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Mit Bulldozern gegen Geschichte

Mehrere Häuser im alten Roma-Viertel von Istanbul mussten bereits den Baggern weichen. Die gemäßigt religiöse Regierungspartei AKP plant bis 2010 den Abriss des gesamten historischen Viertels. Dabei gilt Sulukule als das älteste Roma-Quartier der Welt. Nun müssen sich die Mieter eine neue Bleibe suchen: 3500 Menschen sind von den Umsiedlungsplänen betroffen. Gunnar Köhne berichtet.

19.02.2008
    Eigentlich müsste eine Geschichte über Sulukule mit Musik beginnen. Ausgelassener Zigeunermusik, mit Geigen und fröhlich jauchzenden Klarinetten. Doch im ältesten Vergnügungsviertel Istanbuls sind die Klarinetten verstummt - Sulukule, Jahrhunderte lang Zentrum der türkischen Roma, soll abgerissen werden. Die Wohnungsbesitzer sollen entschädigt, die Mieter in ein Neubaugebiet außerhalb der Stadt umgesiedelt werden. Denn die schiefen, baufälligen Holzhäuser im Schatten der byzantinischen Landmauer sind nach Ansicht vieler Politiker nicht vorzeigbar.

    In einem der Hinterhöfe liegt das Teehaus des Viertels, wo sich die arbeitslosen Musiker von Sulukule die Zeit totschlagen. Der Geiger Hasan Olca ist einer von ihnen. Seine müden, tiefschwarzen Augen bekommen ein wenig Glanz zurück, wenn er von den alten Tagen erzählt:

    "Es war eine großartige Zeit damals. Sie hätten gestaunt! Hier war jeden abend Musik. Und wir sind ja auch überallhin gerufen worden. Auf Hochzeiten sollten wir spielen, sogar in Canakkale haben wir auf Hochzeiten gespielt. Jetzt sollen wir raus aus der Stadt. Was soll ich in einem Neubaugebiet machen? Vor mich hin singen? Die wollen uns dort aussetzen und wir sollen sehen wie wir da zurecht kommen. "

    Die Neubausiedlungen sollen weit außerhalb der Stadt entstehen. Sie sind Teil eines Mammutprojekts mit dem Namen "Museumsstadt". An die Stelle von Sulukule soll eine adrette Wohnsiedlung treten, welche, so erklärt die Stadtverwaltung, "im Einklang mit den historischen Wällen steht ". Wo das historische Flair fehlt, soll es mit Nachbauten geschaffen werden - eine Art osmanisches Disneyland. Dabei ist Sulukule älter als Istanbul. Die Roma lebten hier schon bevor die Türken den Bosporus erreichten. Mit Sulukule würde nicht nur ein historischer Stadtteil verschwinden, sondern die Roma würden auch ihres sozialen Zusammenhalts beraubt. Doch das bestreitet Stadtteilbürgermeister Mustafa Demir , der Mitglied der gemäßigt religiösen Regierungspartei AKP ist . Er sieht die Pläne als Fortschritt für die jetzigen Bewohner:

    ""Jetzt gibt es dort doch nichts: Kein Wasser, kein Gas, keine Kanalisation - gar nichts! Sollen wir die Menschen in diesen Verhältnissen wohnen lassen? Kultureller Zusammenhalt schön und gut. Den können die Bewohner ja auch in dem neuen Wohngebiet leben. Wir müssen doch an die Kinder denken!"

    In der Türkei leben geschätzt rund fünf Millionen Roma - mehr als in jedem anderen europäischen Land. Als Gaukler und Korbflechter prägten sie das Bild des alten Konstantinopel; als Musikanten der osmanischen Kapellen begleiteten sie die Feldzüge des Sultans. Bis heute stellen die Roma von Sulukule die besten Klarinettisten des Landes. Nur in den Hütten des Viertels selbst ist die Musik verstummt. Bis in die 1990er Jahre war Sulukule ein Geheimtipp für Besucher, die Wein, Gesang und tanzende Mädchen suchten. Auch in dem James-Bond-Klassiker "Liebesgrüsse aus Moskau" feiert Sean Connery ausgelassen in Sulukule. Doch dann schlug die Stadtverwaltung unter dem Vorwand der illegalen Prostitution zu, berichtet Hasaan Olca:
    ""Sie schickten Süleyman, einen berüchtigten Folterpolizisten mit seiner Truppe in unser Viertel. Die prügelten tagelang herum, selbst Frauen und Kinder. Alles wurde von denen kurz und klein geschlagen, auch mein Lauteninstrument Saz, das ich von meinem Vater geerbt hatte, haben sie in Stücke gehauen. Dann mussten unsere Kneipen schliessen. Seitdem sitze ich hier im Teehaus. Mit der Musik können wir kein Geld mehr verdienen, aber ich kann ja nichts anderes."

    Schon in wenigen Monaten soll der Abriss ihrer Wohnungen beginnen. Knapp 600 Familien werden gehen müssen. Der Wert der alten Häuser ist längst festgesetzt worden. In ihrem Kampf gegen den Abriss werden die Roma mittlerweile von zahlreichen Künstlern und Intellektuellen der Stadt unterstützt. Die Architektin Asli Ingin von der Bürgerinitiative Sulukule Plattform:
    "Hier in Sulukule wird auch darüber entschieden, in welchem Istanbul wir alle in Zukunft leben werden. Wollen wir ein Istanbul haben, das seiner Identität, seiner Besonderheiten beraubt ist? Wollen wir noch mehr Entwurzelte in dieser Stadt haben - mit allen sozialen Folgen? Die Stadtverwaltung will lieber ahistorische Nachbauten als eine alte Architektur, die durch die dort wohnenden Menschen lebt."
    Die Lokalpolitiker weisen den Verdacht zurück, bei dem geplanten Abriss von Sulukule handele es sich um eine bewusste Maßnahme gegen die Roma. In vielen Publikationen allerdings werden die Roma immer noch als schlechte Muslime und Diebe dargestellt. In einer "Türkisch-Islamischen Enzyklopädie", Herausgegeben vom türkischen Erziehungsministerium, steht: "Roma sind schmutzig, primitiv, sie stehlen Kinder und verkaufen sie, und ihre Frauen gehen auf den Strich".