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Mit Musik Grenzen überwunden

Es war eine kuriose Idee, angesichts zunehmend verhärteter ideologischer Grenzen an so etwas wie kulturellen Austausch zu denken. Und dennoch kam es gerade im Fall des scheuen Klaviervirtuosen Glenn Gould vor 50 Jahren zu einer solchen Grenzüberschreitung: die erste Tournee eines nordamerikanischen Pianisten in der Sowjetunion.

Von Stefan Zednik | 12.05.2007
    "Ich hasse das Publikum. Nicht den Einzelnen, sondern als Masse hasse ich das Publikum. Es ist eine teuflische Macht. Ich kann nicht verstehen, wie jemand mit ihm kommunizieren kann. Ich akzeptiere das, aber ich halte es für lächerlich: Man gehorcht dem Kommando des Pöbels."

    Es war ein rigoroses Credo, das der Pianist Glenn Gould nach seinem endgültigen Rückzug vom Konzertpodium vertrat. Und doch konnte auch Gould zu Beginn seiner Karriere auf öffentliche Auftritte nicht verzichten. 1955 war die zur Legende gewordene Aufnahme von Bachs Goldberg-Variationen erschienen. Da hatte sein Manager Walter Homburger die Idee, für Gould eine ganz besondere Tournee zu planen.

    "Damals hatte Glenn schon begonnen, in den USA zu konzertieren, da dachte ich an eine Russland-Tournee. Über das Außenministerium entstand der Kontakt, und die Russen waren von der Idee angetan."

    Die sowjetische Gesellschaft befand sich nach Stalins Tod 1953 in einer Stimmung zwischen Neugier und Lethargie. Man war ermutigt durch die Entmachtung des Geheimdienstes, die allmähliche Auflösung sibirischer Lager und die plötzlich erlaubte Kritik am stalinistischen Personenkult, gleichzeitig irritiert durch die gewaltsame Niederschlagung demokratischer Regungen und die sich zementierende militärische Blockbildung. Dennoch schien das Land unter Chruschtschow offener, kritischer und auch kulturell liberaler zu werden. Mit David Oistrach und Emil Gilels waren 1955 zum ersten Mal sowjetische Musiker in den USA aufgetreten. Nun stand eine kulturelle Antwort Amerikas an, und so landete im Mai 1957 der 24-jährige Gould als erster nordamerikanischer Pianist auf dem Moskauer Flughafen.

    "Ich sah ihn die Treppe herunterkommen, es war sehr heiß in Moskau, er trug einen Hut, Mantel, Schal und Handschuhe. Ich war ein wenig überrascht, dass er mir seine Hand nicht reichte."

    So erinnert sich seine Dolmetscherin später. Das erste Konzert ist schlecht besucht, der Kanadier hier gänzlich unbekannt. Doch nach den ersten Tönen herrscht atemlose Spannung. Hier sitzt ein Bach-Interpret wie von einem anderen Stern: hart, unromantisch, von einer geistigen Klarheit, die wie das ersehnte Programm einer neuen musikalischen Kultur erscheint. In der Pause eilen die wenigen Zuhörer zu den Telefonen, die Kunde verbreitet sich rasend, danach ist der Saal wie bei allen noch folgenden Konzerten in Moskau und Leningrad brechend voll.

    Man bittet Gould, für die Studenten des Konservatoriums ein Gesprächskonzert zu geben. Er bestimmt das Programm selbst, und so kommt es am 12. Mai zur Aufführung einer Musik, die bis dato als "formalistisch, dekadent und bürgerlich" verurteilt und so in der Sowjetunion noch nie zu hören war.

    Die Nachwirkungen auf die musikalisch-intellektuelle Szene sind enorm, auch wenn sich die Hoffnung auf eine weitergehende kulturelle Öffnung des Landes zunächst nicht erfüllen sollte. In den folgenden Jahren beschäftigt sich Gould intensiv mit russischer Geschichte, Musik und Literatur. Und er erinnert sich:

    "Es war ein Erlebnis, das mir für den Rest meines Lebens in Erinnerung bleiben wird. Man hat es mit einem Publikum zu tun, das jeder überzeugend vorgebrachten Idee zugänglich ist. Es war vielleicht ein ähnliches Gefühl, wie wenn man als erster Musiker auf dem Mars oder der Venus landet und einigen äußerst verwirrten, aber ernsthaft interessierten Zuhörern einen riesigen unerforschten Bereich offenbaren soll. Es war ein großartiger Tag für mich!"