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Mississippi Blues

2005 stattete der Hurrikan Katrina dem US-Bundesstaat Louisiana einen verheerenden Besuch ab. Weite Teile der Küste und vor allem die Metropole New Orleans wurden verwüstet. "The Big Easy" hat sich von dieser Katastrophe bis heute nicht erholt. Selbst drei Jahre nach Katrina sind zwischen 40 und 50 Prozent der einstigen Bewohner immer noch nicht zurückgekehrt.

Von Arndt Reuning |
    Schon früh am Morgen liegt die feuchte, warme Luft wie ein nasses Handtuch über der Stadt. Am French Market im Café du Monde schlürfen die Touristen ihren Cafe au Lait, während Russ Ross seiner Arbeit nachgeht - als Straßenmusikant: Der Zen Sufi Hindu Punk Rasta Low Rider spielt seine selbst komponierten Songs. Diesen hier hat er geschrieben, nachdem Hurrikan Katrina New Orleans verwüstet hatte.

    "Mein Haus stand gut dreieinhalb Meter unter Wasser in der Lower 9th Ward. Noch nicht so lange her, für mich ist es wie gestern. Das war krass – es hätte mich fast das Leben gekostet. Mein Motorrad und mein Auto habe ich verloren, aber meine Hendrix-Alben habe ich gerettet und meine Playstation – das war alles."

    New Orleans ist Musik, ist Dixieland, Blues, Cajun und Zydeco. New Orleans ist Schweiß, Sex und Voodoo. Der Golf von Mexiko und Endstation Sehnsucht. Louis Armstrong und French Quarter. Jazz Funerals und Mardi Gras. New Orleans ist ein Klischee, und New Orleans ist anders. Man könnte glauben: Die Stadt existiert nicht wirklich. New Orleans ist Legende. So wie Babylon, Samarkand, Vineta.

    New Orleans – ihre Existenz könnte tatsächlich bloß ein Spiel auf Zeit sein. Die Stadt liegt am Grunde einer Landsenke unterhalb des Meeresspiegels wie in einer großen Schüssel. Auf drei Seiten ist sie von Wasser umgeben. Direkt im Norden grenzt sie an den Lake Pontchartrain, zum Süden und Osten hin erstrecken sich Feuchtgebiete bis an den Golf von Mexiko. Dieses Land sinkt seit Jahrzehnten unaufhaltsam immer tiefer in den Grund. Gleichzeitig rückt die Küste im Eiltempo immer näher an die Stadt heran, während die globale Erderwärmung den Meeresspiegel höher und höher steigen lässt. Jeder Hurrikan kann so zu einer Bedrohung für die Stadt werden. Katrina war nur ein Vorgeschmack. Kein Sturm der höchsten Kategorie fünf, sondern bloß der Kategorie drei, der zudem noch an der Stadt vorbei gezogen ist.

    "Es hätte schlimmer kommen können. Und das macht mir wirklich Angst: Ein Sturm dieser Stärke hätte uns normalerweise Ärger bereiten sollen – aber er hätte uns nicht zerstören sollen."

    Mark Davis, Direktor am Institute on Water Resources Law and Policy der Tulane University in New Orleans. Er hat allen Grund zur Sorge, denn seit Katrina vor drei Jahren ist das Hochwasserschutzsystem in New Orleans nicht besser geworden. Mitte Juni hat die National Oceanic and Atmospheric Administration NOAA ein Gutachten veröffentlicht. Hauptaussage: Schon ein Hurrikan der Kategorie zwei könnte eine Flutwelle vor sich her treiben, welche die Deiche und Flutmauern der Stadt überwindet. Trotz aller Anstrengungen des US Army Corps of Engineers, also des Pionierkorps des amerikanischen Heeres, welches für den Hochwasserschutz in New Orleans verantwortlich ist. An den Konzepten mangelt es nicht, sagt Mark Davis.

    "Oh, es gibt Millionen von Plänen. Jeder hat einen Plan, aber im Moment wird keiner davon umgesetzt. Egal ob auf lokaler oder nationaler Ebene. Es ist kein Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten erst sehr spät solche Phänomene wie Klimawandel und steigende Meeresspiegel als Tatsache anerkannt haben. Und auch erst sehr spät gemerkt haben, dass die Deichsysteme und Anlagen zum Hochwasserschutz, die vor einer Generation errichtet worden sind, nicht mehr unbedingt den Herausforderungen gewachsen sind, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind."

    In den Wochen nach der Katastrophe hatte das Pionierkorps alle Hände voll damit zu tun, die Lücken in den gebrochenen Deichen wieder zu schließen und das Wasser aus der Stadt zu pumpen. Rund 220 Meilen beschädigte Deiche und Schutzwände hat die Truppe repariert. Doch drei Jahre nach Katrina arbeiten die Ingenieure noch immer an einem Provisorium. Mike Park vom Army Corps of Engineers, zuständig für das Hurrikan Schutzsystem.

    "Das System im Moment ist unvollständig. Was wir bisher fertig gestellt haben, sind vorläufige Schutzbauten und Pumpstationen. Die bieten zur Zeit Sicherheit vor einer Sturmflut, wie sie durchschnittlich einmal in 100 Jahren auftritt. Also mit einer jährlichen Wahrscheinlichkeit von einem Prozent. Das sind Elemente, die eher zweckdienlich sind, aber nicht besonders langlebig. Daher erwarten wir, dass wir sie im Laufe der kommenden Jahre bis 2012 durch dauerhafte Anlagen ersetzen müssen."

    Eine Sturmflut, wie sie statistisch gesehen einmal in 100 Jahren vorkommt; Das entspricht ungefähr einem Hurrikan der Kategorie zwei bis drei auf der bisher verwendeten Skala, also einem Sturm, der noch nicht einmal so stark ist wie Katrina, der einmal in 400 Jahren vorkommt. Und außerdem: Auch das neue Deichsystem wird kein Modell aus einem Guss sein, sondern eher ein Flickenteppich aus neuen und alten Bauten – mit manchen alten Fehlern und Schwachstellen.

    Im Jahr 1965 war der Hurrikan Betsy über den Süden von Louisiana hinweg gefegt, hatte Stadtteile im Osten von New Orleans und dem St. Bernard Parish verwüstet und unter Wasser gesetzt. Die Geburtsstunde des Hurrikan-Schutz-Programms, von Präsident Lyndon B. Johnson versprochen, vom US-Kongress beim Army Corps of Engineers in Auftrag gegeben. Als Katrina fast auf den Tag genau vierzig Jahre nach Betsy auf die Küste traf, war das Schutzsystem noch immer nicht fertig gestellt. Und die Schwachstellen traten offen zu Tage.

    Die Lower 9th Ward im Osten von New Orleans. Ein Viertel, in dem vor Katrina vor allem afroamerikanische Arbeiter lebten – bis der Stadtteil von einer gut sechs Meter hohen Flutwelle nahezu ausgelöscht wurde. Bis jetzt hat sich hier nicht viel getan – die Trümmer wurden weg geräumt, das Gelände liegt zum großen Teil brach. Unkraut, Schilfgras und mannshohe Büsche gedeihen prächtig und überwuchern, was von den Häusern übrig geblieben ist: Meistens nur die Fundamente, eine Gasuhr oder ein paar Treppenstufen, die nun ins Leere führen. Vereinzelt stehen noch ein paar der einstöckigen Holzhäuser, schwer beschädigt, die Fenster vernagelt, die Front noch immer mit den aufgesprühten Ziffern der Nationalgarde markiert. Trümmer auf dem Dach lassen ahnen, wie hoch das Wasser gestanden haben muss. An einer Weggabelung ein Kreuz aus zwei alten Brettern, ein vertrockneter Trauerkranz daran. Ein Bagger, der die Trümmer wegräumt, ein paar Bauarbeiter, die Pfähle in den Boden rammen – und eine Gruppe von Studenten.

    "My name is Steve Nelson. I’m a professor of geology at Tulane University.”"

    Eigentlich ist Steve Nelson Vulkanologe. Aber nach Katrina ist er zum Spezialisten für die Geologie von New Orleans avanciert. In den Monaten nach der Katastrophe war an der Tulane University wenig zu tun, und so stellte Steve Nelson eigene Nachforschungen an. Wie hatte ein Sturm mittlerer Kategorie fast die gesamte Stadt überfluten können? Seit zweieinhalb Jahren bietet der Professor nun Exkursionen an zu den Orten, an denen Katrina die schlimmsten Verwüstungen angerichtet hat. Die Ursache für die Flutwelle in der Lower 9th Ward war ein Bruch in der Schutzwand zu einem angrenzenden Schifffahrtskanal. Nelson:

    ""Was geschah, als diese Schutzwände zusammenbrachen: Naja, das Wasser im Kanal stand fünfzehn Fuß über dem Meeresspiegel, der Erdboden hier liegt fünf Fuß unter Normal Null. Also: Eine zwanzig Fuß hohe Wasserwand rauschte hier durch. Fast wie bei einem Tsunami. Die Häuser direkt davor hat die Welle einfach weggefegt und weiter hinten wieder abgeladen. Natürlich hat niemand in den Gebäuden das überlebt. Häuser, die nicht im Boden verankert waren, verwandelten sich zu Booten und sie trieben hier überall herum. Bis sie sich gegenseitig rammten oder in einem Baum hängen blieben. Viele sind bei solch einem Zusammenstoß auseinander gebrochen. Es gab Menschen, die waren auf dem Dach ihres Hauses gefangen, trieben mit ihm zusammen in den Fluten, sprangen von Dach zu Dach, weil ihnen klar war, dass ein Zusammenstoß die Häuser zerstören würde. Die Zahl der Todesopfer hier war sehr hoch. Genaue Zahlen habe ich nicht, aber so um die 200 Menschen sind hier gestorben."

    Das Wasser brach aus dem so genannten Industrial Canal über das Viertel herein. Der gehört zu einem ganzen System von Navigationskanälen, die den Mississippi, den Lake Pontchartrain und das offene Meer miteinander verbinden. Während des Hurrikans im August 2005 haben sie die Flut direkt in die Stadt geleitet. Dort trafen die Wassermassen auf die Deiche, von denen viele einfach aus dem Aushub bestanden, den die Arbeiter während des Kanalbaus aus dem Boden gebaggert hatten. Schlammiger, sandiger Boden, mit Muschelschalen durchsetzt. Nichts, was dem Wasser einen Widerstand hätte bieten können. Viele der Deiche, wie auch hier an der Lower 9th Ward sind zusätzlich mit Flutwänden auf der Krone versehen, mit stählernen Spundwänden im Boden mehr oder weniger fest verankert. Als das Wasser über die Oberkante stieg, nutzten die Spundwände aber auch nichts mehr. Steve Nelson:

    "Bei so einer Schutzwand aus Zement wie hier, wenn da das Wasser über den Rand fließt, dann hat man auf der Landseite einen Wasserfall, der auf den Deich hämmert. Das heißt: Die Erde hinter dem Deich wird langsam weggespült. Von der Kanalseite her drücken die Wassermassen weiter gegen die Wand, so dass sie sich in Richtung Land neigt. Ein Spalt entsteht, das Wasser fließt runter zur Spundwand – und irgendwann bricht das alles zusammen. Genau das ist hier geschehen – mit katastrophalen Folgen."

    An anderen Stellen reichten die Spundwände nicht tief genug in den lockeren Boden hinein. Das Wasser suchte sich seinen Weg durch das Erdreich, lockerte die Fundamente der Deiche, so dass die komplette Front ins Rutschen kam. Nelson:

    "Im Laufe der Exkursion heute werde ich öfters darauf hin weisen, dass sich das Army Corps of Engineers für eine fehlerhafte Konstruktion entschieden hat – oder manchmal einfach für die schnellste Lösung. Das Army Corps of Engineers ist letztendlich verantwortlich für die Deiche und damit auch für die Katastrophe. Aber es gibt auch andere Faktoren. Es hat nicht nur am Army Corps of Engineers gelegen, nicht nur an einer einzelnen Person beim Army Corps of Engineers. Für mich lässt sich die Ursache für das Desaster in einem Wort zusammenfassen: Nachlässigkeit. Die Leute sagen: Ja, wir bauen das jetzt so. Es ist nicht unbedingt optimal, aber es wird seinen Zweck schon erfüllen. Oder: Um Stürme der Kategorie fünf müssen wir uns keine Sorgen machen. Wir evakuieren einfach alle, und es ist okay. Genau das ist diese Einstellung: Nachlässigkeit auf ganzer Ebene."

    Doch die Ingenieure beim Pionierkorps des US-Heeres haben ihre Lektionen aus Katrina gelernt, sagt Mike Park. Dabei spielen zwei Buchstaben aus dem Alphabet eine wichtige Rolle: ihre Form beschreibt das Profil der Flutwände. Park:

    "Viele der Schutzwände, die nach den alten Standards des Ingenieur-Corps errichtet worden sind, waren so genannte I-Wände: Flache Platten aus Beton auf einer Spundwand, die nach unten in den Deich getrieben wurde. Während des Hurrikans Katrina hat sich herausgestellt, dass diese Form sehr instabil ist. Wo wir solche Elemente nun ersetzen, da tauschen wir sie gegen eine sehr viel robustere Konstruktion aus – die so genannte T-Wand. Wie der Buchstabe T, der auf dem Kopf steht. Getragen werden die Wände von Fundamenten, die tief in den Boden hinein reichen, von Pfählen, die von der Bodenplatte zur Seite hin weglaufen. Das ist eine sehr viel stabilere Konstruktion."

    Zusätzliche Betonsockel auf der Landseite sollen verhindern, dass Wasser, welches den Deich überspült, den Boden fortschwemmt. Die neuen Spundwände reichen tiefer in den Boden hinein, bis zu wasserundurchlässigen Schichten. Und die Ingenieure benutzen neuartige Baumaterialien. Park:

    "Wir benutzen Geotextilien, Stoffbahnen, um die Stabilität von Erddeichen zu erhöhen. So dass wir sie eventuell auf einer schmaleren Grundfläche errichten können. In vielen unserer Baugebiete setzen uns die Grundstücke vor Ort enge Grenzen. Wir sind dann eingezwängt inmitten von Privatbesitz und anderer Infrastruktur. Im Osten von New Orleans zum Beispiel müssen wir Deiche errichten zwischen vielbefahrenen Straßen und Eisenbahnlinien."

    Einfacher wäre es natürlich, die Flutwelle erst gar nicht so nahe an die Stadt heran zu lassen und die Schifffahrtskanäle zu schließen. Aber New Orleans ist auch ein Knotenpunkt für Handel und Verkehr. Im Hafen werden riesige Mengen Korn und Getreide aus dem Mittleren Westen der USA umgeschlagen. Große Teile der Vereinigten Staaten werden von hier aus mit Fisch und Meeresfrüchten versorgt. Und die Erdölindustrie vor der Küste von Louisiana ist auf das Eingangstor zum amerikanischen Süden angewiesen. Deshalb suchen die Ingenieure des Pionierkorps nach einer Möglichkeit, die Stadt vom Hochwasser abzuriegeln, ohne bei Niedrigwasser die Schifffahrt zu behindern. Park:

    "Unser Konzept sieht so aus: Wir errichten ein Sperrwerk, ein Sturmflutwehr, an dem Ort, wo beide Kanäle östlich von New Orleans zusammenlaufen. Die Kanäle sind wirtschaftlich wichtige Wasserwege. Damit die Navigation dort nicht beeinträchtigt wird, müssen wir dafür sorgen, dass es einen Durchfahrtsweg gibt: zwei schwenkbare Tore, die man schließen könnte, bevor eine Hurrikan-Sturmflut aufzieht. Damit ließe sich das Gebiet schützen, so dass eine Wasserfront nicht über die Kanäle in die Stadt geleitet wird."

    Die Planung für die Anlage befindet sich allerdings noch in der Konzeptphase. Genauso wie die Konstruktion eines weiteren Flutwehres, welches das Kanalsystem vom Norden her abriegeln soll, vom Lake Pontchartrain. Denn das ist der Weg, den die Wassermassen genommen haben, die im August 2005 über New Orleans hereinbrachen. Einerseits über die Schifffahrtskanäle. Andererseits über ein zweites System von Kanälen. Und dieses leitete die Flut schnurstracks mitten ins Herz der Stadt.

    Enge Straßen, schmiedeeiserne Balkone, kleine Läden und Bars. Pferdekutschen und Wahrsager am Jackson Square – das ist das French Quarter. Dieses Viertel hat die Sturmflut weitgehend unbeschadet überstanden. Genauso wie der historische Garden District mit seinen Alleen und Holzvillen. Beide Stadtteile gehören zu den ältesten Teilen der Stadt. Und sie liegen dicht an der Uferschleife des Mississippi, und damit am Rand der riesigen Schüssel namens New Orleans. Hier hat der Fluss vor Jahrtausenden niedrige natürliche Deiche aufgeschüttet. Im Zentrum der heutigen Stadt hingegen erstreckte sich einst ein morastiger Sumpf, der allmählich trocken gelegt wurde. Es entstand ein weitverzweigtes Drainagesystem mit zahlreichen Entwässerungskanälen, die das Wasser in den Lake Pontchartrain beförderten. Als Folge senkte sich der Erdboden. Mike Park vom Army Corps of Engineers:

    "Jeder Regentropfen, der in New Orleans landet, muss wieder herausgepumpt werden. Es gibt kein natürliches Gefälle. Traditionell liegt es in der Verantwortung der Kommunalverwaltung, das Regenwasser in den Lake Pontchartrain oder den Mississippi zu leiten und es von den bebauten Teilen der Stadt fern zu halten."

    Das wurde der Stadt aber während Katrina zum Verhängnis: Der Sturm presste das Hochwasser aus dem Lake Pontchartrain zurück in die Kanäle, weil es an den Mündungen keine Tore gab, die man hätte schließen können. Die Flutwände auf den Deichen links und rechts von den Kanälen gaben dem Druck schließlich nach, das Wasser strömte solange in die Innenstadt, bis es mit dem See auf gleicher Höhe stand. Mittlerweile hat das Army Corps Teile der Deichanlagen erneuert und die Kanalöffnungen zum See hin mit Fluttoren verschlossen. Aber optimal ist das System noch lange nicht.

    Es ist Mittag geworden. Der tägliche Regenschauer geht über der Stadt nieder. Steve Nelson und seine Studenten haben sich im Trockenen unter einer Autobahnbrücke versammelt. Ein großes braunes Gebäude scheint hier einen Kanal abzuschließen. Nelson:

    "Das ist hier eine Pumpstation am Ende eines Entwässerungskanals. Das Wasser wird hier aus dem unterirdischen Orleans Canal hoch gepumpt durch diese dicken braunen Röhren dort in den oberirdischen Kanal und von dort in den See. Das heißt, sie haben all das Geld ausgegeben, um eine Hochwasserschutzwand vom Lake Pontchartrain bis hierher zu bauen. Und dann haben sie aufgehört und da hinten eine Lücke von gut 100 Metern gelassen – ohne Schutz. Warum haben sie das gemacht? Als das Army Corps of Engineers den Antrag gestellt hat, eine Flutwand bis an das Gebäude zu ziehen, hat die lokale Entwässerungsbehörde gesagt: He, wartet mal. Wenn die Wand bis an unsere Pumpstation heran geht, die 150 Jahre alt ist, und wenn sich dann das Wasser dort aufstaut, dann bricht die Gebäudewand zusammen, und New Orleans steht unter Wasser. Da hat das Corps gesagt: Okay, dann lassen wir einfach ein großes Loch in der Schutzwand und setzen die Stadt unter Wasser. Statt einfach eine neue Pumpstation zu bauen oder irgendwas, um nicht diese Lücke da zu haben."

    Der Orleans Canal hat dem Katrina-Hochwasser standgehalten. Aber etwas weiter östlich liegt der London Avenue Canal, ein Entwässerungskanal, der während des Unwetters einen Deichbruch erlitten hat. Das Pionierkorps hat die Stelle wieder repariert und mit den neuen, stabilen T-Wänden bewehrt. Auf der Höhe des Hauses 5012 am Warrington Drive aber geht die Konstruktion wieder in die alten I-Wände über. Steve Nelson:

    "Da drüben das sind die alten I-Wände. Und das hier ist auch eine I-Wand. Auch wenn sie neu ist. Die T-Wände beginnen dort drüben. Warum hat das Corps hier eine neue, weniger stabile I-Wand hingesetzt? Ich sag’ es Euch: Die Schutzwand an dieser Stelle hat während Katrina stand gehalten. Das Corps war aber nur autorisiert, solche Elemente zu ersetzen, die versagt haben. Aber sie mussten hier am Übergang die alte Mauer ersetzten, um an die neuen T-Wände anzuschließen. Dafür durften sie nur I-Wände nehmen, weil diese Stelle hier nicht versagt hatte."

    Und dann will einer der Teilnehmer wissen, was es mit den Zeitungen in St. Bernard Parish auf sich hatte, die zwischen den einzelnen Wandplatten gefunden wurden. Damit sich die Wände in der Hitze ausdehnen können, sind sie elastisch miteinander verbunden: Auf der Kanalseite eine Gummidichtung, dann ein Füllmaterial und auf der Landseite Spachtelmasse. Nelson:

    "In St. Bernard Parish hat ein Bauunternehmer die Gummidichtung eingesetzt. Aber weil das richtige Füllmaterial fehlte, haben sie Zeitungen dazwischen gestopft und dann die Spachtelmasse darüber geschmiert. Als die Spachtelmasse abfiel, kam auch das Papier wieder zum Vorschein. Zugegeben: Das war wirklich nicht so sicherheitsrelevant, es kommt vor allem auf die Gummidichtung an. Aber sie haben einen Fehler gemacht und versucht, das zu verbergen. Das Ingenieur-Corps sagt: ‚Ihr müsst uns vertrauen’, aber gleichzeitig finden wir diese Zeitungen in ihren Schutzwänden. Sie sagen: ‚Das ist der einzige Ort, wo das passiert ist’. Woher wissen sie das? Es ist der einzige Ort, wo jemand nachgesehen hat. Und wenn das so weitergeht, dann müssen wir uns Sorgen machen um das Ingenieur-Corps."

    Es ist nicht der einzige Grund zur Sorge. All die Deiche, Schutzwände, Fluttore, Sperrwerke, Schleusen – das alles könnte sich als zweitrangig erweisen, wenn es nicht gelingt, ein anderes Problem in den Griff zu bekommen: den drastischen Verlust des Marschlandes, das zwischen New Orleans und dem Golf von Mexiko liegt. Feuchtwiesen, Zypressensümpfe und Spanisches Moos, das von den Bäumen hängt -rund dreißig bis vierzig Quadratkilometer dieser Feuchtgebiete versinken jährlich im Meer.

    "Kurzfristig müssen wir auf alle Fälle die Deiche verstärken. Aber auf lange Sicht, wenn wir da nichts gegen den Landverlust im Mississippi-Delta unternehmen, dann bewegt sich die Küste geradewegs auf New Orleans zu. Und wenn sie dort ankommt, dann ist der Schutz der Stadt vor Sturmfluten gleich null","

    sagt Gary Parker, Professor an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Die Feuchtgebiete bilden einen natürlichen Puffer für die Sturmfluten. Sie entziehen den Wassermassen ihre Energie. Je mehr gesundes Land zwischen New Orleans und dem offenen Meer liegt, desto besser. Doch das Land verschwindet. Parker:

    ""Es ist schon immer aus ganz natürlichen Gründen abgesunken, aber menschliche Aktivitäten haben das nun beschleunigt. Normalerweise bringt der Fluss Sedimente mit sich. Er überflutet das Land, lädt die Sedimente in der Senke ab – und das gleicht das Absinken aus. Das geschieht aber heutzutage nicht mehr – wegen der Deiche am Flussufer. Der Mississippi ist in ganz Louisiana eine große Pipeline, die alle Sedimente geradewegs nach draußen in den Golf von Mexiko transportiert. Und nur sehr wenig Sedimente in den Feuchtgebieten zurück lässt, die das Delta wieder aufbauen können."

    Außerdem hat vor allem die Erdölindustrie zahlreiche Schifffahrtskanäle durch die Feuchtgebiete hindurch gezogen. Über diese Rinnen gelangt salziges Meerwasser in das Marschland und lässt dort die Pflanzen absterben. Resultat: die Schutzwirkung der Vegetation gegen Sturmfluten sinkt, der Boden erodiert noch schneller. Das Pionierkorps des US-Heeres ist sich der Problematik durchaus bewusst. Der Projektleiter Mike Park:

    "Unsere Langfristperspektive sieht ein Projekt vor zum Schutz und zur Wiederherstellung der Küste Louisianas, LACPR. Ein Projekt, das sich den Aufgaben zu widmen versucht: Die Barriereinseln vor der Küste wieder aufzubauen, in den Deichen des Hochwasserschutzsystems im Mississippi Durchlässe einzubauen, so dass neue Sedimente eingetragen werden können. Wir wollen die Feuchtgebiete und Marschen wiederherstellen, als Puffer, der die Sturmfluten effektiv bremsen kann."

    Bereits im Jahr 1998 war ein ähnlicher Plan zur Wiederherstellung der Küste vorgelegt worden: Küste 2050. Die Umsetzung hätte rund 14 Milliarden Dollar gekostet – über 30 Jahre hinweg. Das war zu teuer, und so entstand ein abgespeckter Plan, vorgelegt 2003, zwei Jahre vor Katrina. Mittlerweile gehen Experten davon aus, dass die Feuchtgebiete in zehn Jahren unwiederbringlich verloren sein werden, wenn jetzt nichts geschieht. Für Gary Parker von der Universität von Illinois keine ausweglose Situation. Die Vereinigten Staaten hätten schon durchaus größere Ingenieurprojekte bewältigt, sagt er. Parker hat untersucht, welchen Einfluss riesige Tore seitlich in den Mississippi-Deichen hätten, die bei einem Hochwasser geöffnet werden könnten – um so neue Sedimente über das Land zu verteilen. Parker:

    "Ich habe mit einem Team zusammengearbeitet, das alle Aspekte untersucht hat: Die Geologie der Region, welche das Delta in der Vergangenheit hat entstehen lassen, die Ökologie eines gesunden Deltas, die Zufuhr von Sedimenten. Wir haben ein spezielles numerisches Modell entwickelt mit verschiedenen Optionen, wie wir das Land wiederherstellen könnten, wie schnell das geht und wo wir unsere Tore hinsetzen müssten."

    Selbst wenn die Wissenschaftler die höchste Sinkrate in ihr Modell einsetzen, könnten allein durch zwei Tore noch immer 700 Quadratkilometer Land in 100 Jahren neu geschaffen werden. Und die Kosten? Parker:

    "Das sind ganz erhebliche Kosten. Und sie erfordern auch erhebliche Investitionen. Aber wenn ich das so sagen darf: Die sind noch immer zu vernachlässigen im Vergleich zu dem, was wir in Irak ausgegeben haben."

    Für den Umweltrechtler Mark Davis von der Tulane University ist es auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung:

    "Die Ausgaben werden ganz unglaublich sein. Sie sind es ja jetzt schon. Die wirkliche Frage ist aber doch: Was bekommen wir dafür? Das haben wir bei Katrina gesehen. Unsere Bundesregierung hat gesagt, sie könne die vierzehn oder fünfzehn Milliarden Dollar nicht aufbringen, um unsere Feuchtgebiete wiederherzustellen. Das war vor dem Sturm. Danach hat sie 100 Milliarden Dollar ausgegeben, nur um die Scherben zusammenzufegen. Es geht hier nicht um Geld. Die Dinge werden sich wandeln. Die wirkliche Frage lautet: Werden wir den Wandel gestalten oder werden wir sein Opfer sein?"

    In den Tagen nach Katrina ist die Frage aufgekommen: Lohnt es sich überhaupt, eine Küstenstadt wieder aufzubauen, die am Grund einer tiefen Wanne unterhalb des Meeresspiegels liegt und regelmäßig von Sturmfluten heimgesucht wird. Manche Experten sagen: Ein Schutz ist möglich, aber nur mit einem weitläufigen Sicherheitssystem, mit der "großen Mauer von Louisiana". Als Vorbild könnten die Niederlande dienen mit ihren küstenweiten Deichen und Sperrwerken. Noch einmal Steve Nelson, der Geologe von der Tulane University.


    "Also stellt sich die Frage: Ist New Orleans es wert, gerettet zu werden? Und natürlich gibt es viele wirtschaftliche Gründe, darauf mit ‚ja’ zu antworten. Wir haben hier den zweitgrößten Hafen im ganzen Land, die Fischerei- und die Erdölindustrie. Das ist hier eine ökonomisch wichtige Region. Aber was noch dafür spricht: Hört euch mal ein paar Rock ‘n’ Roll Songs an. Fünfzig Prozent davon haben ‚New Orleans’ irgendwo im Text. Und das nicht nur, weil sich so vieles darauf reimt. Es ist Teil unserer Kultur, Teil der Kultur unseres Landes. Es einfach sterben zu lassen, das ist doch lächerlich. Und alles nach Norden zu verlagern, nach Baton Rouge? Die Kultur wird wohl kaum nachfolgen."

    Mittlerweile ist es Abend geworden in New Orleans. Die Hitze des Tages hat sich ein wenig gelegt, aber im French Quarter beginnt das fiebrige Treiben jetzt erst. Aus jeder Kneipe der Bourbon Street dröhnt Musik. Ein wenig abseits davon an einer Häuserecke hockt der Straßenmusiker Troy Tallent auf seiner Lautsprecherbox. Die Gitarre überm Knie, den Lederhut ins Gesicht gezogen. So wie auch damals im August und September 2005, als er hier in der Stadt ausgeharrt hat.

    "Am Morgen habe ich das Haus verlassen und den Leuten geholfen, sich in Sicherheit zu bringen. Am Anfang stieg der Pegel ja noch ständig. Aber wenn man acht Stunden lang im kniehohen Wasser herumwatet, ist man irgendwann total fertig. Also habe ich meine Gitarre geschnappt, mich vor das Geschäft da gesetzt und habe gespielt. Nur die Nachrichtenreporter waren da, keine Touristen – niemand mehr hier."

    Da saß er nun. Es gab nichts für ihn zu tun, und er spielte den Blues.

    "Es heißt, der Blues erzählt einfach nur von einem Mann, der traurig ist über eine Frau, die er verloren hat. Aber in Wirklichkeit, denke ich, geht es im Blues darum, dass man sich das Leben vor Augen führt. Manches ist gut, manches ist schlecht. Die Realität – die Dinge so betrachten, wie sie sind. Sich dem Leben stellen, ohne etwas zu leugnen. Und mir gibt der Blues die Möglichkeit, über meine Situation zu singen, sie anzusehen und zu analysieren - vorurteilslos. Aber natürlich: im Kern geht es darum, dass man jemanden verliert, den man liebt."

    New Orleans steht am Scheideweg. Es könnte seine Zukunft in die Hand nehmen – ein Schutzsystem aus einem Guss errichten, die Feuchtgebiete an der Küste renaturieren. Und zu einem Vorbild werden für andere tief liegende Küstenstädte. Oder es könnte weiterhin die Gefahr ignorieren und darauf hoffen, dass die große Katastrophe ausbleibt. Doch in diesem Fall ist das Schicksal der Stadt schon entschieden: New Orleans wird Legende sein. So wie Atlantis, Vineta und alle anderen Orte, die einst im Meer versunken sind.