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Mit Berlusconi geht eine "Epoche eines egozentrischen Politikstils zu Ende"

Italien sei ein "Land des Pluralismus" und im Vergleich mit Griechenland moderner in Politik und Demokratie, sagt der Geschichtsprofessor Rudolf Lill. Er sei sich fast sicher, dass Italien, "wenn der Schatten Berlusconis abfällt", aus der Krise herauskommt.

Prof. Rudolf Lill, Historiker im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Wenn die Chefin des Internationalen Währungsfonds, kurz IWF, politische Klarheit in Italien fordert, dann darf man davon ausgehen, dass umgangssprachlich formuliert die Hütte brennt. Politische Klarheit ist für bessere Stabilität förderlich. Das sagte Christine Lagarde und drückte damit indirekt aus, dass diese Stabilität gegenwärtig nicht erkennbar ist, und das lieben die Finanzmärkte nicht. Mit Blick auf Europa ist einer dennoch zuversichtlich: Hans-Dietrich Genscher heute früh bei uns im Deutschlandfunk.

    O-Ton Hans-Dietrich Genscher: "Mit großer Härte setzt sich hier, fast könnte man sagen, mit Gewalt eine neue Stabilitätskultur in Europa durch. Das ist gut für Europa und daran muss weiter gearbeitet werden. Europa zurückabzuwickeln, das wäre ein schrecklicher und historischer Irrtum. Es geht in Wahrheit darum, Europa fortzuentwickeln. Und ich bin sicher, wenn nicht jetzt, wann eigentlich dann."

    Heinemann: Der ehemalige Bundesaußenminister und FDP-Ehrenvorsitzende Hans-Dietrich Genscher heute bei uns im Deutschlandfunk, heute früh mit dem Blick auf das Große und Ganze. – Ja wann, wenn nicht jetzt? Vor allen Dingen aber die Frage mit wem Richtung Rom? Dort ist jetzt offenbar weißer Rauch erkennbar und der Name Mario Monti wird genannt.

    In der italienischen Wirtschaftsgeschichte wird der gestrige Mittwoch vermutlich als schwarzer Tag eingehen. Die Renditen der italienischen Staatsanleihen stiegen auf einen Wert über sieben Prozent. Stefan Troendle hat darüber gerade berichtet. Das heißt also, der Finanzminister kann sich zu vernünftigen Bedingungen kaum noch Geld leihen.

    Am Telefon ist jetzt der Historiker Professor Rudolf Lill. Er hat zehn Jahre lang am Deutschen Historischen Institut in Rom geforscht, er ist Autor des Standardwerks "Geschichte Italiens in der Neuzeit". Guten Tag!

    Rudolf Lill: Guten Tag, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Professor Lill, Berlusconismus, das ist inhaltlich eine Politik, die überwiegend den eigenen Interessen dient, verbunden mit einem vulgär-populistischen Regierungsstil. Man könnte dann auch noch hinzufügen, einem skandalreichen Privatleben, Stichwort Bunga Bunga. Ist das mit dem angekündigten Rücktritt des Ministerpräsidenten vorbei, oder rechnen Sie damit, dass Silvio Berlusconi die politische Kultur des Landes in den vergangenen 17 Jahren nachhaltig geprägt hat?

    Lill: Er hat sie sicher zeitweise geprägt, aber er hat in den letzten Jahren durch seine Taktlosigkeiten, seine Stillosigkeit, auch durch seine Kulturlosigkeit weite Teile des ursprünglich vorhandenen Konsenses verloren und mit ihm geht eine Epoche eines egozentrischen Politikstils zu Ende, obwohl man ihm nicht alle Negativa des jetzigen Italiens anlasten darf. Zum Beispiel jener Mario Monti, der jetzt mit großen Hoffnungen begleitet als Nachfolger betrachtet wird, war von Berlusconi 1994 in die Politik geholt und nach Brüssel geschickt worden, im Sinne jenes Liberalismus, den Berlusconi zu verteidigen vorgab. Aber er hat es dann nicht geschafft. Ich sehe die jetzige Situation ein wenig optimistischer als die meisten Beobachter, vor allen Dingen seit gestern Abend.

    Heinemann: Nämlich warum?

    Lill: Weil gestern Abend Berlusconi offenbar relativ eindeutig – bei ihm muss man ja immer mit Tricks rechnen – sich zum Rücktritt bereit erklärt hat, weil gestern der Staatspräsident Napolitano, der in dieser Krise wirklich supra partes gestanden ist und steht, diesen Mario Monti zum Senator auf Lebenszeit ernannt hat, womit er gewissermaßen als präsumtiver Nachfolger betrachtet wird, und weil ich dem heutigen "Corriere della Sera" entnehme, dass die Stimmung insgesamt sogar in Berlusconis eigener Partei, in der es ja auch gute Leute gibt, auf eine Regierung der nationalen Konzentration hinläuft, mit dem klaren Ziel, die Reformen durchzuführen, die Schuldenlast so schnell wie möglich in den Griff zu bekommen und dann weiterzusehen.

    Heinemann: Professor Lill, schauen wir noch mal in die Vergangenheit. Jahrzehntelang wurde Italien von dem Triumvirat CAF geführt, oder je nach Lesart auch beherrscht. CAF, das steht für die Namen Craxi, Andreotti, Forlani, ein Sozialist, zwei Christdemokraten. Die Ministerpräsidenten kamen und gingen, das Land war aber relativ stabil. Dann brach das System zusammen, eröffnete Raum für Leute wie Silvio Berlusconi. Wenn man das jetzt mal gegenüberstellt: CAF, das war ein System, Berlusconi ein Einzelgänger. Welche Struktur wird sich durchsetzen?

    Lill: Es ist erstens mal sehr gut, dass Sie an die Geschichte Italiens erinnern. Ich sage das nicht als Historiker, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass die Geschichte in Italien lebendiger ist als bei uns und dass man sich verstehen muss, um Italien zu beurteilen. Und zu dieser Geschichte gehört auch, dass deutsche Stabilitätsmaßstäbe nicht unbedingt auf Italien zu übertragen sind. Was Sie eben sagten, war ein System, welches 50 Jahre lang gehalten hat, und man vergisst ja oft, dass es der Zusammenbruch dieses Systems, vor allen Dingen das Auseinanderdriften der politischen Mitte war, welches in den 90er-Jahren erst den Weg zu Berlusconi und dann auch zu jenem Bipolarismus, dieser Zweipoligkeit zwischen einer rechten Mitte und einer linken Mitte eröffnet hat, der dann insgesamt nicht gut funktioniert hat. Ich bin fast sicher, dass die reiche politische Kultur Italiens – Sie brauchen nur den "Corriere della Sera" von heute Morgen aufschlagen und die vielen Stellungnahmen dort zu lesen -, dass Italien nun, wenn der Schatten Berlusconis abfällt, aus dieser Krise herauskommen wird.

    Heinemann: Herr Lill, schauen wir mal nach vorne. Italien war ja immer Vorreiter in Europa …

    Lill: Ja, ja.

    Heinemann: …, Stichwort Banken, Großhandel, höfische Kultur, Stadtkultur. Das wurde alles in Italien vorgekocht. Werden wir uns in Europa an den Berlusconismus oder ähnliche Spielarten gewöhnen müssen?

    Lill: Nun, den Berlusconismus gibt es ja nicht nur in Italien. Aber ich hoffe, dass er eine Übergangsphase bleibt, weil gerade sein Erfinder, Silvio Berlusconi, selbst, obwohl er auch vernünftige Absichten hatte, so übertrieben hat, wie schon gesagt, durch seine Kulturlosigkeit, durch seinen Egozentrismus, durch seine Taktlosigkeiten, durch seine Banalitäten, dass er nun wirklich kein Beispiel für eine solide Mehrheit ist. Auch in Italien werden die Wahlen in der Mitte gewonnen und große Teile der Mitte, auch die, die ihn gewählt haben, sind ihn längst leid. Ich hoffe, dass Berlusconi bald nur noch der Geschichte angehört.

    Heinemann: Ist es für Sie als Historiker eine Ironie der Geschichte, dass die Dinge ausgerechnet in Griechenland und Italien, also den Wiegen unserer europäischen Kultur, aus dem Ruder laufen?

    Lill: Ja, ich würde nicht so direkt zwischen der fernen griechischen Demokratie und den großen kulturellen Leistungen Italiens in der Vergangenheit auf die Gegenwart hinschauen. Aber es gibt sicher Kontinuitäten. Aber da besteht ja zwischen Italien und Griechenland ein ganz großer Unterschied. Italien ist ein Land der pluralistischen Demokratie, es hat sich ja sogar vom Faschismus befreit. Es schwankt zwar oft, vor allen Dingen, weil es nicht einheitlich ist. Die italienische Mitte selbst ist in mehrere Richtungen zerstritten und es hat immer drei große politische Kulturen in Italien gegeben, Liberale, Katholische, Sozialistische. Italien ist ein Land des Pluralismus und als solches viel moderner als Griechenland und auch moderner in Politik und Demokratie und gerade auch europäischer Politik. Mit dem modernen Europa hat Italien – denken Sie an de Gasperi schon als einer der Gründungsväter der europäischen Einigung -, mit dem modernen Europa hat Italien direkt und mitschöpfend zu tun, und ich habe den Eindruck, dass das Wissen darum bei vielen italienischen Politikern, Publizisten, Historikern durchaus vorhanden ist und dass Italien vielleicht jetzt auf diesen Weg zurückkehrt. Auch dafür wäre dieser Herr Monti eine sehr gute Symbolfigur, weil er ein ganz überzeugter Europäer ist, und das sind sehr viele in der italienischen Politik.

    Heinemann: Sie haben an Alcide de Gasperi erinnert, den großen Ministerpräsidenten nach dem Krieg, Europäer, von der Democrazia Cristiana, von den Christdemokraten. Wir halten fest: Sie sind vorsichtig zuversichtlich?

    Lill: Ja! Ich habe den Eindruck, dass der italienische Pluralismus, der natürlich auch immer die Gefahr der Zersplitterung hat, aber in seiner vollen schöpferischen Kraft noch vorhanden ist und, wenn Berlusconi erst einmal weg ist, wieder politisch wirken kann.

    Heinemann: Der Historiker Professor Rudolf Lill. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lill: Bitte sehr! Auf Wiederhören.


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