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Mit den Toten zusammenleben

Aharon Appelfeld überlebte als Kind den Holocaust, zog nach Israel und wurde einer der berühmtesten Schriftsteller seines Landes. Die Stimmen der Toten, die er zurückließ - seiner Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten - ließen ihn jedoch nie los. Von diesem Verlust handelt auch sein jüngster Roman.

Von Marie Luise Knott |
    "Ich habe kaum etwas über den Krieg geschrieben. Im Krieg schrumpft der Körper und die Seele schwindet. Hunger und Kälte beherrschen dich und du hast nur einen Wunsch: So schnell als möglich zu sterben."

    Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld, von dem diese Worte stammen, hat als Kind die Shoah überlebt. Wie einer weiterlebt nach dem Überleben und wie er danach zum Schriftsteller wird, davon handelt sein jüngster Roman: "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen", der soeben im Rowohlt Verlag erschienen ist.

    "Seit der Krieg vorbei war, lebte ich in einer nicht endenwollenden Müdigkeit. Ich stieg von Zug zu Zug, von Lastwagen zu Lastwagen, manchmal fand ich mich sogar auf einem Pferdekarren wieder, aber stets war ich in einem dichten Schlaf gefangen. Die anderen Flüchtlinge trugen und stützten mich. Oft wurde ich vergessen, dann aber dachte doch einer an mich und kam zurück, mich holen. Meinem Körper hat sich diese Irrfahrt besser eingeprägt als mir."

    Als der 16-jährige Erwin Appelfeld im Roman 1946 in einem Flüchtlingslager in Italien ankommt, weckt das Ertüchtigungsprogramm einer zionistischen Gruppe seine Lebensgeister: Vielleicht kann auch er wie seine Altersgenossen die Vergangenheit hinter sich lassen, nach Palästina aufbrechen und ein neuer, singender, aufbaufreudiger "Muskeljude" werden. Auf seinem Weg ins verheißene Erez Israel begleiten ihn, wann immer er die Augen schließt, die Stimmen der Toten, die er zurückgelassen hat - seiner Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten. Sie, seine inneren Autoritäten, hadern mit seinen Entschlüssen, doch sie delegieren gleichzeitig ihr eigenes verpasstes Leben an ihn, den Überlebenden, der in Israel zunächst in einem Kibbuz lebt, wo er sich unausgesprochen jedoch ein Fremder bleibt.

    Später, im dortigen Krieg, 1948, wird er schwer verwundet, und erst die lange Genesungszeit ermöglicht es dem Protagonisten des Romans, seinen eigenen Weg einzuschlagen und sein Zuhause in der hebräischen Sprache zu finden. "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen" ist die großartige Erzählung aus einem Zwischenreich, in das nur gelangt, wer die Wirklichkeit entmachtet.

    Die damals in Palästina ansässigen Juden, so erfuhr es der Schriftsteller, als er Ende 1946 dort ankam, wollten nicht zurückschauen. Sie gingen ihrer Zukunft entgegen. "Seifen" hießen dort die der Shoah Entronnenen. Doch der Appelfeld im Roman, der sich halb gegen seinen Willen aus Erwin in Aharon umbenennt, spürt, genauso wie sein Autor Aharon Appelfeld: Wer seine Geschichte zurücklässt, sie in einen Keller verbannt, ist nur ein halber Mensch. Erst in der langen Zeit der Genesung verlässt der Mann, der nicht aufhören wollte zu schlafen, endgültig die deutsche Sprache - die Sprache der Väter und der Täter - und er beginnt, die Bibel abzuschreiben, um im Hebräisch seiner Vorfahren Wurzeln zu schlagen.

    So atmet der Roman viele Überlieferungen: die hebräische und viele andere europäische Kulturen, die heilige und die profane Sprache. Der innere Auftrag des Autors wie des Romanhelden ist es, das Verlorene zu bergen und im Erzählen zu bewahren. Erzählen ist bei Appelfeld kein Erinnern. Im Erzählen entrückt er vielmehr absichtsvoll verlorene Lebenswelten ins Fiktive, um die vergangenen Welten, im Präsens erzählt, gegenwärtig zu halten. Die untergegangene Welt des Ost-Judentums, die verschwundene Welt der assimilierten Juden, die Onkel und Tanten - sie alle stehen stellvertretend, denn Aharon Appelfeld trägt die Last der Überlebenden: Wenn die Geschichten nicht erzählt werden, sterben die Menschen ein zweites Mal – endgültig vielleicht. Am 16. Februar 2012 feiert Appelfeld in Jerusalem seinen 80. Geburtstag und Israel ehrt an diesem Tag einen seiner bedeutendsten Schriftsteller, dessen große literarische Könnerschaft und dessen unverwechselbare Stimme. Dabei ist er, wie er immer wieder sagt, nicht einfach ein israelischer Schriftsteller.
    "Ich bin der einzige jüdische Schriftsteller in Israel, es gibt nicht mehr. Ich bin vielleicht der Einzige in der Welt, ja, es gibt nicht mehr - das Verständnis nicht für einen Teil, sondern die Ganzheit. Ich bin vielleicht der Letzte. Ich bin sicher, dass in 20, 50 Jahren wird etwas kommen dazu. Das ist kein Ende. Aber jetzt in dieser Position sind keine jüdischen Schriftsteller mehr. Ich bin der einzige jüdische Schriftsteller, das hat gelebt in Europa, habe gehabt Eltern, Großeltern. Meine Eltern waren assimilierte Juden und ich habe die Assimilation in mir, in meiner Seele. Ich habe Großeltern gehabt, das waren noch normale Juden und ich habe geerbt von denen diese Gefühle auch. Ich habe gesehen die Juden im Getto, im Lager und in den Wäldern. Ich war mit diesen Leuten. Nachher habe ich ausgewandert mit diesen Leuten nach Israel und ich lebe schon 60 Jahren mit diesen Leuten. Sodass ich habe ein globales Verständnis von Juden."

    Aharon Appelfeld spricht ein sanftes, brüchiges Deutsch, das er sich aus der Kindheit erhalten hat. Er lebt und schreibt heute auf Iwrith - seiner Stiefmuttersprache, wie er sagt, und dann fügt er meist hinzu: Auch eine Stiefmutter kann eine gute Mutter sein. Appelfelds ganze Erscheinung ist so menschenfreundlich wie seine Stimme. Sein charmantes, immer sanftes Lächeln birgt ein Geheimnis; als könnte in der Kunst die Welt wieder in Ordnung kommen.
    Appelfelds Lebensgeschichte gleicht der Geschichte vieler seiner Romanhelden. 1932 in der Bukowina geboren, wächst er in der näheren Umgebung von Czernowitz auf, wo die Juden unter den Ruthenen, Deutschen, Rumänen und Polen in der Mehrheit waren. Kaum eine Stadt und Kultur ist heute so versunken wie das Czernowitz von Appelfelds Kindheit, die mit dem Überfall der Deutschen im Juni 1941 schlagartig endete. Mutter und Großmutter werden ermordet, Vater und Sohn Erwin entkommen, doch im Lager werden sie getrennt. Erwin, damals neuneinhalb, gelingt die Flucht. Gänzlich unvorbereitet auf die Grausamkeiten der Nazis und auf das Walddasein, überlebt dieses Kind zunächst unter Dieben und Prostituierten. Manchmal hat er nur Blätter zum Essen.
    Hunger, Durst und körperliche Schwäche machten die Kinder, die im Holocaust heranwuchsen, zu beobachtenden Wesen. Ganze Stunden saßen sie da und sahen dem Geschehen zu. Mehr noch als die Mörder beobachteten sie ihre Väter und älteren Brüder, deren Schwäche und deren Heldenmut. Es waren Anblicke, die sich ihnen tief einprägten, wie es nur Kindheitsbilder können. Für diejenigen, die als Kinder überlebt hatten, war der Krieg ihr ganzes Leben gewesen. Sie hatten nichts, was ihnen ermöglicht hätte, über den Holocaust zu reden, keine historischen, theologischen oder moralischen Begriffe; sie konnten nur von Angst und Hunger berichten, von Farben, von Kellern und von Menschen, die sie gut oder schlecht behandelt hatten. Sie haben die Kriegsjahre mit ihrem ganzen Körper aufgesogen.

    Appelfeld überlebte den Krieg, zuletzt als Kochjunge der Roten Armee. Ende 1946 kam er, wie sein Held, nach Palästina, dem heutigen Israel. Es dauerte lange bis er seine Sprache fand. Um die 40 Bücher sind seither von ihm erschienen. Und die meisten in viele Sprachen übersetzt. "Badenheim", "Der eiserne Pfad", "Tzili" oder "Alles was ich liebte" lauten einige der Titel. Mit langem Atem hat der Verleger Alexander Fest seit dem Jahr 2000 das Werk des Autors in Deutschland herausgebracht und dafür gesorgt, dass Appelfeld auch hierzulande heute viel gepriesen wird: Zuletzt, 2005, erhielt er den Nelly-Sachs-Preis.

    Gelobt wird das Werk oft für seine Sprache. Besonderes Merkmal: die Parataxen. Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz. Es gibt keine Logik und keinen konstruierbaren Zusammenhang im Leben, und darum bleibt beides auch in Appelfelds Erzählweise ausgespart, denn zwischen jedem Satz und dem nächsten könnte auch alles ganz anders kommen. Nicht zu Unrecht wird Appelfeld mit Beckett oder Kafka verglichen. Er hat seine Figuren nicht nur dem eigenen Erlebten entrückt, sondern hält sie immer zueinander auf Distanz. Seine Schilderungen sind kalt - ohne Mitleid, Nostalgie, Trauer oder Hoffnung. So kann das Romangeschehen den direkten Weg ins Innere des Lesers antreten.

    Alle seine Werke schildern Fragmente der jüdischen Tragödie. Ob die Kurgäste im Badenheim 1939 als eingebildete Assimilanten die Zeichen der Zeit übersehen, ob der kleine Paul in Czernowitz nach der Scheidung seiner Eltern seine Heimat, die Bukowina, verliert, ob die Jugendliche Tzili nach ihrer Flucht aus dem Getto im Wald mit Mark streitet oder ob Jakob Fein aus dem Israel des Jahres 2000 in das ehemals heimatliche Polen zurückreist - Jede der Geschichten gleicht, um das kabbalistische Bild vom "Bruch der Gefäße" zu verwenden, einer Scherbe. Und so kann man Appelfelds Entscheidung, Schriftsteller zu werden, als großartiges Projekt deuten, angesichts der Katastrophe der Shoah in der Erzählung das Versprengte zu bergen; Ihm gelingt es im Kunstwerk das Zusammenleben der Lebenden und der Toten wiederherzustellen und so gegen den drohenden Zerfall die Idee der Menschheit wachzuhalten.

    Aharon Appelfeld: "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen". Aus dem Hebräischen von Miriam Pressler, Rowohlt Verlag 2012, 19,80 Euro