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Misshandelte Jugendliche und Kinder
Zwangsarbeit in DDR-Kinderheimen

Schikaniert, verprügelt, zur Arbeit gezwungen: Kinder und Jugendliche wurden in Heimen der DDR systematisch ausgebeutet und misshandelt. Das geht aus einer Studie der Bundesregierung hervor, aus der erstmals Details an die Öffentlichkeit kamen. Die Betroffenen leiden bis heute an den Spätfolgen.

Von Daniela Siebert |
    Protest gegen Unrecht in DDR-Kinderheimen
    Protest gegen Unrecht in DDR-Kinderheimen (imago stock&people)
    Rainer Buchwald ist 66 Jahre alt. An seine dramatische Jugend erinnern nicht nur seine kaputten Bandscheiben, auch sein linker Handrücken: eine damals selbst gestochene Tätowierung. "Hab mich lieb" steht dort. Als 12jähriger kam er das erste Mal in ein DDR-Kinderheim.
    "Also im Heim war ich von 1962 bis 65, Spezialkinderheim Sigrön, dann bin ich 1967 in ein Arbeitslager für Jugendliche gekommen, zur sozialistischen Umerziehung, also Schocktherapie, danach sechs Jahre Gefangener, dafür wurde ich von der Staatssicherheit in den Jugendwerkhof Lehnin gebracht."
    Neben der Trennung von Familie und Freunden belasteten ihn dort auch die Arbeitseinsätze, die sowohl unter Schikane fielen als auch unter Ausbeutung.
    "Kohlen schippen, dann musste halt der Wald gefegt werden – der Wald? – ja der Wald, das ganze Laub wegmachen, und dann mussten immer die Steingärten gemacht werden, gerade auf den sie keine Lust hatten, den haben sie das machen lassen, die anderen konnten spielen gehen."
    Kinder erlitten körperliche und psychische Schäden
    Auch außerhalb der Heime musste der Teenager arbeiten. In einer Ziegelei, in einer Schmiede und für landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Teilweise sogar nachts. Wie viele Kinder und Jugendliche in den DDR-Kinderheimen solche Zwangsarbeiten verrichten mussten sei unklar, sagt Professor Karsten Laudien, einer der Autoren der Studie. Als Größenordnung könne man aber von etwa 130.000 Personen im Alter zwischen 12 und 20 ausgehen.
    "Also das Spektrum der Arbeiten ist sehr groß: die Kinder haben zum Beispiel in Alt-Stralau, im Durchgangsheim, Fassungen hergestellt für Glühlampen, die Kinder haben im Tuchwerk Crimmitschau für sehr viele Unternehmen einfach Tücher gewebt, haben im Drei-Schicht-System ganz normal an der Produktion teilgenommen, an dem Fließband gearbeitet, haben Maurerarbeiten getan, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, dort mussten die alle Tätigkeiten tun, die der normale Bauer auch tun musste. Sozusagen: es gibt keinen Bereich, in dem die nicht gearbeitet haben."
    Viele betroffene Kinder erlitten durch ihre Arbeitseinsätze körperliche und psychische Schäden für den Rest ihres Lebens. Rainer Buchwald hat als schlimmste Zeit die Arbeit in einem Stahlwerk in Erinnerung:
    "Das Schlimmste war für mich die Schmiedearbeit. Weil da waren Verletzungsgefahren, im Sommer war es zu warm, im Winter kalt, es war immer Zunder, man hat immer glühende Spritzer abgekriegt beim Schmieden, mal mussten wir dann die 90 Kilo beiseite schmeißen, so einen Stahlklotz, dem hat man nicht angesehen, dass es 90 Kilo war, aber den musste man dann zum Hammer schmeißen – eine Person? – eine Person."
    Handfeste Wirtschaftsinteressen
    Ehemalige Heimbewohner berichten, dass sie an den Haaren gezogen, geschlagen, getreten oder auch inhaftiert wurden, wenn sie nicht die angewiesenen Arbeiten verrichten wollten. Auch der Nahrungsentzug und körperliche Belastungen bis zum Kollaps waren gängige Zwangsmaßnahmen.
    "Ich habe selber den Zwang miterlebt: an den Haaren ziehen, habe mit Arrest büßen müssen zweimal, wo ich gesagt habe "Ich arbeite nicht mehr für den Staat."
    Während einige der Arbeiten ganz klar darauf zielten, die Jugendlichen zu brechen und zu demütigen, gab es andere, hinter denen handfeste Wirtschaftsinteressen standen. Sowohl Firmen als auch Behörden und Einzelpersonen hätten davon profitiert, bilanziert die Studie. Und das Interesse an diesen besonderen Arbeitskräften stieg mit der Zeit:
    Viele Akten vernichtet oder verschollen
    "Und zwar würden wir sagen, dass der Missbrauch gewachsen ist. Weil man am Anfang der DDR-Zeit noch sehr große pädagogische Ideale hatte. Das heißt: Da gab es sehr viele Ideen, da gab es eben auch das Recht auf Arbeit, das Recht auf Schule, das Recht auf Ausbildung, aber mit den Jahren ist das verschliffen worden. Mit den Jahren war es so: in den 80ern hatten die Betriebe so große ökonomische Not, dass die großen Ideale von Ausbildung usw. niemanden mehr interessiert haben. Unsere Erfahrung ist, dass gerade in den 80er Jahren der Missbrauch durch Arbeit größer ist als in den 70er, 60er und 50er Jahren."
    Sehr oft bekamen die Jugendlichen auch gar keinen oder viel zu wenig Lohn für ihre Arbeiten. Auch Rainer Buchwald erlebte das. Seine Zwangsarbeiten wenigstens heute bei der Rente berücksichtigt zu bekommen, das sei ein gigantischer Papierkrieg berichtet er.
    Damit das für ihn und seine Leidensgenossen in Zukunft einfacher wird, sollte die neue Studie die Verhältnisse strukturell beleuchten. Schwierig, denn viele Akten sind vernichtet worden oder verschollen. Es sei schon auffällig, wie viele angebliche Hochwasserkatastrophen ausgerechnet in Aktennähe passierten merkte eine Betroffene auf der Tagung an. Trotzdem belegt die Studie eindeutig: Kinder und Jugendliche in den DDR-Heimen wurden ausgebeutet, wirtschaftlich missbraucht.