Mittags halb eins, die Jesuitenkirche Sankt Michael in der Münchner Fußgängerzone: "Grüß Gott und herzlich Willkommen zur Atempause. In dieser Viertelstunde sind Sie eingeladen, Platz zu nehmen, ein wenig Orgelmusik zu hören, sich einige Gedanken zum Tag zu machen..."
Weit verstreut in den Bänken sitzen etwa 30 Leute, ältere und jüngere, Touristen und Einheimische. Der Organist improvisiert von leise zu lauter, ruht auf einzelnen Tönen, dann wieder von lauter zu leise. Anschließend spricht eine Frau im dunklen Mantel, Ende 50, vorn am Lesepult über Glaube, Vertrauen und Misstrauen.
"Religion ist die Unterbrechung des Gewöhnlichen"
"Atempause" nennen sie diese tägliche Mittagsmeditation, sagt der Jesuit Karl Kern, Rektor der Münchner Michaelskirche: "Religion ist so etwas wie eine Unterbrechung des Gewöhnlichen. Das gewöhnliche Leben ist oft Mühe, Arbeit, oft auch Sorge. Und Religion heißt, in diesem Haus der Sorge und der Mühe nicht gefangen zu sein, sondern einen anderen Blick darauf zu gewinnen."
Draußen vor den Kirchentüren bewegt sich unablässig der Strom derjenigen, die von Geschäft zu Geschäft unterwegs sind, Termine haben oder in der Stadt arbeiten. Pausenbedürftige können nebenan ins Café gehen – oder in die Kirche.
So ein religiöser Ort mitten in der Stadt zieht auch Anders- und Nichtgläubige an. Vielleicht wollen sie einfach die erste Renaissancekirche nördlich der Alpen besichtigen, erbaut Ende des 16. Jahrhunderts. Oder sie suchen Ruhe im Einkaufstrubel.
Das sind die kurzen Momente der Pause – Jesuitenpater Kern stellt sie in einen größeren Zusammenhang: "Urlaub ist ursprünglich die Erlaubnis, sich von einem Höhergestellten, in dessen Dienst man ist – als Lehnsherr zum Beispiel – zu entfernen. Die Ruhe ist in dem Sinn ein Raum der Freiheit, des Zweckfreien. Und ohne das, könnte man drastisch sagen, geht der Mensch kaputt."
Der Ordensmann begleitet Menschen, deren Alltag durch den Terminkalender bestimmt ist. Pausen sind darin, wenn überhaupt, nur selten verzeichnet. Obwohl eigentlich wichtiger Bestandteil des Tages.
"Die Hektik, das Überfordert-Sein bis zum Burnout ist ja ein furchtbares Zeitphänomen. Mir hat erst vor wenigen Tagen ein Mann aus der IT-Branche gesagt: Das ist ein gnadenloses Geschäft, was wir da betreiben. Es ist toll, aber immer schneller, immer mehr, immer umfassender", sagt Kern. "Und da muss man schauen, dass man nicht in dem berüchtigten Hamsterrad landet."
Ruhe, Arbeit und Gebet
Die spirituelle Tradition des Jesuitenordens ist geprägt durch die Ignatianischen Exerzitien – geistliche Übungen, die zurückgehen auf den Ordensgründer Ignatius von Loyola: einige Tage am Stück im Schweigen, mit Gebet, Bibellektüre sowie Gesprächen mit dem Exerzitien-Begleiter.
Ein Programm, zu dem sich immer wieder auch gestresste Manager anmelden. Elemente aus den Ignatianischen Exerzitien lassen sich in den Alltag übertragen – gleichsam als eine Form etablierter Pausenkultur: kurzes Innehalten am Morgen, vor dem oft hektischen und dichten Arbeitstag. Tagsüber: sogenannte Zwangspausen bewusst erleben, etwa beim Warten auf den Bus. Und ein Abendgebet vorm Einschlafen.
Jesuitenpater Kern sagt: Menschen hätten eigentlich einen inneren Sog zur Ruhe, den sie aber oft missachten würden: "Religion lebt davon, dass der Mensch seine tiefsten Sehnsüchte entdeckt. Und im täglichen, üblichen Trubel kann man darüber hinweg leben. Das rächt sich dann – gesundheitlich, psychisch – oft in Katastrophen. Das Entscheidende an der christlichen Religion ist ja: Gott ist auf uns zugekommen in einem Menschen. Sich innerlich bereitzumachen für das Wort Gottes, für die Begegnung mit Gott – dafür ist die Ruhe unabdingbar."
Ein Wandel in der Pausenkultur
"Etwas Neues, was in unserer Gesellschaft an vielen Orten entsteht, sind Räume der Stille. Räume, die grundsätzlich keine liturgische Funktion haben, aber die Möglichkeit bieten, sich im Alltag eine kleine Pause zu nehmen, im Sinne der Einkehr oder der Meditation", sagt Daria Pezzoli-Olgiati. Die Professorin für Religionsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht darüber, wie sich geistliche Räume wandeln, auch in kultureller Hinsicht.
"Beispielsweise Räume an Flughäfen oder Bahnhöfen, die offen sind für unterschiedliche Religionen und sehr rege besucht werden. Da sitzen Leute und machen prinzipiell nichts, das heißt, sie machen eine Pause. Das finde ich auch einen spannenden Punkt zum Thema Raum, Stadt, heutige Zeit und Pause."
Auch wo der Einfluss der Kirchen schwindet, bleibt Religion prägend für die Gesellschaft. So gilt der Sonntagsschutz vielen nach wie vor als kulturelle Errungenschaft. Unterschiedliche Formen der Meditation sind auch außerhalb von Klöstern en vogue. Zugleich verändere sich das geistliche Leben selbst, sagt die Religionswissenschaftlerin aus der Schweiz:
"Es gibt viele Klöster, die Kurse anbieten für Menschen, die ein Burnout hatten. Da sehen wir einerseits eine Pathologisierung der Gesellschaft: Man schafft es nicht, mit Körper und Seele diesem Rhythmus nachzukommen. Und dann geht man ins Kloster, um zu heilen. Also eine zeitgenössische Praxis, in der Elemente, die historisch gesehen religiös waren, wieder hineinkommen."
"Viele Exzesse sind ein Produkt von Langeweile"
Ein Mangel an Pausen kann zum Ausbrennen führen. Umgekehrt gibt es im Leben mancher Menschen ein Zuviel der Pause. Durch Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter. Doch auch wer vermeintlich mitten im Leben steht, kann davon betroffen sein, sagt Jesuit Karl Kern:
"Das hängt oft damit zusammen, dass solche Menschen weder im Beruf noch – was noch wichtiger ist – in ihren Beziehungen die rechte Sinnerfüllung finden. Viele Exzesse, die wir erleben, sind ein Produkt von Langeweile, von zu viel Pausen. Dann äußert sich das oft auch rabiat, sei es Gewalt, dass Gefühle wie Wut ungefiltert nach außen kommen. Und von daher braucht der Mensch die Balance."
Auf die Balance kommt es an
Es geht also darum, die Dinge ins richtige Verhältnis zu setzen. Wer im Kleinklein des Alltags die Orientierung verliert, kann vom geistlichen Ideal lernen. Das Leben in Klöstern zeichnet sich durch eine klare Tagesstruktur aus: Beten, arbeiten, ruhen.
"Ein großer geistlicher Begleiter in unserem Orden hat immer gesagt: Das Wichtigste ist der Schlaf, das zweitwichtigste die Bewegung. Das drittwichtigste die Beziehungen. Und dann erst die Spiritualität und dann erst die Arbeit."
Für Menschen, die dauernd unter Strom stehen und für die Pause ein Fremdwort ist, dürfte der Besuch im Kloster ein Schock sein – aber womöglich ein heilsamer.