschichte erstaunt mich: Das Bistum behauptet, dass der beschuldigte Priester sowohl die Mitwirkung an einer Abtreibung als auch eine mutmaßliche sexualisierte Gewalt geleugnet habe.
Aussage gegen Aussage also? Wofür wurde aber dann die kurzzeitige Irregularität ausgesprochen, wenn nicht zumindest wegen der Mitwirkung an der Abtreibung? Der „Spiegel“ stellt diese Rückfrage, das Bistum antwortet mit einer Art Nicht-Antwort. Ich frage auch. Die Pressestelle schreibt mir:
„Es ist richtig, dass wir dem 'Spiegel' auf die entsprechend konkrete Frage dazu geantwortet haben: 'Gleichwohl der Priester gegenüber dem Bistum für Frau W. aufgrund ihrer Leidenssituation Mitgefühl bekundet hat, hat er bestritten, an Frau W. sexuellen Missbrauch begangen und sie zur Abtreibung gedrängt zu haben.'"
Ein Satz, ein Sprengsatz: Dadurch entstehen in der Öffentlichkeit Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Betroffenen, die seit 20 Jahren nicht locker lässt. Trotz all der Beschwichtigungen, trotz bischöflicher Aufforderungen, sie solle endlich nach vorn schauen, kämpft Karin Weißenfels für eine ehrliche Aufarbeitung ihres Falls.
Abstreiten als fortgesetzter Missbrauch
Auch für die Theologin Ute Leimgruber, Herausgeberin des Buches „Erzählen als Widerstand“, hat der kleine Zusatz, der Priester habe bestritten, eine große Wirkung: „Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen, gerade im Fall von Frau Weißenfels, nach so vielen Jahren des Immer-wieder-um-Glaubwürdigkeit-Kämpfens: Es ist eine immer wieder fortgesetzte Verletzung dieser Frauen. Sie empfinden es als fortgesetzten Missbrauch.“
Zur Rolle des Bistums sagt die Theologieprofessorin:
„Ein Täter kann immer bestreiten, was er getan hat. Das ist ja mein Recht als beschuldigte Person. Aber die Diözese hat eine andere Rolle. Was in dem Fall Weißenfels meiner Meinung nach schon auch noch mal deutlich zu sehen ist: Dass der viel geforderte Turn in die Opferperspektive dem System offenkundig doch extrem schwerfällt. Dass sich das System offenkundig in vielerlei Hinsicht weigert, diesen Turn in die Opferperspektive wirklich einzunehmen. Wir haben ja schriftlich, das haben sie ja gesagt, dass irgendwas vorgefallen sein muss, sonst hätte es diese Irregularitäten nicht gegeben bei den beiden Priestern. Und sonst würde auch nicht in den vielen Briefen und Dokumenten stehen: 'Wir entschuldigen uns für das, was Ihnen passiert ist. Bitte vergeben Sie und schauen Sie in die Zukunft.' Die (Vorfälle) werden jetzt bestritten? Ja, was ist denn da vorgefallen?“
Ausweichende Antworten der Bistums-Pressestelle
Was die Lage möglicherweise verändert hat: Der Priester, von dem Karin Weißenfels ein Kind erwartete, und der noch im Juni per Brief gegen den Dlf-Bericht protestiert hat, lebt nicht mehr, als der „Spiegel“-Titel erscheint. Er ist heimgegangen, wie das in seinen Kreisen heißt. Als treuer Diener Gottes wird er mit klerikalen Ehren beigesetzt. In der Todesanzeige loben Priesterbrüder sein seelsorgerliches Wirken. Bei der Pressestelle des Bistums frage ich nach, warum man mir die Auskunft, dass der Geistliche bestritten habe, nicht schon im Februar gegeben habe.
Die Leitung der Trierer Pressestelle erklärt: „Dass ich Ihnen diese Information nicht in den Antworten vom Februar gegeben habe, mag daran liegen, dass ich diese Frage nicht aus Ihrem Fragenkatalog habe herauslesen können. Gleichwohl hätte ich den Hinweis an anderer Stelle einbringen können.…“
Auf meine Frage, ob das Bistum Frau Weißenfels glaube, antwortet die Pressestelle ausweichend, jedenfalls nicht mit Ja: „Die Aussagen des Priesters haben nicht dazu geführt, dass das Bistum die Schilderungen und Vorwürfe von Frau W. nicht ernst genommen hätte. Dies zeigen ja die verschiedenen Gespräche, Untersuchungen, Klärungen und Konsequenzen wie die Feststellung der Irregularität, die im Laufe der Zeit erfolgt sind.“
In weiteren Mails präzisiert die Pressestelle, dass der Priester seit seiner ersten Stellungnahme zu dieser Frage im Jahre 2003 dem Bistum gegenüber bei der Aussage geblieben sei, dass er Karin Weißenfels nicht zur Abtreibung „gedrängt“ habe. Er habe ihr gegenüber aber die Abtreibung als Möglichkeit „erwähnt“.
Die Abtreibung und die sprachlichen Feinheiten der Mitwirkung
Hieß es nicht gegenüber dem „Spiegel“, er habe die Mitwirkung an einer Abtreibung geleugnet? Die katholische Kirche verurteilt Abtreibung scharf, jedenfalls dann, wenn Frauen sich dazu entschließen. Papst Johannes Paul II. sah darin die „Kultur des Todes“, Franziskus sprach von „Auftragsmord“. Kein Wort ist hart genug. Bei einem priesterlichen Bruder wird offenbar feinfühlig ziseliert, ob er dazu gedrängt oder geraten oder die Abtreibung als Möglichkeit erwähnt hat – als sei nicht all das, wie es im Kirchenrecht heißt, ein „positives Mitwirken“ an einer Abtreibung.
„Sehr geehrte Frau Florin, ich bitte Sie höflich, aber auch eindringlich, mir mitzuteilen, welchen Weg zur Lösung der Situation wir gemeinsam gehen können.“ So endet der Brief des Priesters. Was bisher nicht öffentlich wurde: Ich habe tatsächlich wenige Monate vor seinem Tod mit ihm gesprochen. Und zwar nicht, weil ich mich mit ihm auf einem gemeinsamen Weg wähne – das Wort gemeinsam ist ohnehin katholisch toxisch. Die Kontaktaufnahme hat presserechtliche Gründe. Denn hätte seine Darstellung wesentliche Zweifel an dem Bericht aus dem Februar begründet, hätte sich gegebenenfalls eine Pflicht zur weiteren Recherche ergeben.
Der Priester spricht über Sex
Am Montag, den 14. Juni, telefonieren wir. Einen Teil des Gesprächs, die Abfrage der relevanten Tatsachenbehauptungen, zeichne ich mit seinem Einverständnis auf. Aber erst einmal lasse ich ihn erzählen. Was ist zu 90 Prozent falsch an der Darstellung, will ich von ihm wissen? Mehr als 90 Prozent der Redezeit wird er dem Thema Sex widmen. Karin Weißenfels stellt den ersten sexuellen Kontakt im Buch so dar:
„Noch am selben Abend bat er mich, abends in sein Zimmer zu kommen, dort küsste und berührte er mich noch intensiver und ließ sich davon erregen. Dann hatte er einen Samenerguss. Das veränderte sein Verhalten von einer Sekunde auf die andere. Er schickte mich ohne Erklärung weg. Ich hatte in diesem Moment nicht verstanden, was vorgefallen war, ich war ja sexuell völlig unerfahren."
Die Frau als Verführerin - Klassiker der Schuldumkehr
Der Priester hingegen behauptet im Telefonat, sie habe die Initiative ergriffen, nicht er. Die Frau – die Verführerin, die Zölibatsknackerin, gegen die der arme geweihte Mann sich nicht wehren kann. Ein Klassiker der Schuldumkehr, bestätigt die katholische Theologin Ute Leimgruber. Aus ihrer Arbeit mit Autorinnen des Buches „Erzählen als Widerstand“ weiß sie:
„Wir haben viele Betroffenenberichte, wonach der weibliche Körper sofort mit Sünde assoziiert wird. Bei einer Berichterstattung in den digitalen Medien wird ganz häufig ein Bild verwendet, wenn über Missbrauch an Erwachsenen berichtet wird: Da ist immer der Priester im Vordergrund, meistens ein relativ attraktiver, junger. Im Hintergrund sieht man eine Frau, als würde sie schon nur lauern auf ihn. Also das ist auch so eine bildhafte Täter-Opfer-Umkehr.“
Der Priester gibt zu, zur Abtreibung geraten zu haben
Es gab die in verschiedener Hinsicht unerlaubte sexuelle Beziehung. Keine falsche Tatsachenbehauptung also. Und die Abtreibung? Er habe damals der Schwangeren vorgeschlagen, sie solle ins Ausland gehen, bis Gras über die Sache gewachsen sei, sagt der Priester im Telefonat. Aber sie habe sich nicht von ihm trennen wollen. Erst da habe er gesagt: Wenn du willst, dass wir zusammenbleiben, kommt nur eine Abtreibung infrage.
Als die Aufnahme läuft, frage ich noch einmal nach: Ist es zutreffend, dass Sie Karin Weißenfels zu einer Abtreibung geraten haben. Er sagt Ja - und spricht dann wieder über Sex. Den doppelten Machtmissbrauch – als Priester und als Vorgesetzter – erkennt er nicht.
Kein Wort zum Leid von Karin Weißenfels
Im Brief an mich schreibt der Geistliche: „Meine Würde und die Würde anderer Personen sind schwer verletzt worden. Mein guter Ruf und auch der gute Ruf anderer sind zerstört worden. .. Fast 32 Jahre leide ich nun unter meinem Fehltritt und habe alles, wirklich alles in meinen Kräften Stehende getan, die Schuld zu sühnen.“
Er droht mir mit Rechtsmitteln. Kein Wort zum Leid von Karin Weißenfels. Nicht im Brief, nicht im Telefonat. Nur ein Fehltritt, schreibt er. Die Hölle habe er ausgehalten, sagt er. Er sei ihr Opfer. Das hätte ich berichten sollen, so sieht er es. Gegen Ende des Gesprächs ist von rechtlichen Schritten keine Rede mehr, nur noch vom himmlischen Richter und dem „großen, heiligsten“ Beichtsakrament.
Ein Schritt hin zur Aufarbeitung
Aufarbeitung bedeutet auch, dass die Toten nicht in Ruhe gelassen werden. Jedenfalls dann nicht, wenn sie unter Tatverdacht stehen. Der treue Diener hat kurz vor seinem Tod tatsächlich wenn nicht der Wahrheit, so doch der Wirklichkeit einen Dienst erwiesen. Es gibt keinen Grund, an Karin Weißenfels‘ Glaubwürdigkeit zu zweifeln.