Sicher ist: Rudolf Steiner wurde am 27. Februar 1861 in der österreichischen Provinz geboren. Aber schon um seine Kindheit und Jugend ranken sich Legenden, die der Begründer der Anthroposophie selbst in die Welt gesetzt hat, und die seither von seinen Anhängern nachgebetet werden. So sei Rudolf Steiner in einer armen Familie aufgewachsen, weit entfernt von Chancen auf Bildung und habe nur dank übersinnlicher Fähigkeiten seinen Weg gefunden. Die Historikerin Miriam Gebhardt sieht das anders:
"Was man sagen kann, ist, dass er aus dem ländlichen Kleinbürgertum kommt, dass sein Vater Bahnbeamter war der königlich-kaiserlichen Bahngesellschaft war, die sehr viel für ihre Mitarbeiter getan hat, unter anderem auch dafür gesorgt hat, dass die Kinder eine ordentliche Ausbildung bekommen, und deshalb ist das Bild falsch. Er ist im Grunde in ein Milieu hineingeboren, das sehr aufstiegsorientiert war, und deswegen hat Rudolf Steiners Vater frühzeitig die Erziehung seines Sohnes selbst in die Hand genommen, hat dafür gesorgt, dass der Sohn einen Oberrealschulabschluss erhalten konnte, dann auch an der Technischen Universität in Wien studieren konnte. Das hat er dadurch erreicht, dass er sehr oft seinen Arbeitsplatz gewechselt hat, von Bahnstation zu Bahnstation, insofern ist dieses Bild eines unbeschriebenen Blattes, das durch übersinnliche Kraft seine Karriere schaffen konnte, völlig falsch."
Miriam Gebhardt macht Rudolf Steiner kenntlich als Kind seiner Zeit und als gelehrigen Mann, der die unterschiedlichsten Theorien und Reformideen für sich fruchtbar gemacht hat. "Rudolf Steiner. Der moderne Prophet" heißt ihre Biografie. Sie macht deutlich, dass er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Prophet unter vielen war.
"Er war ein großer Eklektiker, er hat aus vielen Bereichen sich Versatzstücke ausgeliehen und daraus quasi über Nacht etwas geformt, was die Leute hören wollten. Was ich sehr eindrücklich finde, ist, wie er sich ganze Wissensbereiche, ob es die Medizin war, die Landwirtschaft oder die Ernährungslehre, in nächtlichem Studium aneignen und am nächsten Morgen darüber vortragen konnte. Er war ein Durchlauferhitzer für alle möglichen Ideen seiner Zeit. "
Die Frage bleibt, warum denn von all den modernen Propheten gerade Rudolf Steiner mit seiner Anthroposophie bis heute so lebendig geblieben ist, warum die Medizin, die Kosmetik und die biodynamische Landwirtschaft wahre Erfolgsgeschichten sind.
"Erstens ist unsere Stimmungslage in vieler Hinsicht ähnlich wie damals um 1900 herum. Viele Menschen fühlen sich überfordert von der Technisierung, der Rationalisierung der Welt und haben ein Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit, die anscheinend in der Moderne verloren gegangen ist. Und zum Anderen ist er gut konsumierbar. Man kann einzelne Versatzstücke gut finden, und muss nicht das ganze Paket deswegen kaufen. Nehmen wir die Kosmetikprodukte, die Ernährungsprodukte, nehmen wir die Pädagogik; der der sich für Tanz und Bewegung oder für Körperlichkeit interessiert, wird bei der Anthroposophie ebenso bedient wie derjenige, der sein spirituelles Heil sucht."
Die größte Erfolgsgeschichte der Anthroposophie ist jedoch die Pädagogik. Die allererste Waldorfschule entstand 1919 in Stuttgart als Privatschule für die Kinder der Arbeiter der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria. Heute sind sie weltweit verbreitet und anerkannt als Schulen, die ein ganzheitliches Lernen fördern und auch die musischen Seiten der Kinder im Auge haben. Miriam Gebhardt, die zuletzt ein Buch über die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert geschrieben hat, sieht die Steinerpädagogik allerdings auch kritisch:
"Zum einen sind sie damals als Gegenmodell zu einem staatlichen oder teilweise noch kirchlichen Schulsystem entwickelt worden, und deswegen ist die Frage, ob man mit den alten Antworten auf die neuen Gegebenheiten überhaupt noch richtig fährt. Zum anderen finde ich problematisch das Menschenbild, das dahintersteht. Rudolf Steiner hatte eine Entwicklungstheorie, die schon damals überholt war und die heute allen Kenntnissen über die Entwicklung des Kindes zuwiderläuft. Er hat zum Beispiel geglaubt, dass der Mensch sich in Siebenjahres-Schritten entwickelt und dass er deswegen vor dem Abschluss des 7. Lebensjahres noch nicht lesen lernen darf; dass er vor dem Abschluss des 21. Lebensjahres eigentlich sich noch keine eigenständige Meinung bilden sollte. Und zum Dritten wurde nie thematisiert, was für ein Autoritätsverständnis dahinter steht. Der Waldorflehrer, zumindest in einer klassischen orthodoxen Steiner-Schule, wird immer noch als eine geliebte Autoritätsperson betrachtet, und das, was wir eigentlich heute in einer demokratischen Umwelt fordern, nämlich eine frühzeitige Selbstbehauptung, auch intellektuell, wird eher zu kurz kommen.
Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass sie eben mit einer Ganzheitlichkeit an das Kind herangehen, dass nicht nur rein kognitive Fähigkeiten gefördert werden sollen. Das sind Aspekte, die daran sehr wohl positiv sind, die allerdings auch nicht typisch sind für Waldorfschulen, sondern alle Reformschulen hatten damals diesen Anspruch von Ganzheitlichkeit."
Wer sich speziell für die Pädagogik von Rudolf Steiner interessiert, dem ist das Buch von Heiner Ullrich zu empfehlen: "Rudolf Steiner. Leben und Lehre". Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft und Spezialist für die Steiner-Pädagogik. Seine biografische Darstellung fällt zwar sehr knapp aus, aber er beschreibt er die Lehren von Rudolf Steiner sachlich und respektvoll, obwohl auch er die anthroposophische "Geisteswissenschaft" – wie sie sich ja nennt - als mythisches Denken charakterisiert.
Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist die Akasha-Chronik, in der Rudolf Steiner die Wahrheit direkt aus der jenseitigen geistigen Welt bezog, dies aber nicht mystisch verstanden wissen wollte, wie Helmut Zander erklärt:
"Steiner glaubte nicht in Trance zu schauen. Das taten nur die Spiritisten. Er hatte den Anspruch, mit heller, klarer, rationaler Erkenntnis in die höhere Erkenntnis zu schauen. Die Inhalte, die beanspruchte er aus dieser Akasha-Chronik zu schöpfen, die es auch bei Theosophen gab. Er griff damit auf ein kulturgeschichtlich uraltes Motiv zurück, etwa das Buch des Lebens, und damit war gemeint ein Weltgedächtnis, in dem alles, was in der Welt passiert ist, aufgezeichnet ist, aber natürlich nur für Eingeweihte zugänglich sein soll."
Der Theologe und Religionshistoriker Helmut Zander hat 2007 mit seinem Mammutwerk "Anthroposophie in Deutschland" die erste historisch-kritische Analyse von Rudolf Steiners Lebenswerk vorgelegt. Darin untersucht er vor allem die Quellen, aus denen Steiner seine Weltanschauung bezog, die er aber selten offen legte. Die Reaktionen der Anhänger auf Zanders Buch waren gespalten:
"Es gab letztendlich zwei Varianten: Es gibt zum einen die Anthroposophen, die sehr verletzt waren und mir vorwarfen, Steiners spirituelles Erbe zu zerstören, und mir ausgesprochen feindlich gegenüber getreten sind. Es gibt auf der anderen Seite Anthroposophen, die wissen, dass man Steiner jetzt historisch-kritisch, im Kontext seiner Zeit, interpretieren muss. Die haben zum Teil sehr positiv reagiert, haben allerdings auch häufig gesagt, dass sie diese positiven Reaktionen nicht öffentlich machen wollen, weil der Druck innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft relativ hoch ist."
Diese Reaktionen erinnern an den Widerstand der Kirchen, die sich noch im 19. Jahrhundert gegen eine historisch-kritische Analyse des Christentums gesträubt hatten. Wie eine Kirche beharrt auch die anthroposophische Gesellschaft auf der Originalität ihrer Lehre, also auf dem direkten Zugang zur höheren Wahrheit. Helmut Zander hingegen belegt akribisch, dass Rudolf Steiners Anthroposophie nur eine leicht veränderte Spielart der Theosophie ist, der Steiner ja selbst zehn Jahre lang in entscheidender Position angehörte. Welches sind denn die Unterschiede?
"Als Erstes muss man sagen, die Gemeinsamkeiten sind sehr stark. Unterschiede werden in Konflikten hergestellt. Wenn sich Rudolf Steiner nicht mit Annie Besant, der damaligen Präsidentin, so schlecht verstanden hätte, würde die Anthroposophie vielleicht heute noch Theosophie heißen. Unterschiede hat Steiner stark gemacht in Bezug auf Goethe, in der Einbeziehung der europäischen Tradition, die Theosophie wollte alle Religionen gleich behandeln, während Steiner schon aufgrund seiner mangelnden Kenntnis asiatischer Religionen einen Schwerpunkt auf die Christentumsgeschichte gelegt hat."
Zum 150. Geburtstag von Rudolf Steiner hat nun auch Helmut Zander eine Biografie vorgelegt. Sie ist von den drei Neuerscheinungen die umfangreichste und auch die gewichtigste. Er zeichnet genau den geistigen Werdegang des jungen Rudolf Steiner nach, der sein Studium an der Technischen Hochschule in Wien bald vernachlässigte zugunsten seiner Interessen an Politik und Kunst, Literatur und vor allem: Philosophie.
"Es war letztlich die Frage, die man mit Goethe nennen könnte: Was die Welt im Innersten zusammen hält. Mit dieser Frage hat er die philosophische Literatur seiner Zeit verschlungen, u.a. auch Goethe. Wenn er Goethe gelesen hat, dann nicht mit der Perspektive, in der wir heute Goethe lesen, also mit Blick auf den Faust, auf den Werther, auf die Gedichte, sondern was ihn interessierte, war Goethe als Erkenntnistheoretiker. Das war die fundamentale Prägung."
Rudolf Steiners Weg war alles andere als geradlinig. Von Wien führte er ihn nach Weimar, wo er an einer Goethe-Ausgabe mitarbeitete, von da nach Berlin, wo er zu einem individualistischen Anarchisten mutierte, der den Idee Friedrich Nietzsches anhing. Er arbeitete als Redaktor des "Magazins für Litteratur" und als Lehrer an der Arbeiter-Bildungsschule. Dann wechselte er zur okkulten Theosophischen Gesellschaft und widmete sich der Mystik.
Auffallend ist, dass Steiner in jedem Wissensbereich, den er sich aneignete, sich sofort als Meister aufspielte. Darum beschleicht einen zuweilen das Gefühl, es mit einem Scharlatan oder Hochstapler zu tun zu haben. Aber so will Helmut Zander seine Sicht auf Rudolf Steiner nicht verstanden wissen:
"Ich habe einen Begriff wie Hochstapler bewusst nicht gewählt, weil ich Rudolf Steiner im Grunde für eine ehrliche Haut halte. Ich halte ihn für einen leidenschaftlichen Menschen, als jemanden, der nach höherer Erkenntnis mit einer tiefen inneren Überzeugung sucht. Wo ich allerdings kritisch mit Rudolf Steiner umgehe, ist seine fehlende Bereitschaft, die dramatischen Wandlungen in seiner Biografie offen zuzugestehen. Er war vor 1900 über einige Jahre Nietzscheaner und Atheist, das hat er weichgespült bis zur Unerkennbarkeit."
Helmut Zanders Biografie ist spannend und flüssig zu lesen, trotz ihrer Fülle an Details.
Rudolf Steiner starb 1925 im Alter von 64 Jahren, vermutlich an Magenkrebs. Bis fast zuletzt war er unterwegs, um Vorträge zu halten, darin bestand sein Berufsalltag, und das war auch seine große Stärke. Er soll eine geradezu hypnotische Ausstrahlung gehabt haben, Stefan Zweig berichtete, dass er nicht in Steiners Augen schauen konnte, weil ihn dieser Blick sogar vom Zuhören abgelenkt habe. Miriam Gebhardt, die in ihrer Biografie am unbefangensten über den Privatmann Rudolf Steiner schreibt, deutet diese Ausstrahlung so:
"Also er hat wohl nichts dem Zufall überlassen, er hat dafür gesorgt, dass die Bühne einen gewissen feierlichen Rahmen hatte durch Vorhänge, er hat stimmlich sehr stark an sich gearbeitet, er hat an seinem Äußeren gearbeitet, er hat sich also regelrecht inszeniert, auch als Prophet, indem er wie eine Art Markenzeichen immer dieselbe Kleidung trug, den düsteren dunklen Gehrock und die Künstlerschleife, und dann hatte er diese dramatische Strähne in die Stirn. Also er muss eine sehr beeindruckende Erscheinung gewesen sein, und das alles zusammen muss ihn tatsächlich zu einem faszinierenden Vortragenden gemacht haben."
Eva Pfister stellte die drei neuen Biografien über Rudolf Steiner vor:
Helmut Zander: "Rudolf Steiner. Die Biografie", erschienen im Piper Verlag. 536 S., 18,99 Euro
Miriam Gebhardt: "Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet", Deutsche Verlags Anstalt, 368 S., 22,90 Euro
Heiner Ullrich: "Rudolf Steiner. Leben und Werk", erschienen bei C. H. Beck, 268 S., 19,95 Euro
"Was man sagen kann, ist, dass er aus dem ländlichen Kleinbürgertum kommt, dass sein Vater Bahnbeamter war der königlich-kaiserlichen Bahngesellschaft war, die sehr viel für ihre Mitarbeiter getan hat, unter anderem auch dafür gesorgt hat, dass die Kinder eine ordentliche Ausbildung bekommen, und deshalb ist das Bild falsch. Er ist im Grunde in ein Milieu hineingeboren, das sehr aufstiegsorientiert war, und deswegen hat Rudolf Steiners Vater frühzeitig die Erziehung seines Sohnes selbst in die Hand genommen, hat dafür gesorgt, dass der Sohn einen Oberrealschulabschluss erhalten konnte, dann auch an der Technischen Universität in Wien studieren konnte. Das hat er dadurch erreicht, dass er sehr oft seinen Arbeitsplatz gewechselt hat, von Bahnstation zu Bahnstation, insofern ist dieses Bild eines unbeschriebenen Blattes, das durch übersinnliche Kraft seine Karriere schaffen konnte, völlig falsch."
Miriam Gebhardt macht Rudolf Steiner kenntlich als Kind seiner Zeit und als gelehrigen Mann, der die unterschiedlichsten Theorien und Reformideen für sich fruchtbar gemacht hat. "Rudolf Steiner. Der moderne Prophet" heißt ihre Biografie. Sie macht deutlich, dass er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Prophet unter vielen war.
"Er war ein großer Eklektiker, er hat aus vielen Bereichen sich Versatzstücke ausgeliehen und daraus quasi über Nacht etwas geformt, was die Leute hören wollten. Was ich sehr eindrücklich finde, ist, wie er sich ganze Wissensbereiche, ob es die Medizin war, die Landwirtschaft oder die Ernährungslehre, in nächtlichem Studium aneignen und am nächsten Morgen darüber vortragen konnte. Er war ein Durchlauferhitzer für alle möglichen Ideen seiner Zeit. "
Die Frage bleibt, warum denn von all den modernen Propheten gerade Rudolf Steiner mit seiner Anthroposophie bis heute so lebendig geblieben ist, warum die Medizin, die Kosmetik und die biodynamische Landwirtschaft wahre Erfolgsgeschichten sind.
"Erstens ist unsere Stimmungslage in vieler Hinsicht ähnlich wie damals um 1900 herum. Viele Menschen fühlen sich überfordert von der Technisierung, der Rationalisierung der Welt und haben ein Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit, die anscheinend in der Moderne verloren gegangen ist. Und zum Anderen ist er gut konsumierbar. Man kann einzelne Versatzstücke gut finden, und muss nicht das ganze Paket deswegen kaufen. Nehmen wir die Kosmetikprodukte, die Ernährungsprodukte, nehmen wir die Pädagogik; der der sich für Tanz und Bewegung oder für Körperlichkeit interessiert, wird bei der Anthroposophie ebenso bedient wie derjenige, der sein spirituelles Heil sucht."
Die größte Erfolgsgeschichte der Anthroposophie ist jedoch die Pädagogik. Die allererste Waldorfschule entstand 1919 in Stuttgart als Privatschule für die Kinder der Arbeiter der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria. Heute sind sie weltweit verbreitet und anerkannt als Schulen, die ein ganzheitliches Lernen fördern und auch die musischen Seiten der Kinder im Auge haben. Miriam Gebhardt, die zuletzt ein Buch über die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert geschrieben hat, sieht die Steinerpädagogik allerdings auch kritisch:
"Zum einen sind sie damals als Gegenmodell zu einem staatlichen oder teilweise noch kirchlichen Schulsystem entwickelt worden, und deswegen ist die Frage, ob man mit den alten Antworten auf die neuen Gegebenheiten überhaupt noch richtig fährt. Zum anderen finde ich problematisch das Menschenbild, das dahintersteht. Rudolf Steiner hatte eine Entwicklungstheorie, die schon damals überholt war und die heute allen Kenntnissen über die Entwicklung des Kindes zuwiderläuft. Er hat zum Beispiel geglaubt, dass der Mensch sich in Siebenjahres-Schritten entwickelt und dass er deswegen vor dem Abschluss des 7. Lebensjahres noch nicht lesen lernen darf; dass er vor dem Abschluss des 21. Lebensjahres eigentlich sich noch keine eigenständige Meinung bilden sollte. Und zum Dritten wurde nie thematisiert, was für ein Autoritätsverständnis dahinter steht. Der Waldorflehrer, zumindest in einer klassischen orthodoxen Steiner-Schule, wird immer noch als eine geliebte Autoritätsperson betrachtet, und das, was wir eigentlich heute in einer demokratischen Umwelt fordern, nämlich eine frühzeitige Selbstbehauptung, auch intellektuell, wird eher zu kurz kommen.
Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass sie eben mit einer Ganzheitlichkeit an das Kind herangehen, dass nicht nur rein kognitive Fähigkeiten gefördert werden sollen. Das sind Aspekte, die daran sehr wohl positiv sind, die allerdings auch nicht typisch sind für Waldorfschulen, sondern alle Reformschulen hatten damals diesen Anspruch von Ganzheitlichkeit."
Wer sich speziell für die Pädagogik von Rudolf Steiner interessiert, dem ist das Buch von Heiner Ullrich zu empfehlen: "Rudolf Steiner. Leben und Lehre". Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft und Spezialist für die Steiner-Pädagogik. Seine biografische Darstellung fällt zwar sehr knapp aus, aber er beschreibt er die Lehren von Rudolf Steiner sachlich und respektvoll, obwohl auch er die anthroposophische "Geisteswissenschaft" – wie sie sich ja nennt - als mythisches Denken charakterisiert.
Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist die Akasha-Chronik, in der Rudolf Steiner die Wahrheit direkt aus der jenseitigen geistigen Welt bezog, dies aber nicht mystisch verstanden wissen wollte, wie Helmut Zander erklärt:
"Steiner glaubte nicht in Trance zu schauen. Das taten nur die Spiritisten. Er hatte den Anspruch, mit heller, klarer, rationaler Erkenntnis in die höhere Erkenntnis zu schauen. Die Inhalte, die beanspruchte er aus dieser Akasha-Chronik zu schöpfen, die es auch bei Theosophen gab. Er griff damit auf ein kulturgeschichtlich uraltes Motiv zurück, etwa das Buch des Lebens, und damit war gemeint ein Weltgedächtnis, in dem alles, was in der Welt passiert ist, aufgezeichnet ist, aber natürlich nur für Eingeweihte zugänglich sein soll."
Der Theologe und Religionshistoriker Helmut Zander hat 2007 mit seinem Mammutwerk "Anthroposophie in Deutschland" die erste historisch-kritische Analyse von Rudolf Steiners Lebenswerk vorgelegt. Darin untersucht er vor allem die Quellen, aus denen Steiner seine Weltanschauung bezog, die er aber selten offen legte. Die Reaktionen der Anhänger auf Zanders Buch waren gespalten:
"Es gab letztendlich zwei Varianten: Es gibt zum einen die Anthroposophen, die sehr verletzt waren und mir vorwarfen, Steiners spirituelles Erbe zu zerstören, und mir ausgesprochen feindlich gegenüber getreten sind. Es gibt auf der anderen Seite Anthroposophen, die wissen, dass man Steiner jetzt historisch-kritisch, im Kontext seiner Zeit, interpretieren muss. Die haben zum Teil sehr positiv reagiert, haben allerdings auch häufig gesagt, dass sie diese positiven Reaktionen nicht öffentlich machen wollen, weil der Druck innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft relativ hoch ist."
Diese Reaktionen erinnern an den Widerstand der Kirchen, die sich noch im 19. Jahrhundert gegen eine historisch-kritische Analyse des Christentums gesträubt hatten. Wie eine Kirche beharrt auch die anthroposophische Gesellschaft auf der Originalität ihrer Lehre, also auf dem direkten Zugang zur höheren Wahrheit. Helmut Zander hingegen belegt akribisch, dass Rudolf Steiners Anthroposophie nur eine leicht veränderte Spielart der Theosophie ist, der Steiner ja selbst zehn Jahre lang in entscheidender Position angehörte. Welches sind denn die Unterschiede?
"Als Erstes muss man sagen, die Gemeinsamkeiten sind sehr stark. Unterschiede werden in Konflikten hergestellt. Wenn sich Rudolf Steiner nicht mit Annie Besant, der damaligen Präsidentin, so schlecht verstanden hätte, würde die Anthroposophie vielleicht heute noch Theosophie heißen. Unterschiede hat Steiner stark gemacht in Bezug auf Goethe, in der Einbeziehung der europäischen Tradition, die Theosophie wollte alle Religionen gleich behandeln, während Steiner schon aufgrund seiner mangelnden Kenntnis asiatischer Religionen einen Schwerpunkt auf die Christentumsgeschichte gelegt hat."
Zum 150. Geburtstag von Rudolf Steiner hat nun auch Helmut Zander eine Biografie vorgelegt. Sie ist von den drei Neuerscheinungen die umfangreichste und auch die gewichtigste. Er zeichnet genau den geistigen Werdegang des jungen Rudolf Steiner nach, der sein Studium an der Technischen Hochschule in Wien bald vernachlässigte zugunsten seiner Interessen an Politik und Kunst, Literatur und vor allem: Philosophie.
"Es war letztlich die Frage, die man mit Goethe nennen könnte: Was die Welt im Innersten zusammen hält. Mit dieser Frage hat er die philosophische Literatur seiner Zeit verschlungen, u.a. auch Goethe. Wenn er Goethe gelesen hat, dann nicht mit der Perspektive, in der wir heute Goethe lesen, also mit Blick auf den Faust, auf den Werther, auf die Gedichte, sondern was ihn interessierte, war Goethe als Erkenntnistheoretiker. Das war die fundamentale Prägung."
Rudolf Steiners Weg war alles andere als geradlinig. Von Wien führte er ihn nach Weimar, wo er an einer Goethe-Ausgabe mitarbeitete, von da nach Berlin, wo er zu einem individualistischen Anarchisten mutierte, der den Idee Friedrich Nietzsches anhing. Er arbeitete als Redaktor des "Magazins für Litteratur" und als Lehrer an der Arbeiter-Bildungsschule. Dann wechselte er zur okkulten Theosophischen Gesellschaft und widmete sich der Mystik.
Auffallend ist, dass Steiner in jedem Wissensbereich, den er sich aneignete, sich sofort als Meister aufspielte. Darum beschleicht einen zuweilen das Gefühl, es mit einem Scharlatan oder Hochstapler zu tun zu haben. Aber so will Helmut Zander seine Sicht auf Rudolf Steiner nicht verstanden wissen:
"Ich habe einen Begriff wie Hochstapler bewusst nicht gewählt, weil ich Rudolf Steiner im Grunde für eine ehrliche Haut halte. Ich halte ihn für einen leidenschaftlichen Menschen, als jemanden, der nach höherer Erkenntnis mit einer tiefen inneren Überzeugung sucht. Wo ich allerdings kritisch mit Rudolf Steiner umgehe, ist seine fehlende Bereitschaft, die dramatischen Wandlungen in seiner Biografie offen zuzugestehen. Er war vor 1900 über einige Jahre Nietzscheaner und Atheist, das hat er weichgespült bis zur Unerkennbarkeit."
Helmut Zanders Biografie ist spannend und flüssig zu lesen, trotz ihrer Fülle an Details.
Rudolf Steiner starb 1925 im Alter von 64 Jahren, vermutlich an Magenkrebs. Bis fast zuletzt war er unterwegs, um Vorträge zu halten, darin bestand sein Berufsalltag, und das war auch seine große Stärke. Er soll eine geradezu hypnotische Ausstrahlung gehabt haben, Stefan Zweig berichtete, dass er nicht in Steiners Augen schauen konnte, weil ihn dieser Blick sogar vom Zuhören abgelenkt habe. Miriam Gebhardt, die in ihrer Biografie am unbefangensten über den Privatmann Rudolf Steiner schreibt, deutet diese Ausstrahlung so:
"Also er hat wohl nichts dem Zufall überlassen, er hat dafür gesorgt, dass die Bühne einen gewissen feierlichen Rahmen hatte durch Vorhänge, er hat stimmlich sehr stark an sich gearbeitet, er hat an seinem Äußeren gearbeitet, er hat sich also regelrecht inszeniert, auch als Prophet, indem er wie eine Art Markenzeichen immer dieselbe Kleidung trug, den düsteren dunklen Gehrock und die Künstlerschleife, und dann hatte er diese dramatische Strähne in die Stirn. Also er muss eine sehr beeindruckende Erscheinung gewesen sein, und das alles zusammen muss ihn tatsächlich zu einem faszinierenden Vortragenden gemacht haben."
Eva Pfister stellte die drei neuen Biografien über Rudolf Steiner vor:
Helmut Zander: "Rudolf Steiner. Die Biografie", erschienen im Piper Verlag. 536 S., 18,99 Euro
Miriam Gebhardt: "Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet", Deutsche Verlags Anstalt, 368 S., 22,90 Euro
Heiner Ullrich: "Rudolf Steiner. Leben und Werk", erschienen bei C. H. Beck, 268 S., 19,95 Euro