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Mit der Schreibmaschine die Welt retten
Neues Engagement in der Literatur

Die Zeit der großen utopischen Erzählungen ist vorbei. Doch viele deutschsprachige Romane erzählten zuletzt aus der Lebenswirklichkeit von Diskriminierten, Marginalisierten und Randgruppen. Bei den neuen politischen Schreibweisen ist nicht zuvorderst entscheidend, was erzählt wird, sondern wer spricht.

Von Miriam Zeh |
Porträt der französischen Philosophin und Schriftstellerin Christine von Pizan (1368-1430), aus "Les Femmes Illustres de L'Europe" um 1850
Christine de Pizans literarische Utopie "Le Livre de la Cité des Dames" wird heute als erstes feministisches Werk Europas gelesen (imago stock&people / Leemage)
In insgesamt acht Teilen widmet sich der Deutschlandfunk dem "Projekt Weltverbesserung", dem Traum von einer besseren und gerechteren Welt.
Bei Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Günter Grass war das Verhältnis von Literatur und Politik noch vergleichsweise übersichtlich. Seit Émile Zolas berühmtem "J’accuse" meldeten sich politisch und literarisch engagierte Intellektuelle in Texten und öffentlichen Statements zu Wort. Sie klagten an und wollten die Welt zu einem besseren Ort machen. Autonomie erschien den großen engagierten Nachkriegsautoren als überholtes Luxusgut.
Heute mag die weltfremde, verträumte Fiktion auf den ersten Blick in einer ähnlichen Krise stecken. In den letzten Jahren erzählten zahlreiche deutschsprachige Romane aus der Lebenswirklichkeit von Diskriminierten, Marginalisierten und Randgruppen. Ihre gesellschaftspolitische Relevanz wird der Gegenwartsliteratur vielerorts bestätigt.
Doch ist bei den neuen politischen Schreibweisen nicht zuvorderst entscheidend, was erzählt wird, sondern: wer spricht. Das bringt zwar nicht die Autonomie zurück, eröffnet aber neue Möglichkeiten zur ästhetischen Erfahrung - und macht damit mitunter sogar die Welt ein kleines Stück besser.
Miriam Zeh ist Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin. Sie arbeitet am Germanistischen Institut der Goethe-Universität in Frankfurt und in der Buchredaktion des Deutschlandfunks.

Literatur scheint geradezu prädestiniert dafür, sich das Unmögliche vorzustellen. Das, was zu schön wäre, um wahr zu sein. Denn wo sonst sollte der Traum vom Vollkommenen einen besseren Platz finden als in der Fantasie? Wo sonst sollte es schöner und gerechter zugehen als in der von Grund auf erdachten Welt, wie sie nur in den Köpfen von Autorin und Leser existiert?
"1420 war überhaupt ein wunderbares Jahr im Auenland. Es gab nicht nur herrlichen Sonnenschein und köstlichen Regen, jeweils zur rechten Zeit und in genau der richtigen Menge […]. Alle in jenem Jahr geborenen oder empfangenen Kinder, und es waren viele, waren schön anzusehen und kräftig […]. Früchte gab es so reichlich, dass junge Hobbits fast in Erdbeeren und Schlagsahne badeten […]. Und niemand war krank, und alle waren froh, außer jenen, die das Gras mähen mussten."
J. R. R. Tolkien erschuf – mitten im zweiten Weltkrieg – einen fiktiven Kontinent, auf dem Frieden und Wohlstand für alle vorherrschen. Mit vereinten Kräften konnte eine Hand voll todesmutiger Helden alles Böse aus Mittelerde vertreiben und das Glück regiert. Die Weltliteratur kennt zahlreiche Utopien dieser Art, vollkommene und fiktive Länder. Auch wenn ein Glücksort für jeden Menschen etwas anders aussieht, wie J.M. Barrie in seinem Kinderbuchklassiker "Peter Pan" feststellt.
"Natürlich unterscheidet sich ein Nimmerland gewaltig von einem anderen. Johns zum Beispiel hatte eine Lagune mit darüberfliegenden Flamingos, auf die John schoss, Michael hingegen, der noch sehr klein war, hatte einen Flamingo und Lagunen, die darüber hinwegflogen. John lebte in einem Boot, das umgestülpt auf dem Sand lag, Michael in einem Wigwam, Wendy in einem Haus aus Blättern, die geschickt zusammengenäht waren. […] Aber insgesamt haben Nimmerländer eine gewisse Familienähnlichkeit […]. Auch wir sind dort gewesen; wir können noch immer die tosende Brandung hören, auch wenn wir nicht mehr an Land gehen."
Die Utopie beschreibt einen Zustand außerhalb von Raum und Zeit, einen Ort, den es nicht gibt. Er kann niemals erreicht, nur gedacht werden.
Auf den ersten Blick haben Mittelerde und Nimmerland wenig mit unserer Wirklichkeit zu tun. Es sind Traumwelten, radikal verselbstständigte Literatur, ohne Bezug zu Gegenwart und Gesellschaft. Warum also dort nach Ideen für eine bessere Welt suchen? Ohnehin sind es spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr die Schriftsteller, Künstlerinnen und Intellektuelle, die Ideale erproben.
 Der britische Schriftsteller J. R. R. Tolkien (undatierte Aufnahme). 
Tolkiens Dorf der Hobbits gleicht der Utopie einer friedvollen Welt (picture alliance / dpa / epa afp)
Denken, das aus der Bahn springt
Prägten in den vergangenen Jahrhunderten Dadaisten, Surrealisten oder Futuristen mit ihren fortschrittlichen Ideen und Stilen das kulturelle Gedächtnis, sieht das heute anders aus. Nicht mehr künstlerische Avantgarden üben diese Sonderfunktion in der Gesellschaft aus, sondern Programmiererinnen, Softwaredesignerinnen und Ingenieure. Sie verkörpern mittlerweile jenes Denken, das aus der Bahn springt und jenseits ausgetretener Ufer die Grenzen von Ethik, Recht und Moral einreißt.
Umgangssprachlich bezeichnen wir als utopisch eine Denkweise, die den Bezug zur Realität vernachlässigt, ein Hirngespinst, ein Wunschtraum, eine Schwärmerei.
In der Literatur allerdings ist die Utopie eine Denkform mit langer Tradition. Sie beschreibt systematisch Aufbau und Funktionieren einer idealen Gesellschaft und Staatsverfassung. Damit ist sie Vorstufe eines gesellschaftskritischen Denkens. Denn um sich auszumalen, was besser sein könnte, muss erst einmal identifiziert werden, was gerade falsch läuft. Auch die literarische Utopie liegt oft an einem räumlich und zeitlich entrückten Ort. In Platons berühmtem Dialog "Politeia" ist sie bloßes Gedankenexperiment im Kopf der Diskutanten. Bei Thomas Morus liegt die beste aller unmöglichen Welten auf einer abgelegenen Insel. Von dem englischen Gelehrten bekam die ganze Gattung 1516 ihren Namen.
"Die Insel der Utopier dehnt sich in der Mitte (da ist sie am breitesten) auf 200 Meilen aus und wird auf lange Strecken nicht viel schmäler; nach den beiden Enden hin nimmt die Breite allmählich ab. […] In der Mitte erhebt sich ein einzelnes Felsenriff, das aber ungefährlich ist; die übrigen Klippen sind nicht sichtbar und bilden so eine heimtückische Gefahr. Die Fahrstraßen sind den Utopiern allein bekannt, und so kommt es nicht leicht vor, dass ein Ausländer in diese Bucht ohne Lotsen aus Utopia eindringt."
Der französische Denker und Philosoph Alain Badiou
Aufruf zum Umsturz - Seid rebellisch!
Alain Badiou galt lange Zeit als einer der führenden Köpfe des französischen Maoismus. Das neuestes Buch des prominenten Philosophen und Mathematikers ist ein "Versuch, die Jugend zu verderben" – ein Appell, die Welt zu verändern.
Der Traum der idealen Gesellschaft
Die Inselbewohner haben allen Grund, ihre Existenz vor der Welt zu verheimlichen. Auf Utopia schufen sie die ideale Gesellschaft. Durch strikte Arbeitspflicht und Verzicht auf Luxusgüter kann ihre Arbeitszeit auf sechs Stunden pro Tag begrenzt werden. Geld ist abgeschafft, ebenso wie Privateigentum. Die Wirtschaft funktioniert ausschließlich bedarfsorientiert. Und nach einem differenzierten System verteilen sich Rechte und Pflichten gleichberechtigt auf alle Menschen, womit Morus wohlgemerkt ausschließlich Männer meint. So sind Neid und Niedertracht ausgerottet.
"[W]ie sollte man auf den Gedanken kommen, es könnte einer überflüssige Forderungen stellen, der doch sicher ist, dass es ihm nie an etwas fehlen wird? Habgierig und räuberisch macht ja alle Lebewesen immer nur die Furcht vor künftigem Mangel; nur bei dem Menschen kommt der Hochmut hinzu, der es für einen Ruhm hält, durch Prunken mit überflüssigen Dingen sich vor den anderen hervorzutun – eine Art von menschlicher Schwäche für die es innerhalb der gesellschaftlichen Verfassung der Utopier überhaupt keinen Platz gibt."
Für manche mag diese Utopie heute noch so verlockend klingen wie vor 500 Jahren. Andere werden den Kopf schütteln. Eine Gesellschaft ohne Eigentum? Und ein ökonomisches Gleichgewicht, das nur durch die strenge Isolation eines Landes bewahrt werden kann? Eine Utopie legt immer auch politische Überzeugungen offen.
Wer eine wirkmächtige Zukunftsvorstellung in die Welt setzt, hat aber auch eine Chance, auf gegenwärtige Missstände hinzuweisen und seinen Mitmenschen Lösungen schmackhaft zu machen. Es ist deshalb kein Zufall, dass Utopien von angesehenen Staatsmännern bis heute viel gelesen und breit diskutiert werden, Gedankenexperimente von gesellschaftlichen Minderheiten und Randgruppen aber kaum Beachtung finden.
Zygmunt Bauman - "Retrotopia"
Zygmunt Bauman zeichnet in seinem posthum erschienenen Buch ein düsteres Bild von unserer Gegenwart: Die Menschen seien von der Globalisierung überfordert und wendeten sich einer angeblich besseren Vergangenheit zu.
Das erste feministische Werk Europas
So war Thomas Morus zwar der erste Mann, der eine neuzeitliche, säkulare Utopie veröffentlichte. Sie wurde musterbildend für die gesamte Gattung. Die französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan aber hatte bereits 100 Jahre zuvor eine literarische Utopie vorgelegt. Im ihrem "Livre de la Cité des Dames", dem "Buch von der Stadt der Frauen" schuf sie einen Ort jenseits der männlichen, pseudowissenschaftlich verankerten Misogynie. An ihm beschreibt sie für Frauen eine andere Rolle als die spätmittelalterliche, dem Mann unterworfene.
"Oh, wie kann ein Mann je so undankbar sein und vergessen, daß ihm von einer Frau die Pforte zum Paradies geöffnet wird? […] Und wer könnte die größten Wohltaten vergessen, die die Mütter ihren Söhnen und Frauen überhaupt allen Männern angedeihen lassen?"
Beschuldigungen sind ein wichtiger Bestandteil von Christine de Pizans Text. Bei ihr vermischen sich Utopie und Engagement. De Pizan prangert ihre Zeitgenossen an und kritisiert ihre Gegenwart. Als erstes feministisches Werk Europas wird ihr "Buch von der Stadt der Frauen" heute gelesen. Auch Ideen der Aufklärung nimmt de Pizan vorweg, wenn sie die ultimative Gültigkeit bisheriger Lehren anzweifelt. Doch die alleinerziehende Mutter und Berufsschriftstellerin entwirft auch eine utopische Alternative zum Missstand. Unter Regentschaft der Jungfrau Maria erbaut sie eine fiktive Stadt der Frauen. Sie ist ein wehrhaftes Gebilde, Festung und Refugium. Hohe Mauern und Schanzanlagen schützen die tugendhaften Frauen dieser Stadt vor Anstürmen aus der misogynen Welt.
"[W]ie glücklich werden die Bewohnerinnen unserer Stadt sein: Sie müssen nicht ständig fürchten, von fremden Eindringlingen verjagt zu werden, weil es eine Eigentümlichkeit dieser Stadt ist, daß ihre Bevölkerung nicht verjagt werden kann. Dies ist der Beginn eines neuen Reiches der Frauen."
Wie wichtig es ist, einen sicheren Rückzugsort zu haben, das betont auch die englische Autorin Virginia Woolf über 500 Jahre später in ihrem vielgelesenen feministischen Essay "Ein eigenes Zimmer". Christine de Pizans Utopie dagegen geriet in Vergessenheit. Das mag auch daran liegen, dass ihr "Buch von der Stadt der Frauen" kein ausgefeiltes ideales Gemeinwesen entwirft wie bei Platon oder Morus. Anstatt mit großer Geste einen umfassenden Staatsentwurf vorzulegen, arbeitet de Pizan mit utopischen Beispielen im Kleinen. In einer Welt, die ein gesamtes Geschlecht missachtet, schafft sie Subjektivität und individuelle Frauenfiguren. Ihr Ansatz scheint heute anschlussfähiger denn je.
Vor dem Reichstag in Berlin legt eine Frau mit Warnweste und Mundschutz Protestplakate auf die Wiese.
Heute mobilisieren weniger utopische Romane als reale Vorbilder die Massen zur Weltverbesserung (imago images / Christian Mang)
Weltverbesserung beginnt heute beim Einzelnen
Die Zeit der großen utopischen Erzählungen ist vorbei.
Ihre Hochzeit lag im 18. Jahrhundert, als die Moderne vom Stillstand auf Bewegung umstellte, von Perfektion auf Perfektibilität. Damals wurde die Menschheit, wurde die Welt historisiert und als unfertig, als verbesserungswürdig wahrgenommen. Mittlerweile allerdings haben wir uns vom Glauben an einen beständigen Fortgang zum Besseren, auf den noch der Aufklärer Immanuel Kant hoffte, verabschiedet. Dass die Welt nicht von Menschenhand zur Vollendung geführt wird, scheint längst bewiesen. Und das verändert auch unsere Vorstellung von Utopie.
"Ein Buch über das Glück muss kurz sein. Kurz und fragmentarisch…", schreibt der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal 2012, "…eine zusammenhängende Erzählung über das Glück zu schaffen ist unmöglich."
Heute finden sich jenseits der Fantasy-Literatur kaum noch Entwürfe utopischer Welten. Überhaupt gibt es kaum noch Texte, die sich als eigene, alternative Realität behaupten. Lesende und Literaturschaffende schätzen die Fiktion dieser Tage gering. Vielmehr soll sich im Roman die Wirklichkeit, die gesellschaftspolitische Realität widerspiegeln. Ihr utopisches Potenzial kam der Gegenwartsliteratur damit aber keineswegs abhanden. Nur tritt das immer seltener mit großer Geste auf wie bei Bertolt Brecht, Thomas Mann oder Günter Grass. Weltverbesserung beginnt heute beim Einzelnen.
Wir leben in der literarischen Ich-Zeit, in der Epoche autobiografischer Selbstdarstellungen, die in der Forschung als 'autofiktional' bezeichnet werden.
Die Bezeichnung 'autofiktional' weist darauf hin, dass wir Leser*innen es gerade nicht mit authentischen, wahrhaftigen oder aufrichtigen Lebensberichten zu tun haben, sondern zumindest auch mit Fiktionalem, mit Imaginärem und mitunter sogar mit Fantastischem.
Die Autorin Isabelle Lehn veröffentlicht 2019 einen Roman über Isabelle Lehn und ihren Partner Vadim. Immer wieder thematisiert "Frühlingserwachen", dass Lehns Romanfiguren realen Personen entlehnt sind, diese aber zur Wunschversion, vielleicht ja zur möglichen zukünftigen Version verarbeitet.
"Ich spreche mit Vadim darüber, der ebenfalls gern plastischer wäre. Und außerdem wäre er gern Jazztrompeter. Kannst du dir das aussuchen, frage ich ihn, in meinem Roman? Klar kann ich das!, behauptet Vadim. Wie wäre es mit Komponist für Minimal-Music? Auch damit wäre er zufrieden."
Selbstentwurf als gesellschaftliche Positionierung
Literarische Visionen beginnen heute nicht im Großen, sondern im Kleinen, im Subjekt. Eine Autorin kann sich aussuchen, wer sie sein will, zumindest in ihrem eigenen Roman. Hier liegt ein utopisches Potenzial der Gegenwartsliteratur. Und das muss keineswegs auf die Einzelne beschränkt bleiben. Es lässt sich insofern aufs gesellschaftliche Ganze ausweiten, als jeder Selbstentwurf auch eine gesellschaftliche Positionierung darstellt.
"Ich sitze in meiner Kammer, eigentlich die Speisekammer, die man heutzutage aber nicht mehr braucht. Heutzutage steht hier gern die Waschmaschine. Bei uns nicht, bei uns sitzt hier Resi und raucht. Raucht und tippt in ihr Notebook, das demnächst den Geist aufgibt. Die Uhr ist schon stehengeblieben […]. Die Internetverbindung ist auch andauernd weg, aber das ist normal, Verbindungen sind anfällig, auch ich war mal Teil eines Netzwerks."
Die Schriftstellerin Anke Stelling auf ihrem Balkon im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg
Die Schriftstellerin Anke Stelling auf ihrem Balkon im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg (picture alliance / Tagesspiegel / Kai-Uwe Heinrich )
Die Autorin Anke Stelling veröffentlicht im Jahr 2018 ihren Roman "Schäfchen im Trockenen". Darin erzählt Parrhesia, genannt Resi, eine Ehefrau, Mitte vierzig, Autorin und Mutter von vier Kindern, von ihrem Alltag in Berlin. Der ist nicht einfach. Die sechsköpfige Familie ist bald obdachlos. Zurzeit wohnt sie zur Untermiete in der alten Wohnung eines befreundeten Ehepaars. Doch Resi hat sich mit den Hauptmietern zerstritten. Vor vier Jahren beschlossen die gemeinsam mit einigen alten Schulkamerad*innen aus dem schwäbischen Gymnasium, ein Haus zu bauen. Resi fehlten als selbstständige, prekär lebende Schriftstellerin aber die Mittel, um bei der Baugruppe mitzumachen. Sie schreibt einen journalistischen Text über die neue Kommune, über die Utopie der anderen. Die fühlen sich verraten und es kommt zum Streit.
"Die Fassade der K 23 ist in mildem Beige gehalten. Wunderschön, so wie Vanilleeis. Darin sitzen weiß lasierte Holzfenster, bei denen man die Maserung noch durchsieht, und im Garten gibt es nur zartblättrige Pflanzen, keine Nadelgewächse oder Liguster, sondern Birken und Flieder und Bambus und Wein. […] 'Du hättest einziehen können', sagt Ulf immer wieder."
Resi wollte sich von ihren Freunden kein Geld leihen. Und ihre Eltern hatten selbst keins.
Vieles in diesem Roman ist, wie bei Christine de Pizan, Anklage. Resi ist wütend auf den Berliner Wohnungsmarkt, wütend auf die privilegierten Freunde, wütend auf den Kapitalismus, wütend auf soziale Ungleichheit und wütend auf ihre Doppelbelastung.
"Ich räume die Küche auf. Weiche die Müslischalen ein, fege Haferflocken und Brotkrümel in die Spalten zwischen den Dielen. […] Ich sammle die Wäsche ein. Wenn ich heute schon wasche, stehen am Wochenende weniger Wäscheständer im Weg; gleichzeitig ist es dumm, die Arbeitszeit mit Wäscheaufhängen zu vergeuden."
Den Neologismus 'Utopia' setzte Thomas Morus aus der griechischen Vorsilbe "ou" für "nicht" und "topos" für "Ort" zusammen. Utopia, die Utopie ist der Nicht-Ort, das Nirgendwoland.
Anke Stelling ist selbst Schriftstellerin und Mutter. Für ihre autofiktional angelegte Ich-Erzählerin Resi gibt es keine Utopie, nirgendwo Nirgendwoland. Die Fiktion, das Ausdenken ist für sie ohnehin nur noch ein kurzer Trost, wie sie ganz am Ende des Romans ihrer ältesten Tochter gesteht.
"Ich werd’s nicht los, Bea. Die Sorge nicht, und nicht die Scham. Egal, was ich mir ausdenke: Es bleibt ein schwacher, ein zu kurzer Trost."
Utopien zeigen nicht nur, wie Gesellschaften sein sollen
Was Resis Geschichte trotzdem utopisch macht, ist ihre Existenz. Die literarische Repräsentation einer Mutter, einer prekären Künstlerinnenexistenz entwirft gleich mehrere Alternativwelten. Anke Stelling gibt Ausblick auf eine Gesellschaft, in der Sorgearbeit und die Leistung von Autorinnen sichtbar werden. Am Ende wird Resi einen wichtigen Literaturpreis erhalten. Anke Stelling gewinnt 2018 der Preis der Leipziger Buchmesse. Ihr Roman "Schäfchen im Trockenen" stellt also auch einen literarischen Kanon in Aussicht, der nicht hauptsächlich von Männern geschrieben ist und der nicht hauptsächlich von Männern erzählt.
In Utopien verrät die Gesellschaft nicht nur, wie sie sein soll, sondern auch, wie sie ist. Ohne Gegenwart ist kein Zukunftsentwurf möglich.
Die Utopien der Gegenwart setzen nicht nur im Kleinen, im Subjekt an, sondern gestalten sich auch oft ambivalent. Einen Glauben an den einen vollkommenen Ort gibt es nicht. Auch wenn er in Olivia Wenzels Roman "1000 Serpentinen Angst" noch kurz und leise hindurchscheint.
"Das war eben ein kleiner Moment, den andere Freiheit nennen. In New York stehe ich nachts auf einem Dach und starre nervös und ahnungslos auf eine Skyline, die ich aus Filmen und von Postkarten kenne. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Zukunft nennen."
Porträt der Autorin Olivia Wenzel.
Die Autorin Olivia Wenzel - auch sie entwickelt in ihrem 2020 erschienenen Roman "1000 Serpentinen Angst" eine Utopie (imago images / tagesspiegel / Doris Spiekermann-Klaas)
In Olivia Wenzels 2020 erschienenem Debütroman reist eine Ich-Erzählerin, autofiktionales Alter Ego der Autorin selbst, durch die USA. Sie ist zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten und erlebt dort eine Zugehörigkeit, die sie aus Deutschland nicht kennt. Der Vater dieser Erzählerin, einer jungen Frau Mitte dreißig, ist Angolaner. Er war Austauschstudent, als die Mutter Anfang der Achtziger Jahre von ihm schwanger wird, in einer ostdeutschen Kleinstadt. Hier erleben sie Misstrauen, Rassismus und Unverständnis, das heranwachsende schwarze Mädchen und ihr Zwillingsbruder, selbst innerhalb der eigenen Familie. Sie fügen sich nicht nahtlos ins Bild einer heteronormativen sozialistischen, später demokratischen Gesellschaft. Sie fallen auf, ecken an, allein durch ihr Aussehen. In den USA ist das anders. Hier ist die Erzählerin Teil einer Gemeinschaft, zu der sie ungefragt dazugezählt wird.
"Dass ich joggen gehe und eine ältere, schwarze Frau ruft mir hinterher: Keep up the good work, baby! Dass ich diesen Satz noch Monate mit mir herumtrage. Dass mich Afroamerikanerinnen in der Nachbarschaft grüßen und mir warmherzig einen schönen Tag wünschen. […] Ständig schwarze Männer in Business-Suits, schwarze Jugendliche auf Skateboards, schwarze obdachlose Seniorinnen, die sich in die U‑Bahn quetschen – ich bin auf einmal ein Teil davon."
Olivia Wenzel stellt damit eine Gesellschaft in Aussicht, in der sie als schwarze Frau repräsentiert ist.
Utopie und Dystopie gehören zusammen
Natürlich bleibt das Bild von den USA bei Olivia Wenzel getrübt. Die afroamerikanische Gemeinschaft, die der Erzählerin auf den Straßen New Yorks so warmherzig und offen begegnet, ist nicht ihre. Sie teilt mit ihnen keine Geschichte, keine Tradition. Ihre Überidentifikation mit US-amerikanischer Popkultur, mit HipHop‑Künstlern, mit Steve Urkel aus "Alle unter einem Dach" oder mit "Mr.T" vom A-Team ist ihr heute peinlich. Identität und Repräsentation einer jungen, ostdeutschen woman of color muss Olivia Wenzel in ihrem Roman selbst schaffen. Denn das Sehnsuchtsland erkennt die Erzählerin bald als beschädigt. Auf ihrer Reise wird sie nicht nur mit Verständnis, sondern auch mit der politischen Entwicklung des Landes konfrontiert.
"Gegen Mitternacht gehe ich mit ihm ins Hotel; wir sind überzeugt, dass am Morgen die erste weibliche Präsidentin der USA feststeht. Gegen halb drei haben wir uns betrunken in den Schlaf gevögelt. Mein Handy vibriert, Nachrichten meiner deutschen Freunde.
Nine eleven – eleven nine!
Pass auf dich auf!
What the fuck?
Ich schalte den Fernseher an, Trump beginnt gerade seine Rede."
Gerade noch Freiheit und Utopie, jetzt schon ihr Gegenteil.
Porträtfoto der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch, die 2015 in Klagenfurt den Publikums- und den Kelag-Preis gewann
"Winters Garten" - Panorama einer von Krisen gezeichneten Zeit
Mit "Winters Garten" hat sich die Österreicherin Valerie Fritsch in die literarische Traditionslinie ihres Landes geschrieben. In opulenten Bildern geht es um Sterben und Tod und eine vor dem Untergang stehenden Welt.
Utopie und Dystopie gehören notwendigerweise zusammen. Wie die Utopie vom besten Staatsmodell erzählt, führen Dystopien vor Augen, was passieren könnte, wenn das ausgeführte Konzept einer besseren Welt nicht befolgt wird.
Seit dem 20. Jahrhundert treten Negativutopien gehäuft auf. Das hängt auch mit einem verstärkten Fortschrittsskeptizismus zusammen. Diktatoren, Völkermörder und Verbrecher haben der Utopie ihre Unschuld geraubt. Auch im 2015 erschienenen Debütroman der österreichischen Autorin Valerie Fritsch ist sie getrübt. Idylle und Weltuntergang liegen nah beieinander. Dabei scheint die erzählte Welt zunächst in bester Ordnung. Zwischen Lilienbeeten, Sussex-Hühnern und Gugelhupf wachsen Hauptfigur Anton Winter und sein Bruder auf, im titelgebenden "Winters Garten".
"Die Damen saßen zwischen Rhabarber und Erdbeeren, und die Herren lehnten sich aus den Fenstern des Hauses, um den Bäumen das Obst herunterzupflücken. Die Kinder liefen nackt über Grund und Boden, der allen gehörte, und abends aß man mit bloßen Füßen im Gras."
Doch die Utopie ist nicht von Dauer. Was blüht, wird verwelken. Und der Verfall deutet sich bereits an. Anton betrachtet in der Speisekammer die eingelegten Fehlgeburten der Großmutter. Von der nahen Stadt bricht das Verderben über das Gartenidyll. Anton, mittlerweile erwachsen und Vogelzüchter, wird aus seinem Paradies vertrieben in das oberste Stockwerk eines Hochhauses. Von dort aus beobachtet er die Apokalypse. Kriegsgeschehen zieht über das fiktive Land, das Valerie Fritsch in "Winters Garten" entwirft.
"Schon wurde es dunkel. Schon ging ein Ruck durch die Welt. Schon prasselten die Witwenhäuschen im Feuer, und schon fiel der Schnee wie Schrot. Schon schrien die Pfauen im Quecksilbergesang. Schon brannten die Puppenküchen. Schon standen die Wälder voller Geigen. Schon tobte das Meer, und schon verstummten die Tiere."
Doch am Ende des Untergangs lässt Valerie Fritsch Hoffnung aufscheinen. Nach der Katastrophe ist eine neue Utopie denkbar.
"Nachdem die Welt untergegangen war, spielte es in Anton Winters Träumen Joy Division und Rachmaninow in den Morgenstunden. […] Irgendwo am Horizont bewegten sich zwei eng umschlungene Gestalten millimeterweise über die Erdkrümmung auf das Haus zu, so langsam und klein, als hätten sie einen langen Marsch hinter sich. Alle kamen sie in den Garten."
Literatur erweitert die eigenen Welten
Und wozu das Ganze? Können Utopien die Welt retten?
"Es gibt bis heute Diktaturen aller Couleur. Manche dauern schon ewig und erschrecken uns gerade wieder aufs neue, […]. Andere […] ziehen sich zivile Mäntelchen an, liberalisieren ihre Wirtschaft […]. Literatur kann das alles nicht ändern."
…sagt Herta Müller in ihrer "Tischrede" zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2009.
"Aber sie kann – und sei es im Nachhinein – durch Sprache eine Wahrheit erfinden, die zeigt, was in und um uns herum passiert, wenn die Werte entgleisen."
Literatur ist nie beliebig. Sie steht immer in einem Verhältnis zur Umwelt, zur Gegenwart, in der sie entsteht. Mitunter lauscht sie einer unterdrückten oder sich anbahnenden Tendenz in der Gesellschaft, sie markiert Stimmung und Zeitgeist. Aber auch literarische Zukunftsentwürfe, ob nun utopisch oder apokalyptisch, sind keine Handlungsanweisungen. Fiktionen können nicht einfach in Wirklichkeit übersetzt werden.
Trotzdem sind sie wichtig für jede Gesellschaft.
Indem sie sich den restriktiven Bedingungen der Realität entziehen, setzen Utopien alte Denk- und Handlungsmuster außer Kraft. Literatur erweitert das eigene Wissen um mögliche Welten, um die Freiflächen unserer Fantasie.
In T.S. Eliots "Vier Quartetten" heißt es:
"Wir bewegen uns überm bewegten Baum
Im Licht auf dem geprägten Blatt
Und hören unter uns im Moor
Den Saurüden und den Keiler
Im gleichen Muster wie zuvor
Doch ausgesöhnt unter den Sternen."
So verdienen literarische Utopien der Gegenwart, auch wenn sie klein, ambivalent und anfällig geworden sind, einen festen Platz in unseren Bücherregalen. Denn die Utopien sind immer noch da. Nur war für die besseren Weltentwürfe seit jeher entscheidend, wer sie erdacht und geschrieben hat. Die kleinen Utopien der Gegenwart entspinnen sich aus autofiktionalen Repräsentationen von Minderheiten, von Müttern, von women of color. Sie geben einen Ausblick auf eine, wenn nicht ideale, so doch gerechtere und bessere Welt. Wir müssen ihnen nur zuhören.
Dieser Essay zitierte übrigens genauso viele Männer wie Frauen. Sie waren also beim Hören bereits Teil einer literarischen Utopie, vielleicht sogar ohne es zu bemerken.
Wiederholung vom 28.06.2020