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Mit der Einschränkung der Rechte der Justiz "spaltet" Mursi das Land

Die neuerlichen Unruhen in Ägypten seien Ausdruck eines "inneren Kampfes der Kulturen", der darüber entscheiden werde, in welche Richtung sich das Land entwickelt, sagt der Politologe Hamed Abdel-Samad. Mursi versuche, durch die Kontrolle über die Justiz und über die Polizei seine Macht zu sichern.

Hamed Abdel-Samad im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Martin Zagatta: Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi hat mit seiner Machtpolitik heftige Unruhen ausgelöst. Die Konfrontation zwischen Islamisten und Liberalen hat jetzt auch schon ein erstes Todesopfer gefordert.
    Verbunden sind wir jetzt mit dem deutsch-ägyptischen Politikwissenschaftler und Buchautor Hamed Abdel-Samad. Guten Tag, Herr Abdel-Samad!

    Hamed Abdel-Samad: Guten Tag, hallo.

    Zagatta: Herr Abdel-Samad, Sie haben ja ein Buch geschrieben mit dem Titel "Der Untergang der islamischen Welt". Erleben wir in Ägypten jetzt genau das Gegenteil, nämlich dass Fundamentalisten die Macht an sich reißen?

    Abdel-Samad: Nein, wir erleben den inneren Kampf der Kulturen, zwischen den unterschiedlichen Fronten in Ägypten, die es immer gab, aber erst mit der Revolution jetzt aneinander geraten, und diese Konfrontation war längst überfällig und diese Konfrontation wird entscheiden, in welche Richtung Ägypten geht. Die Muslim-Brüder sind durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen, aber sie halten sich nicht an die Regeln der Demokratie. Präsident Mursi sagt, sein Dekret sei begrenzt, aber er sollte das auch benennen, von wann bis wann. Das tut er nicht und dadurch spaltet er das Land und geraten natürlich Demonstranten mit Anhängern der Muslim-Bruderschaft aneinander. Menschen, die offene Rechnungen mit der Polizei haben, gehen auch auf die Straße und werfen mit Steinen gegen die Polizei. Und Anhänger des alten Regimes von Mubarak wollen natürlich mehr Instabilität im Land haben.

    Zagatta: Kritiker sprechen ja davon, das sei eine Art Putsch, das sei eine Diktatur, was da im Moment sich abspielt in Ägypten. Ist das übertrieben? Wie ordnen Sie das ein?

    Abdel-Samad: Es ist beinahe unmöglich, dass ein Diktator sich so kurz nach der Revolution in Ägypten wieder durchsetzt. Die Bevölkerung ist allergisch gegen jede Form von Alleinherrschaft. Sollte man irgendwas gelernt haben aus der Zeit von Mubarak, dann ist es, dass nicht zulässig ist, dass jemand die Legislative, Judikative und Legislative an sich reißt. Das hatte nicht einmal Mubarak gewagt. Mursi will seine Macht sichern, weil seine Macht wackelt, weil die Muslim-Brüder immer unbeliebter werden in Ägypten, und weil die Richter, die ja damals von Mubarak ernannt wurden, auch seine Entscheidungen immer blockieren, und er will das vermeiden. Das ist die eine Sache.

    Die andere Sache ist die Verfassung, die gerade geschrieben wird in Ägypten. Mursi will, dass sie auch eine islamistische Handschrift bekommt, und die liberalen Kräfte wollen ihre Handschrift durchsetzen, und das Verfassungsgericht ist säkular und liberal und will natürlich diese Verfassung nicht durchgehen lassen. Und deshalb wollte er so einen Präventivschlag wagen gegen die Justiz, aber dieser Schlag kann natürlich nach hinten gehen.

    Zagatta: Aber wenn Sie sagen, dass die Justiz und auch wahrscheinlich die Polizei noch mit Vertretern des alten Mubarak-Regimes besetzt sind, kann man da Mursi nicht sogar verstehen, dass er dagegen etwas unternimmt, dass er dagegen vorgeht?

    Abdel-Samad: Er muss etwas dagegen unternehmen und er muss dagegen vorgehen. Aber die Alternative wäre nicht, eine Institution aufzulösen und die Macht an eine Person zu verlegen, sondern es gibt nach wie vor auch unabhängige Richter in Ägypten, es gibt den Richterrat, der sehr gute Arbeit leistet, und er kann die Macht des Verfassungsgerichts und die Macht des Generalstaatsanwalts an diesen Richterrat weiterleiten. Sie sollten von sich aus eine neue Kommission gründen, einen neuen Generalstaatsanwalt ernennen, dann wäre das der rechtsstaatliche Weg. Aber nicht, dass eine Person sagt, von nun an entscheide nur ich und meine Entscheidungen können nicht angefochten werden. Das ist der Beginn einer Diktatur, so weit sind wir noch nicht.

    Zagatta: Wie stark sind denn die Gruppierungen, die da im Moment protestieren, die da auf die Straße gehen, die auch gegen die Büros der Muslim-Brüder vorgehen? Erleben wir da eine zweite Revolution, oder wie ordnen Sie das ein?

    Abdel-Samad: Viele sprechen schon von der zweiten Welle der Revolution. Es gibt unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Interessen. Wir haben die friedlichen Demonstranten, die nach wie vor friedlich vor allem an den Plätzen demonstrieren, und die gehen nicht zu den Hauptquartieren der Muslim-Bruderschaft. Es gibt die Straßenkinder, zwischen Acht- und 14-Jährige. Es gibt in Kairo allein schätzungsweise eine Million Straßenkinder, die auch eine offene Rechnung mit dem Staat haben, die vernachlässigt wurden in den letzten Jahren. Die gehen jetzt auf die Straße und bewerfen die Polizei mit Steinen. Dann gibt es die Oppositionsparteien, die sich zum ersten Mal jetzt verbünden gegen die Muslim-Brüder, und es gibt sicherlich auch die Anhänger von Mubarak, die diese Gelegenheit nutzen, um noch mehr Instabilität und mehr Gewalt zu schüren, um zu sagen, schaut her, unter Mubarak war alles besser.

    Zagatta: Die Opposition war ja bisher sehr zerstritten in Ägypten. Wie, glauben Sie, geht dieser Machtkampf jetzt aus? Was ist da realistisch?

    Abdel-Samad: Realistisch ist, dass Mursi vielleicht diese Entscheidung nicht zurücknimmt, sondern relativiert, dass er seine Dekrete zeitlich begrenzt, und zwar sehr begrenzt. Dann sollte die Ernennung von einem neuen Generalstaatsanwalt durch eine Richterkommission erfolgen und nicht durch den Präsidenten. Und die allerbeste Lösung ist eine gesunde demokratische rechtsstaatliche Verfassung, die die Zukunft Ägyptens nicht nur in den nächsten vier, fünf Jahren, sondern in den nächsten 100 Jahren vielleicht bestimmen wird, und da dürfen die Islamisten nicht alleine ihre Handschrift darauf setzen.

    Zagatta: Aber wie gespalten ist die ägyptische Gesellschaft? Oder kurz gesagt: Steht Ägypten vor einem Bürgerkrieg?

    Abdel-Samad: Ich habe vorhin von einem inneren Kampf der Kulturen gesprochen. Ich glaube nicht, dass es sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt, aber Gewaltwellen, die immer kommen und gehen, weil das richtige noch nicht getan wurde. Mursi hat sehr viel versprochen und konnte nur vier von 64 Wahlversprechen bis jetzt einhalten. Das ist zu wenig, die Menschen sind frustriert und wenn jetzt Wahlen stattfinden würden, dann würde er nicht mehr gewinnen und seine Partei auch nicht. Und deshalb versucht er, durch die Verfassung, durch die Kontrolle über die Justiz, durch die Kontrolle über die Polizei seine Macht frühzeitig zu sichern, weil er weiß, mit dem demokratischen Weg kann er und seine Partei vielleicht bald fliegen.

    Zagatta: Wer würde jetzt solche Wahlen gewinnen, Ihrer Einschätzung nach? Die Opposition ist ja sehr zerstritten.

    Abdel-Samad: Ja, aber aus dieser Opposition gibt es die Partei von Mohammed el-Baradei, die jeden Tag mehrere Zehntausende neue Mitglieder bekommt, die linke Partei von Hamdin Sabahi, der auf Anhieb immerhin fast so viele Stimmen wie Mursi bei den ersten Wahlen bekommen hat, obwohl er noch nicht bekannt war. Es gibt natürlich auch Parteien, die sich an das alte Regime anlehnen von Mubarak, die auch immer noch Unterstützung in der Straße bekommen. Und all diese zivile Lager, sagen wir, zusammen ist sicherlich mehr als die Kraft der Muslim-Brüder und der Salafisten zusammen.

    Zagatta: Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler und Buchautor Hamed Abdel-Samad. Herr Abdel-Samad, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

    Abdel-Samad: Danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.