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Misshandlungen irakischer Gefangener "keine Panne"

Rainer-B Schossig: Die eine Hälfte der Welt ist erschrocken, die andere zornig. Was nie hätte geschehen dürfen, das ist passiert und zwar massiv: US-Soldaten haben im Irak Häftlinge misshandelt, gefoltert. In Abu Ghraib, diesem Gefängnis in Bagdad haben sich die Befreier des angeblichen Schurkenstaates als Schänder von, Beleidiger von Gefangenen entpuppt. Ein schmerzlicher aktueller Anlass, um etwas ins Allgemeine zu gehen in dieser Sendung, über die Allgegenwart, über die alltägliche Produktion, könnte man vielleicht auch sagen, des Bösen zu reden, über die menschliche Lust auch an Demütigung und Beleidigung der Schwachen. Ins Studio gekommen: Susan Neiman, Amerikanerin, Philosophin, Direktorin des Potsdamer Einstein Forums. Guten Morgen, Frau Neiman.

09.05.2004
    Susan Neiman: Guten Morgen.

    Schossig: Es gibt ja eine Reihe wissenschaftlicher Experimente, wo man Menschen ganz zufälliger sozialer Herkunft, vom Bildungsstandard her, in eine Situation hineingestellt hat, Laborsituation von Unterdrückung, Gewaltausübung, Demütigung. Also, da wird Menschen Gewalt gegeben über andere und immer wieder mit dem selben, beunruhigenden Ergebnis, dass Menschen dieser Versuchung des Bösen erliegen können. Sind wir als Spezies Mensch gerade in solchen kriegerischen Konflikten, wo ja Gesetzlosigkeit in gewisser Weise herrscht, emotional und gerade auch instinktiv geradezu überfordert?

    Neiman: Dass es im Krieg oder in extremen Situationen zu solchen Grausamkeiten kommen kann, ist schon längst bewiesen, da haben Sie absolut Recht. Deshalb ist Krieg die absolut letzte Möglichkeit, die immer benutzt werden kann. Dennoch muss ich sagen, war ich von diesen Bildern erschrocken. Ich hätte gedacht, angesichts des weltweiten Widerstandes zu diesem Krieg, dass Bush und Rumsfeld dafür sorgen müssten, dass es relativ anständig vor sich geht, wenn auch nur aus dem Grund, dass sie Recht behalten wollten. Die sind deshalb ganz besonders zu verurteilen, dass sie nicht dafür gesorgt haben.

    Schossig: Das Märchen vom klinisch sauberen Krieg. Man war ja im Westen durchaus ein wenig stolz, dass man versucht hat, die Zivilbevölkerung zu schützen, also ganz anders als etwa im Zweiten Weltkrieg, wo es ja Millionen Opfer gab unter der Zivilbevölkerung durch das Flächenbombardement. Dieser Mythos vom sauberen, klinisch geradezu wie eine Operation, ein chirurgisch operierender Krieg, das scheint ja nun eigentlich vorbei angesichts dieser ja ganz schmutzigen Ereignisse in den irakischen Gefängnissen. Gibt es eine Korrespondenz zwischen dieser Sehnsucht nach Sauberkeit und dann doch immer wieder diesem Zurückfallen in den Dreck?

    Neiman: Ich sage es einmal so: Man könnte sagen, ein Kindestod ist ein Tod zu viel und da es das wohl immer geben würde im Krieg, könnte man sagen, ein jeder Krieg ist zu verurteilen. Wir wissen, dass es manchmal, ganz, ganz seltsam, doch gerechte Kriege gibt. Dennoch, das, was in den Folterkammern von Abu Ghraib passiert ist, ist nicht einfach eine Panne, das ist etwas Systematisches.

    Schossig: Was heißt das? Sie haben ein Buch geschrieben, "Das Böse denken", jetzt gerade auch auf Deutsche erschienen, ist das sozusagen eine Systematik, dass das Böse präsent ist, dass wir uns dem gar nicht entziehen können?

    Neiman: Nein, es sind zwei Sachen erst mal. Das Buch geht eher über Moral als um Politik, wir können gleich darauf zu sprechen kommen. Was ich mit systematisch meinte, ist Folgendes: Das denkt sich kaum ein Mädchen aus West-Virginia aus, dass man solche Demütigen und Foltermethoden gerade da anwendet, wo sie für muslimische Männer vor allem am schmerzhaftesten sind. Deshalb müssen höhere, ob im Verteidigungsministerium, ob im CIA, das wird noch festgestellt, aber das muss von höheren Quellen kommen.

    Schossig: Sie haben eine sehr vielfältig gestaffelten Blick, ich habe Sie am Anfang als Philosophin angekündigt. Sie sind Jüdin, Sie kommen aus Atlanta, also aus den Südstaaten, Sie haben an der Harvard und an der Freien Universität auch in Berlin studiert, Sie waren Wissenschaftlerin in Yale, In Tel Aviv. Wo würden Sie sich eigentlich positionieren, wenn Sie so ein Urteil treffen, das ja auch ein, Sie sagten eben ein moralisches Urteil ist, ein ethisches? Fundiert das auf dem Studium der europäischen Philosophie, nehme ich einmal an? Was kommt dazu bei Ihnen?

    Neiman: Ich lebe in der Aufklärung, wenn Sie mich fragen möchten. Also, stimmt das, da sind alle Einflüsse und das sind alles ziemlich vielseitige Einflüsse. Aus der Kindheit habe ich sehr viel von Bürgerrechtsbewegungen mitbekommen, da ich im amerikanischen Süden aufgewachsen bin, gehöre eher zum liberalen Judentum, eben diesem, von mir aus sogar, kantianisch geprägten Strom im Judentum. Und aus meinem Studium, aus meiner Überzeugung ist die Aufklärung der Ort, wenn es ein Ort sein soll, wo ich mich zu Hause fühle.

    Schossig: Aufklärung also auch über das so genannte Böse. Sie sagen, Sie wollen das Böse entdämonisieren, fühlen sich der Aufklärung verpflichtet, setzen sozusagen zur Überwindung des Konflikts der Kulturen auf die Kraft des Dialogs?

    Neiman: Das tue ich, weil ich keinen anderen Weg sehe.

    Schossig: Das Böse ist uralt, kann man das denn überhaupt durch Denken in den Griff bekommen? Sie werfen ja der Philosophie, gerade auch der des zwanzigsten Jahrhunderts vor, dass das Böse zu wenig in den Blick genommen worden ist, "Prinzip Verantwortung" vielleicht bei Jonas. Aber wo taucht es auf?

    Neiman: Es taucht bei vielen auf, auch im zwanzigsten Jahrhundert, aber im Vergleich zum achtzehnten und neunzehnten ist es geradezu verschwunden. Im achtzehnten Jahrhundert und auch im neunzehnten war die Frage nach dem Bösen, was macht das Böse aus und wie kann man sinnvoll als handelnder, denkender Mensch in einer zum Teil bösen Welt damit umgehen. Das war die zentrale Frage der Philosophie. Wenn man die großen Geister der Philosophie näher anschaut, das habe ich in meinem Buch gemacht, das geht von Leibniz bis Rousseau, bis Kant, bis Hegel und weit darüber hinaus, sieht man eben hier eine rote Linie, wie diese Frage, die wir uns alle irgendwann einmal, mehr in der Jugend, stellen, sieht man, wie sich diese Frage durch die moderne Philosophie durchzieht.

    Schossig: Sadismus sagt man ja auch, wenn man diese Bilder betrachtet. De Sade, auch zur Zeit der Aufklärung gelebt, was hat de Sade eigentlich zur Aufklärung des Bösen, des Perversen beigetragen?

    Neiman: Ich habe ein langes Kapitel über de Sade geschrieben in dem Buch, den man betrachten muss, auch wenn es nicht gerade Freude bringt, de Sade ist eine Facette des Bösen. Ich glaube, wir passen fast zu sehr auf ihn auf, weil er ein Bild des Bösen liefert, das wir eigentlich gerne haben, weil es doch den meisten Menschen fremd ist. Viel näher und viel gefährlicher ist eben die banalere Form des Bösen ...

    Schossig: Die Komplexität, wie Sie sagen, also diese vielfältigen Alltagsformen?

    Neiman: Genau. Was leider, ich sage nicht wir alle, das weiß man nie von sich selber, aber wo viele Menschen in der Gefahr sind, in die falsche Situation, auch ins Böse zu geraten.

    Schossig: Würden Sie das Böse als eine anthropologische Konstante betrachten wollen oder was ist es eigentlich?

    Neiman: Das möchte ich nicht, ich sage einmal so, es ist eine Möglichkeit, die, wie Sie sagen, uns schon seit vielen Jahren begleitet. Wir sollen aber nicht vergessen, dass wir verschiedene Formen des Bösen auch mit Erfolg bekämpft haben. Ich nenne die Sklaverei, ich nenne trotz der Bilder, die uns jetzt allen im Kopf sind, die öffentliche Hinrichtung durch Foltertod, was in jeder europäischen Stadt vor 300 Jahren zum normalen Alltag gehörten. Bisschen Fortschritt haben wir gemacht und daran müssen wir uns erinnern, um weiter Fortschritt zu machen.

    Schossig: Der Umgang mit dem Bösen, Sie haben ja einige, in Ihrem Buch kommen ja auch große Stationen vor, es reicht ja im Grunde vom Erdbeben in Lissabon, zur Zeit der Aufklärung übrigens, bis hin nach Auschwitz und sogar bis zum 11. September. Ihr Buch ist kurz danach erschienen, man hat es vielleicht etwas verkürzt auf eine politische Sicht und Reaktion auf den 11. September, was es aber gar nicht war. Können Sie diese Stationen noch mal ganz kurz verbinden?

    Neiman: Mir geht es darum zu zeigen, dass das Böse nicht ein Gesicht hat, dass man verschiedene Formen des Bösen in Betracht ziehen müsste. Vor der Aufklärung oder kurzen, modernen Aufklärung war natürlich ein Böses, Erdbeben, Flut, et cetera. Auch Teil des Bösen mit dem moralischen Bösen, das man mit böser Absicht ...

    Schossig: Auch diese Sinnlosigkeit, Gott kann da nicht dahinterstehen hinter so einer Katastrophe?

    Neiman: Genau. Wobei es eigentlich nicht nur um Gott ging. Es hat nicht so sehr die orthodoxe, religiöse Führer betroffen wie Leute, wie Voltaire, die ja fast säkular waren. Danach hat man einen eher modernen Begriff des Bösen, wo böse war, was mit böser Absicht getan werden könnte. Seit Auschwitz wissen wir, dass man vieles Böse ohne dämonische, böse Absicht auch anrichten kann.

    Schossig: Die Banalität des Bösen, von Hannah Arendt beschrieben.

    Neiman: Genau. Die sie großartiger Weise beschrieben hat. Und jetzt stehen wir, glaube ich, vor einem neuen Kapitel. Das Wichtigste aber, was wir dabei beachten müssen, ist, dass wir uns nicht auf ein Paradigma des Bösen fixieren sollen.

    Schossig: Noch mal zum Schluss den 11. September. Was ist das? Sie schreiben, glaube ich, ein Atavismus verbunden mit Hightech. Was ist das für eine Form, die uns da plötzlich entgegentritt des so genannten Bösen?

    Neiman: Also, moralisch gesehen war das kein Novum. Moralisch gesehen war das ein sehr absichtsvoller Vorgang mit modernen, politischen Neuigkeiten, das ist ganz klar. Aber moralisch gesehen war das nichts Neues.

    Schossig: Das war Susan Neiman, zu Gast bei uns hier im Studio, Philosophin, Leiterin des Einstein-Zentrums Potsdam, im Gespräch über die Wurzeln des so genannten Bösen. Vielen Dank.

    Neiman: Bitte.