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Mit jeder Figur "in andere Welten eintauchen"

Mit "Hoffnung" kommt jetzt der letzte Teil der Paradies-Trilogie des Österreichers in die Kinos. Im Mittelpunkt steht eine 13-Jährige, die sich in einem Diätcamp in ihren Arzt verliebt. Er sei an Menschen interessiert, "die versuchen, aus ihrem eigenen Gefängnis herauszukommen", sagt Ulrich Seidl im Corsogespräch.

Das Interview führte Sigrid Fischer |
    Sigrid Fischer: Ulrich Seidl, Ihr nächster Film ist eine Dokumentation über Keller. Über die Beziehung der Österreicher zu ihren Kellern. Zieht sich das Motiv des Kellers – im übertragenen Sinne - nicht durch alle Ihre Filme?

    Ulrich Seidl: Ja, also wenn der Keller der Ort der Abgründe ist, ist das richtig. Dann hab ich schon viele Kellerfilme gemacht. Bei mir geht es ja immer wieder darum, versteckte Abgründe oder Verdrängtes, sichtbar zu machen und darüber zu erzählen, weil ich denke, dass das immer auch mit uns, den Zuschauern zu tun hat.

    Fischer: Sie meinen die sprichwörtlichen Leichen, die jeder im Keller liegen hat?

    Seidl: Genau, das ist ja auch immer mein Ansatz dazu, Dinge zu thematisieren, die für den Zuschauer auch seine Welt sind, mit denen er sich eigentlich konfrontieren muss, auch wenn es unangenehm ist. Sehr oft ist es unangenehm. Sehr oft ist es provokant, verstörend, irritierend, es wird oft auch kontroversiell aufgenommen, aber ich finde, das ist auch eine Qualität, denn es heißt, der Film bewirkt etwas beim Zuschauer, man wird sich damit beschäftigen, man wird den Film nachhaltig mit sich tragen und vielleicht auf andere Dinge stoßen. Vielleicht hab ich damit was erreicht, möglicherweise das ein oder andere Bewusstsein verändert, und das gibt wiederum Hoffnung.

    Fischer: Sich unwohl fühlen, gehört auch zu Ihren Filmen. Ich fühle mich immer unwohl, aber genau das gefällt mir auch daran, weil ein Film kaum einen größeren Effekt erzeugen kann. Wer ins Kino geht, will sich in der Regel nicht unwohl fühlen, daher schlägt Ihnen das vermutlich oft auch negativ entgegen vom Publikum.

    Seidl: Immer wieder natürlich, aber im Grunde passiert das, was Sie jetzt gesagt haben, man empfindet es auch letztendlich als Bereicherung. Weil man auf etwas gestoßen ist, man wird etwas damit anfangen, man hat dann vielleicht einen klareren Blick.

    Fischer: Sie tragen keine schmeichelhaften Bilder von Österreich in die Welt, sondern Sie zerren ans Licht, was man lieber unter der Decke hält. Sieht man den Ulrich Seidl in Österreich nicht als eine Art Nestbeschmutzer?

    Seidl: Naja nicht mehr, inzwischen findet man meine Filme – wie soll ich sagen - zwar hart, und immer wieder bestimmte Wahrheiten thematisierend, die unangenehm sind, aber man sieht jetzt, das ist Qualität. Das ist bereits anerkannt und ich hab auch sehr viel Publikum in Österreich und sehr viel Medieninteresse, weil man das inzwischen eingesehen hat und nicht nur als Nestbeschmutzer betitelt, dass es einmal war.

    Fischer: Die Qualität zeigt sich auch in den Filmbildern, die Sie als Standbilder ausstellen. Die wirken präzise komponiert. Denken Sie teilweise gleich in Tableaus, wenn Sie an einen neuen Film herangehen, oder ergeben die sich erst später?

    Seidl: Ich denke, wenn ich an einen Film denke, wenn ich mir was vorstelle, nicht an Tableaus. Sondern Tableaus ergeben sich aus dem Schauplatz heraus oder aus einer Szene heraus. Erst vor Ort habe ich eine Idee dazu. Und was die Ausstellung anbelangt: Alle diese Bilder sind vergrößerte Filmkader, sind direkt aus den Filmen genommen, und sind danach ausgesucht worden, in dem Sinn, welches Bild, welcher Kader könnte als Einzelbild bestehen, eine Bedeutung bekommen, ohne dass man den Film kennt oder ein inhaltlicher Zusammenhang notwendig ist.
    Fischer: Den Begriff "Paradies" füllt jeder anders – für den einen ist es Reichtum, für den anderen immaterielles Glück, der nächste konnotiert ihn religiös – haben Sie da für sich eine Definition?

    Seidl: Ich für mich?

    Fischer: Ja.

    Seidl: Natürlich strebt man Zufriedenheit an, und strebt auch Glück an, ich such das auch immer wieder in der nächsten Arbeit, in einer nächsten Etappe, was nimmt man sich vor, was möchte man gerne umsetzen, realisieren. Das ist das eine. Es gibt natürlich auch private Momente, Momente mit meinen Kindern, die mich glücklich machen. Ich bin ja der Meinung, dass wir das Paradies, das wir immer wieder suchen in unseren Leben, nicht finden werden. Und trotzdem muss man es suchen, trotzdem sollte es Hoffnung geben und keinen Stillstand.
    Fischer: Bei den drei Frauen in der Paradiestrilogie spielt Einsamkeit eine große Rolle, also der Einsamkeit zu entkommen, könnte das Paradies für sie sein?

    Seidl: Das ist richtig, es sind drei Frauen, die offensichtlich mit ihren Partnerschaften oder ihren Familienverhältnisse nicht mehr zu recht kommen, nicht glücklich geworden sind. Und deswegen suchen sie einen Mann oder eine Partnerschaft, wo sie Akzeptanz finden, wo sie angenommen werden, wo sie Zärtlichkeit, Sexualität, Liebe all das finden.

    Fischer: Ulrich Seidl, Sie stellen Körperlichkeit gerne aus in Ihren Filmen. Sie haben im dritten Paradiesfilm "Hoffnung" eine Laiendarstellerin besetzt jetzt, Melanie, sie ist übergewichtig, darum geht es ja auch in dem Film, aber sie war 13, als Sie gedreht haben. Gerade in dem Alter träumen Mädchen in der Regel von der perfekten Figur. Und sie zeigt sich unter Umständen Millionen von Menschen weltweit auf der Leinwand zum Teil halb nackt. Wie schaffen Sie das, das Leute dazu bereit sind?

    Seidl: Meine Aufgabe ist ja, für diese Art von Besetzung, erstens Talente zu finden, zweitens müssen das natürlich Menschen sein, die damit einverstanden sind, was ich hier vorhabe, und das wusste die Melanie ja auch, dass es hier um ein übergewichtiges Mädchen geht. Dass es hier um ein Diätcamp geht und dass es das darzustellen gilt. Und nicht zu verbergen gilt. Und das hab ich ja vielfach im Vorfeld auch ausprobiert. Erst mal findet ein Prozess der Vertrauensbildung statt, zweitens macht man Probeaufnahmen und schaut, wie sie sich bewegen vor der Kamera und wie sie sind. Und sie ist talentiert, sonst könnte sie das gar nicht machen. Ihre Natürlichkeit vor der Kamera ist ja ganz großartig, finde ich. Und sie bekommt dafür ja auch eine andere Art von Befriedigung, dass sie was geschafft hat, dass sie – sie wollte immer schon mal spielen, also. Und das Übergewicht ist Teil ihrer Person, ihres Körpers.

    Fischer: Das heißt – haben Sie bei ihr vielleicht Hoffnungen geweckt auf weitere Beschäftigungen beim Film?

    Seidl: Vielleicht, ja

    Fischer: Vielleicht wird die auch enttäuscht, die Hoffnung.

    Seidl: Ja, aber das kann man ja, alles was man mal macht, kann man daran scheitern. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass die eine nächste Rolle gerne annehmen würde.

    Fischer: Sind Ihnen alle drei Frauenfiguren mit ihren jeweiligen Geschichten gleich nahe und wichtig?

    Seidl: Ich denke mir ja eine Figur aus oder einen Charakter, der mich interessiert, zu dem ich auch eine Nähe habe, wo ich mich auch identifizieren kann mit dem einen oder anderen. Es geht ja bei mir nicht um moralische Bewertungen, sondern um Menschen, die versuchen, aus ihrem eigenen Gefängnis herauszukommen, aus ihrer Einsamkeit usw., also sind mir alle Figuren nahe, und das ist ja auch interessant, dass man mit jeder Figur was anders erzählt und in andere Welten eintaucht, andere Leben, andere Atmosphären, andere Milieus kennenzulernen.

    Fischer: Nachdem ich alle drei Paradiesfilme gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob ein Film aus allen dreien als ineinander verschränkte Episoden nicht auch ein spannendes Projekt gewesen wäre. Sie haben das ursprünglich mal überlegt, warum sollten es schließlich drei Filme werden?

    Seidl: Weil jeder einzelne Film hätte verloren. Würde man soweit reduzieren, das würde ja bedeuten, bei jedem Film müsste man auf zwei Drittel davon verzichten. Dann ist der inhaltlich einfach viel schwächer, nicht stärker. Das ist ein Prozess, den ich im Schneidraum durchgemacht habe und ich hab Verschiedenstes probiert, lange Zeit verschiedenste Rohschnittfassungen. Und am Ende des Tages hat sich herausgestellt, drei Filme wird das stärkste Ergebnis sein.

    Fischer: Noch mal zurück zu Ihrem nächsten Film, der Dokumentation über Keller: Was werden wir finden in den österreichischen Kellern?

    Seidl: Männer. Männer, und ihre Abgründe werden Sie finden.

    Fischer: Meinen Sie so Hobbykeller-Männer?

    Seidl: Lassen Sie sich überraschen. Abgründe können ja auch Hobbys sein, aber natürlich bleibt's nicht bei den Harmlosigkeiten.

    Buchtipp

    Ulrich Seidl: Paradies.
    Liebe Glaube Hoffnung
    Texte u.a. von Marina Abramovic, Josef Bierbichler, Christoph Huber, Elfriede Jelinek, Ulrich Seidl,
    Deutsch/Englisch , 2013. 176 Seiten, 78 Abb.
    Hatje Cantz Verlag 2013, 35 Euro