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Mit dem Kran zu unbekannten Käfern

Biologie. - Um wundersames und noch unbekanntes Getier aufzuspüren, graben sächsische Biologen nicht einfach den Waldboden um, sondern klettern ihrer Beute auch bis in die höchsten Wipfel nach. Nachdem die Gruppe um den Biologen Wilfried Morawetz von der Universität Leipzig bereits in den Baumkronen des costaricanischen Dschungels bis dahin völlig unbekannte Kleinlebewesen entdeckt hatte, begeben sich die Forscher jetzt in den heimischen Wäldern in luftige Höhen.

    Eigentlich wollte Professor Wilfried Morawetz vom Institut für Botanik an der Universität Leipzig lediglich einen Atlas des sächsischen Auenwaldes erstellen, doch schnell wurde dem Forscher klar, dass die Biologen gar nicht wissen, was alles so durch Leipzigs grüne Lunge kreucht und fleucht. Die Kenntnis beschränke sich überwiegend auf die Krautschicht, während das bunte Treiben in einigen Metern Höhe weitgehend unbekannt sei. "Dabei spielt sich der Großteil des tierischen und pflanzlichen Lebens in seiner produktiven Phase im Kronenbereich der Bäume ab, denn dort ist das Nahrungsangebot besonders groß", so Morawetz.

    Um den weißen Fleck aus dem biologischen Heimatatlas zu tilgen, bläst der Biologe nun zum Wipfelsturm per Kran. Mit der Gondel folgen die Wissenschaftler dem Weg, den viele Insekten in den vergangenen Jahrzehnten auch nahmen - hinauf in die Bäume. Warum aber Insekten, die noch vor 100 Jahren als reine Bodenbewohner galten, die Flucht in höhere Stockwerke wählten, ist noch ein Geheimnis der Natur: "Der Verdacht liegt nahe, dass klimatische Veränderungen dabei eine Rolle gespielt haben, aber die Einzelheiten des Phänomens sind noch völlig unklar", erklärt der Leipziger Biologe Peter Horchler. Die Baumkrone sei eine eigene Klimawelt mit etwa dem lebensfeindlichen Raum auf den äußersten Blättern, die der sengenden Sonne wie auch dem prasselnden Regen ausgeliefert sind, oder auch die windstillen, feuchten und milden Bereiche im Schutz des Stammes.

    Schon jede Astgabel besitze ihr eigenes Mikroklima, vermutet Horchler: "Wir nehmen an, dass die Vertikale in sehr viele unterschiedliche Zonen für verschiedene Lebens- und Klimaprozesse aufgeteilt ist, und dem wollen wir nachgehen." Wie sich Pflanzen und Tiere an diese Klimazonen anpassen und wer mit wem um die Nischen konkurriert oder kooperiert, untersucht ein weiteres Forschungsvorhaben. Spektakuläre Artenentdeckungen erwarten die Leipziger Biologen zwar nicht, doch für manche Überraschungen dürften die Kranfahrten in die Baumkronen dennoch gut sein. Denn Zeit haben Morawetz und seine Kollegen genug: Über zehn Jahre hinweg können sie fast anderthalb Hektar des Leipziger Auenwaldes in Augenschein nehmen.

    [Quelle: Hartmut Schade]