Dass Eltern ihrem einzigen Kind den Namen "Meret" mit in die Wiege legen, ist, wenn man es genau bedenkt, eine erschreckende Lebenshypothek. Denn Gottfried Kellers Erzählung "Das arme Meretlein" handelt von einem Mädchen, das, weil es nicht beten wollte, in die Obhut eines protestantischen Pfarrers gegeben wird. Von dessen Gutmenschentum wird das Kind derart malträtiert, dass es an Lebenserschöpfung stirbt; es gräbt sich ein Erdloch und legt sich hinein.
Diese Geschichte hatten die Eltern von Meret Oppenheim sicher nicht im Sinn, als sie ihr Kind tauften. Glücklicherweise ist die 1913 in Berlin geborene und in der Schweiz aufgewachsene Künstlerin dem Fluch des Namens entkommen. 1930, im Alter von 18 Jahren, zog sie aus nach Paris, um Kunst zu studieren, und geriet dort -- unter dem Einfluss irgendeiner guten Fee -- sofort in die Kreise der Surrealisten um André Breton, Marcel Duchamps und Max Ernst. Mit 20 Jahren ließ sie sich nackt, mit Maschinenöl beschmiert, von Man Ray ablichten. Mit 22 war sie auf dem Zenit ihrer ersten Berühmtheit, denn das New Yorker MOMA hatte gerade ihr Kunstwerk "Frühstück mit Pelz" eingekauft, das später eine "Ikone des Surrealismus wurde: Eine Kaffeetasse und ein Löffel, beide mit Pelz überzogen, stehen artig gedeckt auf einem Tisch. Angerichtet wie eine kleine Perversität.
So war er, der Surrealismus der Meret Oppenheim: Ver-rückte Wirklichkeiten, demontierte Gewohntheiten, abgründiger Humor. Ihr Motto lautete: "Mit ganz enorm wenig viel." Keine Grenze war dieser Strömung heilig und viele von Oppenheims Träumen oszillieren zwischen Schrecken und Wollust
"Ich bin bei einem Gynäkologen, liege auf dem Untersuchungsstuhl. Der Arzt bringt eine abgehäutete, aber lebende Ziege herein. Ich weise dieses "Liebesobjekt" jedoch ab."
In seiner losen Reihe von teils theoretischen, teils literarischen "Traum-Büchern" hat der Suhrkamp-Verlag nach Theodor Adorno, Walter Benjamin, Heiner Müller und Arno Schmidt im Herbst 2010 die Traum-Aufzeichnungen einer Frau herausgebracht. Träume sind bekanntlich Schäume, und nur die wenigsten kann man im Wach-Zustand noch dingfest machen. Folglich wundert es nicht, dass das Traumbuch der Künstlerin knapp 100 Seiten lang ist, obwohl es mehr als fünf Jahrzehnte umfasst.
Aus der Zeit ihrer Schaffenskrise, zwischen 1937 und 1954 , sind kaum Kunstwerke und so gut wie keine Träume überliefert. Die surreale Nähe von Mensch, Tier und Pflanze muss für die junge Schweizerin enorm anziehend gewirkt haben, denn sie besaß ein tiefes Vertrauen in das Verwandlungspotenzial aller Dinge, wie die Herausgeberin Christiane Meyer-Thoss in ihrem informativen Nachwort schreibt. Der Tod jedoch blieb zeitlebens ein hartnäckiger Begleiter, dem Meret Oppenheim in den Träumen viele Schnippchen schlägt:
"Ich fahre in einem Automobil das ganz aus Knochen gemacht ist. Es ist ein altes Modell, die Bremse ist außen und besteht aus einem Oberschenkelknochen."
Die Pelztasse hat sich in ein Knochenmobil verwandelt. Oppenheims Traumgesichte sind von ihrer Kunst kaum zu trennen. Im selben Jahr notierte sie:
"Ein sehr trauriges, graues Tal. Steinige Abhänge. Unten Zementstraßen, am Hang angelegt, wie die Treibhäuser einer Gärtnerei. Daraus sprießen wie Blumen ausgetrocknete Skeletthände."
Die Todesnähe des "armen Meretlein" prägte auch einen Traum von 1955:
"Ich träume, ich liege in einem Glassarg, wie Schneewittchen. In der Hand einen roten (Reichs-)apfel, aus Seife, wie man ihn in der Parfümerie kaufen kann. Durch die gekreuzten Füße steckt man mir lange silberne Ohrclips. (Nur andeutungsweise, statt Nägel)."
Vielen ihrer Traum-Niederschriften hat Meret Oppenheim Skizzen oder Collagen hinzugefügt, um ihnen eine stärkere Wirklichkeit zu verleihen. Man ahnt, dass es ein Geben und Nehmen zwischen ihren Träumen und ihren Werken gegeben hat, und so bedauert man es, dass im Buch nur einige der Skizzen mitabgedruckt wurden.
Die Idee, statt Memoiren die Traumaufzeichnungen zu veröffentlichen, stammt noch von der Künstlerin selbst. Als Vorbereitung dafür versah sie ihre Träume mit Kommentaren, die sich oft an den archetypischen Bilddeutungen des bekannten Traumforschers C. G. Jung orientierten. Manche Träume korrespondieren mit fremden Bildern - aus Kunst oder Literatur-, andere Träume verstand Meret Oppenheim als Mutmacher. 1955, am Ende ihrer Schaffenskrise, träumte sie:
"Ich bin in einer Schneelandschaft. Um einen kleinen Hügel kommt ein weißer Hase. Ich versuche, ihn zu fangen. Er entwischt mir aber und verschwindet in einem Schneeloch."
Als Kommentar fügte sie hinzu:
"Auslegung: Hase = Fruchtbarkeit. Wenn ich ihn auch noch nicht fangen konnte, so ist er doch in der Nähe."
Die Kommentare bieten oft interessante Einblicke, auch biografischer Natur, aber manchmal rauben sie den Traumbildern die Kraft der Unmittelbarkeit. Das Thema der fragilen weiblichen Existenz bestimmt viele Träume: Was darf eine Frau? Was muss sie sich herausnehmen? Hat die Frau, wie es C. G. Jung behauptete, eine besondere "Kulturaufgabe"?
Auf solche Fragen gibt Meret Oppenheim keine Antworten, sie werden verhandelt, in ihren Kunstwerken und in ihren Träumen. Festhalten aber kann man, dass Männer selten so offen und frei darüber assoziieren, wie sehr sie von anderen Menschen und Werken beeinflusst sind.
Meret Oppenheim hat zeitlebens mit Hingabe experimentiert. Einmal, im Frühjahr 1959, arrangierte sie als Vorbereitung für ein geplantes Kunstwerk ein Essen mit Freunden. Statt auf einem Tisch wurde das opulente Mahl auf einer nackten Frau angerichtet. Rosen und Mimosen lagen mit Langusten, Äpfeln, Fleisch und Löffelbiskuits verstreut auf Nacken, Schenkeln, Bauch oder Handrücken. Auf den Brüsten hatte die Künstlerin Mousse au Chocolat mit Himbeerpüree drapiert. Eine Performance. Die Freunde setzten sich um das Leintuch und aßen - mit Tellerchen, Gäbelchen und Messerchen. Kein Glassarg verstellte den Zugang zur Lust.
Das Traumbuch der Meret Oppenheim gewährt großartige Einblicke in das schmale Oeuvre dieser vielfältig innovativen Künstlerin. Sie fühlte sich, so entnimmt man es den Aufzeichnungen, getragen von einem "unaussprechlichen Glücksgefühl", das sie in der Entgrenzung suchte und fand. Denn Träume sind nicht nur Schäume.
Meret Oppenheim: Träume, Aufzeichnungen 1928 – 1985" Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christiane Meyer-Thoss, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt 2010, 118 Seiten, 16,90 Euro
Diese Geschichte hatten die Eltern von Meret Oppenheim sicher nicht im Sinn, als sie ihr Kind tauften. Glücklicherweise ist die 1913 in Berlin geborene und in der Schweiz aufgewachsene Künstlerin dem Fluch des Namens entkommen. 1930, im Alter von 18 Jahren, zog sie aus nach Paris, um Kunst zu studieren, und geriet dort -- unter dem Einfluss irgendeiner guten Fee -- sofort in die Kreise der Surrealisten um André Breton, Marcel Duchamps und Max Ernst. Mit 20 Jahren ließ sie sich nackt, mit Maschinenöl beschmiert, von Man Ray ablichten. Mit 22 war sie auf dem Zenit ihrer ersten Berühmtheit, denn das New Yorker MOMA hatte gerade ihr Kunstwerk "Frühstück mit Pelz" eingekauft, das später eine "Ikone des Surrealismus wurde: Eine Kaffeetasse und ein Löffel, beide mit Pelz überzogen, stehen artig gedeckt auf einem Tisch. Angerichtet wie eine kleine Perversität.
So war er, der Surrealismus der Meret Oppenheim: Ver-rückte Wirklichkeiten, demontierte Gewohntheiten, abgründiger Humor. Ihr Motto lautete: "Mit ganz enorm wenig viel." Keine Grenze war dieser Strömung heilig und viele von Oppenheims Träumen oszillieren zwischen Schrecken und Wollust
"Ich bin bei einem Gynäkologen, liege auf dem Untersuchungsstuhl. Der Arzt bringt eine abgehäutete, aber lebende Ziege herein. Ich weise dieses "Liebesobjekt" jedoch ab."
In seiner losen Reihe von teils theoretischen, teils literarischen "Traum-Büchern" hat der Suhrkamp-Verlag nach Theodor Adorno, Walter Benjamin, Heiner Müller und Arno Schmidt im Herbst 2010 die Traum-Aufzeichnungen einer Frau herausgebracht. Träume sind bekanntlich Schäume, und nur die wenigsten kann man im Wach-Zustand noch dingfest machen. Folglich wundert es nicht, dass das Traumbuch der Künstlerin knapp 100 Seiten lang ist, obwohl es mehr als fünf Jahrzehnte umfasst.
Aus der Zeit ihrer Schaffenskrise, zwischen 1937 und 1954 , sind kaum Kunstwerke und so gut wie keine Träume überliefert. Die surreale Nähe von Mensch, Tier und Pflanze muss für die junge Schweizerin enorm anziehend gewirkt haben, denn sie besaß ein tiefes Vertrauen in das Verwandlungspotenzial aller Dinge, wie die Herausgeberin Christiane Meyer-Thoss in ihrem informativen Nachwort schreibt. Der Tod jedoch blieb zeitlebens ein hartnäckiger Begleiter, dem Meret Oppenheim in den Träumen viele Schnippchen schlägt:
"Ich fahre in einem Automobil das ganz aus Knochen gemacht ist. Es ist ein altes Modell, die Bremse ist außen und besteht aus einem Oberschenkelknochen."
Die Pelztasse hat sich in ein Knochenmobil verwandelt. Oppenheims Traumgesichte sind von ihrer Kunst kaum zu trennen. Im selben Jahr notierte sie:
"Ein sehr trauriges, graues Tal. Steinige Abhänge. Unten Zementstraßen, am Hang angelegt, wie die Treibhäuser einer Gärtnerei. Daraus sprießen wie Blumen ausgetrocknete Skeletthände."
Die Todesnähe des "armen Meretlein" prägte auch einen Traum von 1955:
"Ich träume, ich liege in einem Glassarg, wie Schneewittchen. In der Hand einen roten (Reichs-)apfel, aus Seife, wie man ihn in der Parfümerie kaufen kann. Durch die gekreuzten Füße steckt man mir lange silberne Ohrclips. (Nur andeutungsweise, statt Nägel)."
Vielen ihrer Traum-Niederschriften hat Meret Oppenheim Skizzen oder Collagen hinzugefügt, um ihnen eine stärkere Wirklichkeit zu verleihen. Man ahnt, dass es ein Geben und Nehmen zwischen ihren Träumen und ihren Werken gegeben hat, und so bedauert man es, dass im Buch nur einige der Skizzen mitabgedruckt wurden.
Die Idee, statt Memoiren die Traumaufzeichnungen zu veröffentlichen, stammt noch von der Künstlerin selbst. Als Vorbereitung dafür versah sie ihre Träume mit Kommentaren, die sich oft an den archetypischen Bilddeutungen des bekannten Traumforschers C. G. Jung orientierten. Manche Träume korrespondieren mit fremden Bildern - aus Kunst oder Literatur-, andere Träume verstand Meret Oppenheim als Mutmacher. 1955, am Ende ihrer Schaffenskrise, träumte sie:
"Ich bin in einer Schneelandschaft. Um einen kleinen Hügel kommt ein weißer Hase. Ich versuche, ihn zu fangen. Er entwischt mir aber und verschwindet in einem Schneeloch."
Als Kommentar fügte sie hinzu:
"Auslegung: Hase = Fruchtbarkeit. Wenn ich ihn auch noch nicht fangen konnte, so ist er doch in der Nähe."
Die Kommentare bieten oft interessante Einblicke, auch biografischer Natur, aber manchmal rauben sie den Traumbildern die Kraft der Unmittelbarkeit. Das Thema der fragilen weiblichen Existenz bestimmt viele Träume: Was darf eine Frau? Was muss sie sich herausnehmen? Hat die Frau, wie es C. G. Jung behauptete, eine besondere "Kulturaufgabe"?
Auf solche Fragen gibt Meret Oppenheim keine Antworten, sie werden verhandelt, in ihren Kunstwerken und in ihren Träumen. Festhalten aber kann man, dass Männer selten so offen und frei darüber assoziieren, wie sehr sie von anderen Menschen und Werken beeinflusst sind.
Meret Oppenheim hat zeitlebens mit Hingabe experimentiert. Einmal, im Frühjahr 1959, arrangierte sie als Vorbereitung für ein geplantes Kunstwerk ein Essen mit Freunden. Statt auf einem Tisch wurde das opulente Mahl auf einer nackten Frau angerichtet. Rosen und Mimosen lagen mit Langusten, Äpfeln, Fleisch und Löffelbiskuits verstreut auf Nacken, Schenkeln, Bauch oder Handrücken. Auf den Brüsten hatte die Künstlerin Mousse au Chocolat mit Himbeerpüree drapiert. Eine Performance. Die Freunde setzten sich um das Leintuch und aßen - mit Tellerchen, Gäbelchen und Messerchen. Kein Glassarg verstellte den Zugang zur Lust.
Das Traumbuch der Meret Oppenheim gewährt großartige Einblicke in das schmale Oeuvre dieser vielfältig innovativen Künstlerin. Sie fühlte sich, so entnimmt man es den Aufzeichnungen, getragen von einem "unaussprechlichen Glücksgefühl", das sie in der Entgrenzung suchte und fand. Denn Träume sind nicht nur Schäume.
Meret Oppenheim: Träume, Aufzeichnungen 1928 – 1985" Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christiane Meyer-Thoss, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt 2010, 118 Seiten, 16,90 Euro