"Diese Niederlage ist bitter und sie ist schwer."
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Berlin - unter Tage: Die Grünen haben sich zum Wunden lecken versammelt - im Velodrom, einer Radsportarena im Osten der Bundeshauptstadt - eine Betonwüste mit Tiefgaragen-Charme. Bühne und Delegiertenplätze sind im Innenraum aufgebaut. Die leeren Zuschauerränge sind mit schwarzen Stoffbahnen abgehängt, im April beim Programmparteitag am selben Ort hatten Bündnis 90/Die Grünen hier noch optimistische - natürlich grüne Banner platziert, die für die Zeit nach der Bundestagswahl "Wechsel" und "Modernisierung" verhießen. "Deutschland ist erneuerbar" hieß der Aufbruch-Slogan im Frühjahr.
Das Motto diesmal - etwas defensiver: "Miteinander für morgen". Die Acht-Prozent-Partei soll zusammenstehen, um nach dem enttäuschenden Wahlergebnis die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen - und die Zukunft lautet - wieder einmal Opposition.
"Opposition gehört zur Verantwortung von Demokraten."
Entsprechend gedämpft beginnt die Konferenz - es ist ein bisschen wie nach einem verlorenen Fußballspiel, wenn der Sportreporter die drei üblichen, allgemeinen Fragen stellt: Was ist geschehen, wie konnte es so weit kommen und wie soll es jetzt weiter gehen. Fest steht, Bündnis 90/Die Grünen haben im Vergleich zu 2009 mehr als 2 Prozentpunkte verloren, und die größte Niederlage: Für Rot-Grün hat es wieder einmal nicht gereicht. Auf dieses Bündnis hatte sich die Partei im Wahlkampf festgelegt.
Dieser Punkt, sowie zahlreiche weitere Elemente des Wahlprogramms werden seit der Bundestagswahl auf den Prüfstand oder gleich infrage gestellt. Denn dieses Programm, dieses sehr ausführliche und präzise Machwerk der Grünen, konnte die Wähler nicht überzeugen.
Warum das nicht gelungen ist, das analysiert die Partei seit dem Abend des 22. September, begleitet von Medien und Öffentlichkeit. Jetzt auf dem Bundesparteitag ist die Niederlage noch einmal das bestimmende Thema - und natürlich all das, was aus ihr folgt:
"Wir müssen hier in Berlin einen tragenden Konsens finden, wo wir stehen und wer wir sind…"
Herrscht zu Beginn der Konferenz noch sehr viel Unruhe in der Halle, werden die rund 800 Delegierten während der Rede von Parteichef Cem Özdemir aufmerksamer, der Applaus steigert sich während dieser halben Stunde. Gespräche und Versammlungen in den Gängen lösen sich auf.
"Manchmal gilt für Parteien einfach dasselbe wie für normale Menschen. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, liebe Freundinnen und Freunde."
Özdemir räumt eigene Verantwortung für das schlechte Wahlergebnis ein, der Schlussapplaus ist respektabel. Ein gutes Vorzeichen für die Wiederwahl des Realos, die am zweiten Tag der Bundesdelegiertenkonferenz ansteht.
Das können wir besser machen, und das werden wir besser machen, gibt Özdemir seinen Parteifreunden in der Eröffnungsrede mit auf den Weg. Und spricht ein weiteres Mal von den im Wahlkampf viel zitierten Leitplanken, die man der Wirtschaft für die ökologische Transformation setzen will. Und da ist sie dann wieder, diese Haltung, die bevormundend klingt, und von der sich die Partei doch eigentlich verabschieden will. Verbotspartei, Besserwisserpartei – bekannte Attribute für die Ökopartei, die sie sich im Wahlkampf jedoch gehäuft anhören musste. Die ehemalige Frankfurter Umweltdezernentin Manuela Rottmann drückt es noch plastischer aus.
"Wir sind in vielen Teilen eine Klugscheißerpartei geworden. Die klassische Parteitagsrede besteht zu zwei Dritteln aus Banalitäten: Wir stehen für…, ich stehe für... Und dann kommt das grüne Wahlprogramm von vorne bis hinten. Also ob wir uns da in den wesentlichen Punkten nicht einig wären."
Vorschläge wie etwa den Veggie-Day in Kantinen erlebten viele potenzielle Wähler offenbar als maßregelnd und einengend - ungünstig unterstützt durch eine oberlehrerhafte Haltung, wie sie etwa den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin oft vorgehalten wird.
Die neue Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, mahnt hier Besserung an. Und man merkt ihr an, dass sie sehr wohl weiß, dass dieser Appell auch für sie selbst gilt.
"Natürlich liebe Freundinnen und Freunde ist es Quatsch, mit dem SUV zum Supermarkt zu fahren. Und noch mehr Quatsch ist es, wenn man damit das Billigfleisch abholt. Aber es steht uns eben nicht zu, darüber zu urteilen, ästhetisch oder kulturell. Wenn wir die Partei der Selbstbestimmung sein wollen und der Freiheit der Lebensentwürfe, dann eben nicht nur für uns, und nicht nur für die, die uns passen, sondern auch für die, deren Lebensweise uns total fremd ist. Erst dann haben wir es geschafft, über Freiheit und Selbstbestimmung auch wirklich ehrlich zu reden, liebe Freundinnen und Freunde."
Der hessische Fraktionsvorsitzende Tarek Al-Wazir empfiehlt für die Zukunft:
"Hinhören, zuhören und wir dürfen nie wieder Wahlkampf, wenn ich das mal so sagen darf, mit dem Holzhammer machen, sondern wir müssen der Gesellschaft Angebote machen. Und dann muss die Gesellschaft entscheiden, ob sie diese Angebote annimmt oder nicht."
Drei Hauptgründe machen die Grünen in ihrer Debatte für die Niederlage aus: die Steuer-Diskussion, den Veggie-Day und die Pädophilie-Debatte. Die scheidende Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke sieht im letzten Punkt sogar die Hauptursache:
"Der Absturz in die Einstelligkeit, den hat uns die Pädophilie-Debatte eingebracht. Und diesbezüglich habe ich an uns als Partei auch noch ein paar Fragen. Die sind für mich nicht fertig beantwortet, wie wir das hinbekommen haben, dass bis vor einem halben Jahr niemand in diesem Laden wusste, dass diese Passagen in unserem alten Grundsatzprogramm gestanden haben."
Ihre eigene Unwissenheit thematisiert sie nicht weiter.
Das erst genannte unpopuläre Thema im Wahlkampf - die Steuererhöhungen - beschäftigt die Delegierten immer noch. Und es ruft die üblichen Flügelkonflikte wieder auf den Plan. Ein Antrag aus den Reihen der Realos, die vorgesehenen Steuererhöhungen explizit als Fehler zu benennen, fand keine Mehrheit.
Die Grünen wollten den Wählern ein durchgerechnetes Konzept vorlegen. Das war für die meisten aber viel zu komplex. Die Frage, wer denn nun alles künftig höhere Steuern zahlen solle, wenn es nach den Grünen ginge, ließ sich offenbar nicht so einfach und verständlich beantworten, wie es sich die Finanzexperten der Partei vorgestellt hatten. Das hat potenzielle Wähler nicht nur verunsichert, sondern auch abgeschreckt und beim Mittelstand zuvor erarbeitetes Vertrauen zerstört. Dabei lautete das Ziel der Wahlkampfstrategie eigentlich, neue Wählergruppen zu erschließen.
Man habe die Menschen schlicht überfordert, räumt nun auch der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Jürgen Trittin, ein:
"Ja, wir haben Fehler gemacht, ich habe Fehler gemacht. Wir hätten das Motto des letzten Parteitages "Deutschland ist erneuerbar" ernster nehmen müssen. Wir hätten härter darum streiten müssen, wie mit der Energiewende umgegangen wird. Und so wichtig Kosten sind, wir hätten auch und gerade über den Sinn und den Zweck und das Ziel der Energiewende stärker reden müssen. Wir haben uns gemeinsam zu sehr in einen ergebnislosen, aber folgenreichen Streit um Steuer verwickeln lassen, statt über Bildung, Investitionen und Geld für globale Gerechtigkeit zu sprechen. Ja, und wir haben die Veränderungsbereitschaft dieser Gesellschaft überschätzt, gerade in Zeiten einer guten Wirtschaftslage."#
Winfried Kretschmann widerspricht: Die Veränderungsbereitschaft sei - im Gegenteil - sehr groß. Aber auch hier gelte es Angebote zu machen und keine Vorschriften. Die Steuerpolitik habe schlicht nicht in die Zeit gepasst. Diese Kritik hatte er bereits im Wahlkampf geäußert. Der wirtschaftsfreundliche Realpolitiker fand die Kampagne zu links, zu sehr auf Umverteilung fokussiert. Als einziger grüner Ministerpräsident findet er in der Partei zwar viel Gehör seine Positionen und seine Parteikritik sind jedoch nur selten mehrheitsfähig. Kretschmann legt in Berlin noch einmal nach. Die Partei habe Vertrauen in die Bürgerschaft und die Wirtschaft vermissen lassen:
""Es geht der Situation, in der wir sind, darum, das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft neu zu ordnen und wir sind historisch die Partei, die aus der Zivilgesellschaft entstanden ist sowie ja die ökologische Frage überhaupt aus der Zivilgesellschaft auf die Agenda der Politik gesetzt wurde und nicht irgendwo her kam."
Eine Rückbesinnung auf das grüne Kernthema - die Umweltpolitik, also inbegriffen die Energiewende und der Klimaschutz - das wird bei dieser Bundesdelegiertenkonferenz oft gefordert. Das bedeute nicht, dass man eine Ein-Themen-Partei sei, betont der Bundesvorsitzenden Cem Özdemir:
"Die ökologische Frage und die ökologische Modernisierung - das ist der Markenkern von Bündnis 90/Die Grünen, und davon ausgehend schlagen wir Brücken zu anderen Themen."
Selbstbespiegelung und Selbstfindung nach der Wahlschlappe. Es wird vieles beteuert, was die Grünen nicht seien, eben keine Ein-Punkt-Partei, keine Verbotspartei, keine dritte Linkspartei. Und die Grünen gestehen sich immer wieder ein, dass ihr Programm viel zu ambitioniert, viel zu detailliert und starr war. Katrin Göring-Eckardt:
"Wir hatten Antworten auf Fragen, die uns überhaupt niemand gestellt hat."
Die Folge - überforderte Wähler und Wahlkämpfer. Die Grünen haben schmerzlich erkannt, dass die Devise der CDU, möglichst viele Themen abzudecken, bei den Vorhaben aber möglichst allgemein zu bleiben, offenbar Erfolg versprechender ist.
Und die CDU, vielmehr die Union, ist dann auch Thema, als es darum geht, warum es Schwarz-Grün im Bund jetzt nicht geben kann, in Zukunft aber schon.
Immer wieder betonen die Delegierten in dieser Debatte die Eigenständigkeit, die sich die Grünen bei einer solchen Öffnung bewahren müssten. Wobei der Begriff viele verschiedene Definitionen erfährt. Die Delegierte Marie Dazert ärgert das. Die 21-Jährige hat im Kreisverband Hamm für ein Bundestagsmandat kandidiert.
"Wenn man das positiv besetzte Wort Eigenständigkeit dafür nutzt, gegen eine linke Mehrheit und für ein bürgerliches Bündnis zu werben, finde ich das sehr schwierig."
Tarek Al-Wazir, der in Hessen noch mögliche Bündnisse für eine Regierungsbeteiligung ausloten muss und will, sieht das natürlich etwas anders.
"Eigenständigkeit kann man nicht beschließen, sondern Eigenständigkeit, muss man leben, die muss man als Haltung haben. Und das wird unser Job sein in den nächsten Jahren."
In den kommenden Wochen kann der hessische Fraktionsvorsitzende demonstrieren, was er damit meint.
"Wir sondieren mit allen, das heißt, wir gehen mit der SPD zur Linkspartei. Und wenn die hessische FDP sich aus ihrem selbst gebauten Turm verabschieden möchte, dann würden wir sogar mit denen reden. Und wir reden auch mit der CDU. Und ich kann euch sagen, natürlich haben wir in Hessen eine lange Geschichte von dem, was uns trennt. Aber wir sondieren ganz ernsthaft…"
Das bedeute, keine Differenzen zu erfinden, wo vielleicht gar keine mehr sind. Tenor der Debatte und letztlich auch Beschluss - die Grünen müssen sich künftig für andere Bündnisse öffnen als Rot-Grün. Etwa für Rot-Grün-Rot oder für Schwarz-grün. Warum es diesmal nicht gereicht hat für Schwarz-Grün? Inhaltliche Differenzen werden genannt. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende Trittin erläutert, die Union habe sechs der neun grünen Schlüsselprojekte, also der wichtigsten Vorhaben abgelehnt.
"Wer mit Grünen regieren will, der muss beim Klimaschutz mehr und nicht weniger tun."
Die Ablehnung einer schwarz-grünen Koalition kommt bei Trittin daher, als trage sie den Merkel-Stempel "alternativlos"- eine Herangehensweise, die die Grünen ja eigentlich nicht wollen. Trittin setzt auf Abgrenzung - auf Alleinstellungsmerkmale der Grünen - seine Definition von Eigenständigkeit, auch nach dem Wahlkampf.
Aber auch Grüne sind erneuerbar - zumindest teilweise.
Jürgen Trittin wird nach seiner Rede als ehemaliger Spitzenkandidat und Fraktionsvorsitzender im Bundestag verabschiedet – mit standing ovations. Die Dankesrede hält seine Wahlkampfkollegin Katrin Göring-Eckardt.
"Das Erneuerbare Energien-Gesetz, das sich fast 50 Länder zum Vorbild genommen haben, ein echter Exportschlager. Und auch das haben wir Dir zu verdanken."
Sie würdigt Trittins politische Leistungen, und es klingt ein bisschen wie eine Grabrede, zumindest aber wie eine Verabschiedung in den Ruhestand, dabei sitzt der Partei-Linke weiterhin in der Fraktion.
"Du bist ja noch da,"
bemerkt dann auch Katrin Göring-Eckardt - nach ihrer Rede erheben sich die Delegierten ein weiteres Mal, Applaus für Jürgen Trittin und ein Blumenstrauß. Göring-Eckardt bleibt als Fraktionsvorsitzende in der ersten Reihe, er zieht sich nach hinten zurück. Einige in der Partei finden das ungerecht und unverständlich. Schließlich tragen beide Spitzenkandidaten eine Verantwortung für das Wahlergebnis. Mit der Vorstandwahl verhält es sich ähnlich. Etliche Delegierte äußern zudem den Unmut, nicht wirklich die Wahl zu haben. Zwei Kandidaten für zwei Posten - nach Flügelproporz ausgewählt, der bislang unbekannte Gegenkandidat ist chancenlos.
"Ich denke, es ist immer gut, wenn wir auch Auswahl haben. Wir sind eine basisorientierte Partei. Wichtig ist, dass es auch keine Niederlage ist, wenn man mal nicht gewählt wird. Ich würde mir das wünschen, dass wir mehr Kandidaten im Angebot hätten."
"Ich denke, dass die Leute, die fähig sind, sich auch beworben haben. Da kann man auch die Leute raussuchen."
"So wirklich ein personeller Austausch ist es nicht unbedingt. Also, da hätte man, finde ich, noch krasser verjüngen und erneuern können, als es jetzt so der Fall ist, finde ich."
Die Hälfte des Bundesvorstandes wird ausgetauscht. Und das ist eine echte Zäsur in der Geschichte der Grünen, denn Claudia Roth wird nicht mehr Teil der Parteispitze sein.
"I am what I am and what I am needs no excuses.”"
Schrill, bunt, bioenergiegeladen - laut, polarisierend: So ist Claudia Roth und so feiern und verabschieden die Grünen ihre langjährige Vorsitzende. Über die Leinwände auf der Bühne flimmert ein liebevoll zusammengestellter zehnminütiger Film über Stationen einer politischen Karriere, wechselnde Haarfarben und Kleidungsstile.
Im November vergangenen Jahres hatte eine BDK Claudia Roth noch mit großer Mehrheit wiedergewählt – nachdem sie zuvor als Spitzenkandidatin durchgefallen war. Standing Ovations diesmal auch für sie, der Saal ist voll und tobt, Roth ringt mit den Tränen.
"Du verkörperst die emotionale Wahrheit unserer grünen Politik wie niemand sonst."
Der Bundestagsabgeordnete Frithjof Schmidt hält eine der beiden Dankesreden.
Wieder gefasst tritt Roth ein letztes Mal als Vorsitzende ans Rednerpult. Mit der für sie typischen Vehemenz zählt sie alles Anliegen und Gruppen auf, für die die Grünen sich nach wie vor einsetzen sollten.
"Also lasst uns zusammen mit den Umweltverbänden gegen die Kohlekraft kämpfen. Lasst uns mit Bäuerinnen und Bauern gegen die Massentierhaltung kämpfen. Lasst uns mit Männern für die volle Gleichberechtigung von Frauen kämpfen."
Claudia Roth will Bundestagsvizepräsidentin werden, sie liefert eine fast staatstragende Rede über ihren Auftrag - ihr Erbe als Parteichefin - vorgetragen wie eine Antrittsrede:
"Lasst uns mit den Kirchen für die Schwächsten und gegen die Globalisierung der Gleichgültigkeit kämpfen…"
Eine lange Rede, Winfried Kretschmann in der ersten Reihe reibt sich bereits die Augen. Im Anschluss stehen noch einmal alle Delegierten auf, Roth nimmt Applaus, Jubel und Umarmungen entgegen, dann greift sie nach Handtasche, Blumenstrauß und Mantel und verlässt rasch die Bühne. Wenn eine Kamera auf sie zu kommt oder sie angesprochen wird, lächelt sie, dann wird ihr Gesicht wieder traurig und ernst, der Abschiedsschmerz ist ihr anzusehen.
Länger als eine Stunde dauert der Programmpunkt - Abschied von Claudia Roth. Sie war mehr als 11 Jahre lang die Galionsfigur der Partei - ein Polit-Promi, eine Celebrity. In ihre Fußstapfen zu treten, wird schwer. Wie gut, dass Roths Nachfolgerin ganz anders ist. Das wird es ihr und der Partei leichter machen. Simone Peter war Umweltministerin in der saarländischen Jamaika-Koalition, sie hat die Agentur für Erneuerbare Energien mit aufgebaut, sie ist Biologin, also durch und durch Fachpolitikerin für das grüne Kernthema. Eine unaufgeregte, pragmatische Frau, die mit diesen Eigenschaften vielleicht einmal mit Angela Merkel auf Augenhöhe über eine Zusammenarbeit verhandeln könnte.
"In den kommenden Jahren entscheidet sich, wem die Zukunft der Energie gehört - uns allen oder RWE und Co., der Kohle oder der Sonne. Das ist die Machtfrage."
Die 47-Jährige wird mit knapp 76 Prozent der Stimmen zur neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Ihr Landtagsmandat im Saarland gibt sie zurück.
Und dann wird es noch einmal typisch grün auf dem Parteitag - die viel beschworene Vielfalt zeigt sich in Person von Thomas Austermann. Das unbekannte Essener Parteimitglied bewirbt sich um den Posten des Bundesvorsitzenden. Austermann, etwas ungepflegt, übergewichtig und eher unkonzentriert, hat nicht wirklich Ambitionen auf das Amt, sondern eine Botschaft:
"Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg von deutschem Boden."
Zwei Prozent der Stimmen bekommt er letztlich. Bei Cem Özdemir, dem Kandidaten der es ernst meint, reicht es für eine solide Bestätigung im Amt des Bundesvorsitzenden. Für mehr aber auch nicht. Ein bisschen Strafe muss sein. 71 Prozent der Delegierten stimmen für ihn.
Integrativ will er künftig wirken. Die beiden Flügel sowie Bundes-, Länder- und Europapolitiker mehr zusammenbringen. Mit Blick auf die anstehenden drei Landtagswahlkämpfe im kommenden Jahr, auf einige Kommunalwahlen und die Europawahl.
"Also lasst uns aufhören damit, von denen in den Ländern versus denen im Bund zu sprechen versus denen in Europa. Wir sind eine gemeinsame Partei und so sollten wir auch auftreten in Zukunft."
Özdemir wird in Zukunft nicht mehr im Schatten von Claudia Roth oder anderen altgedienten Polit-Promis stehen. Nach seiner Wiederwahl bittet er die teilerneuerte Partei- und Fraktionsspitze auf die Bühne zum Gruppenbild -
"Ja, kommt mal weiter nach vorn, ist besser fürs Bild."
Und eröffnet vier Jahre Oppositionsarbeit. Die Zeit des Rückzugs, des Wunden Leckens - zumindest für diese vier, für Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, Simone Peter und Cem Özdemir, ist sie jetzt vorbei.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Berlin - unter Tage: Die Grünen haben sich zum Wunden lecken versammelt - im Velodrom, einer Radsportarena im Osten der Bundeshauptstadt - eine Betonwüste mit Tiefgaragen-Charme. Bühne und Delegiertenplätze sind im Innenraum aufgebaut. Die leeren Zuschauerränge sind mit schwarzen Stoffbahnen abgehängt, im April beim Programmparteitag am selben Ort hatten Bündnis 90/Die Grünen hier noch optimistische - natürlich grüne Banner platziert, die für die Zeit nach der Bundestagswahl "Wechsel" und "Modernisierung" verhießen. "Deutschland ist erneuerbar" hieß der Aufbruch-Slogan im Frühjahr.
Das Motto diesmal - etwas defensiver: "Miteinander für morgen". Die Acht-Prozent-Partei soll zusammenstehen, um nach dem enttäuschenden Wahlergebnis die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen - und die Zukunft lautet - wieder einmal Opposition.
"Opposition gehört zur Verantwortung von Demokraten."
Entsprechend gedämpft beginnt die Konferenz - es ist ein bisschen wie nach einem verlorenen Fußballspiel, wenn der Sportreporter die drei üblichen, allgemeinen Fragen stellt: Was ist geschehen, wie konnte es so weit kommen und wie soll es jetzt weiter gehen. Fest steht, Bündnis 90/Die Grünen haben im Vergleich zu 2009 mehr als 2 Prozentpunkte verloren, und die größte Niederlage: Für Rot-Grün hat es wieder einmal nicht gereicht. Auf dieses Bündnis hatte sich die Partei im Wahlkampf festgelegt.
Dieser Punkt, sowie zahlreiche weitere Elemente des Wahlprogramms werden seit der Bundestagswahl auf den Prüfstand oder gleich infrage gestellt. Denn dieses Programm, dieses sehr ausführliche und präzise Machwerk der Grünen, konnte die Wähler nicht überzeugen.
Warum das nicht gelungen ist, das analysiert die Partei seit dem Abend des 22. September, begleitet von Medien und Öffentlichkeit. Jetzt auf dem Bundesparteitag ist die Niederlage noch einmal das bestimmende Thema - und natürlich all das, was aus ihr folgt:
"Wir müssen hier in Berlin einen tragenden Konsens finden, wo wir stehen und wer wir sind…"
Herrscht zu Beginn der Konferenz noch sehr viel Unruhe in der Halle, werden die rund 800 Delegierten während der Rede von Parteichef Cem Özdemir aufmerksamer, der Applaus steigert sich während dieser halben Stunde. Gespräche und Versammlungen in den Gängen lösen sich auf.
"Manchmal gilt für Parteien einfach dasselbe wie für normale Menschen. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, liebe Freundinnen und Freunde."
Özdemir räumt eigene Verantwortung für das schlechte Wahlergebnis ein, der Schlussapplaus ist respektabel. Ein gutes Vorzeichen für die Wiederwahl des Realos, die am zweiten Tag der Bundesdelegiertenkonferenz ansteht.
Das können wir besser machen, und das werden wir besser machen, gibt Özdemir seinen Parteifreunden in der Eröffnungsrede mit auf den Weg. Und spricht ein weiteres Mal von den im Wahlkampf viel zitierten Leitplanken, die man der Wirtschaft für die ökologische Transformation setzen will. Und da ist sie dann wieder, diese Haltung, die bevormundend klingt, und von der sich die Partei doch eigentlich verabschieden will. Verbotspartei, Besserwisserpartei – bekannte Attribute für die Ökopartei, die sie sich im Wahlkampf jedoch gehäuft anhören musste. Die ehemalige Frankfurter Umweltdezernentin Manuela Rottmann drückt es noch plastischer aus.
"Wir sind in vielen Teilen eine Klugscheißerpartei geworden. Die klassische Parteitagsrede besteht zu zwei Dritteln aus Banalitäten: Wir stehen für…, ich stehe für... Und dann kommt das grüne Wahlprogramm von vorne bis hinten. Also ob wir uns da in den wesentlichen Punkten nicht einig wären."
Vorschläge wie etwa den Veggie-Day in Kantinen erlebten viele potenzielle Wähler offenbar als maßregelnd und einengend - ungünstig unterstützt durch eine oberlehrerhafte Haltung, wie sie etwa den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin oft vorgehalten wird.
Die neue Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, mahnt hier Besserung an. Und man merkt ihr an, dass sie sehr wohl weiß, dass dieser Appell auch für sie selbst gilt.
"Natürlich liebe Freundinnen und Freunde ist es Quatsch, mit dem SUV zum Supermarkt zu fahren. Und noch mehr Quatsch ist es, wenn man damit das Billigfleisch abholt. Aber es steht uns eben nicht zu, darüber zu urteilen, ästhetisch oder kulturell. Wenn wir die Partei der Selbstbestimmung sein wollen und der Freiheit der Lebensentwürfe, dann eben nicht nur für uns, und nicht nur für die, die uns passen, sondern auch für die, deren Lebensweise uns total fremd ist. Erst dann haben wir es geschafft, über Freiheit und Selbstbestimmung auch wirklich ehrlich zu reden, liebe Freundinnen und Freunde."
Der hessische Fraktionsvorsitzende Tarek Al-Wazir empfiehlt für die Zukunft:
"Hinhören, zuhören und wir dürfen nie wieder Wahlkampf, wenn ich das mal so sagen darf, mit dem Holzhammer machen, sondern wir müssen der Gesellschaft Angebote machen. Und dann muss die Gesellschaft entscheiden, ob sie diese Angebote annimmt oder nicht."
Drei Hauptgründe machen die Grünen in ihrer Debatte für die Niederlage aus: die Steuer-Diskussion, den Veggie-Day und die Pädophilie-Debatte. Die scheidende Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke sieht im letzten Punkt sogar die Hauptursache:
"Der Absturz in die Einstelligkeit, den hat uns die Pädophilie-Debatte eingebracht. Und diesbezüglich habe ich an uns als Partei auch noch ein paar Fragen. Die sind für mich nicht fertig beantwortet, wie wir das hinbekommen haben, dass bis vor einem halben Jahr niemand in diesem Laden wusste, dass diese Passagen in unserem alten Grundsatzprogramm gestanden haben."
Ihre eigene Unwissenheit thematisiert sie nicht weiter.
Das erst genannte unpopuläre Thema im Wahlkampf - die Steuererhöhungen - beschäftigt die Delegierten immer noch. Und es ruft die üblichen Flügelkonflikte wieder auf den Plan. Ein Antrag aus den Reihen der Realos, die vorgesehenen Steuererhöhungen explizit als Fehler zu benennen, fand keine Mehrheit.
Die Grünen wollten den Wählern ein durchgerechnetes Konzept vorlegen. Das war für die meisten aber viel zu komplex. Die Frage, wer denn nun alles künftig höhere Steuern zahlen solle, wenn es nach den Grünen ginge, ließ sich offenbar nicht so einfach und verständlich beantworten, wie es sich die Finanzexperten der Partei vorgestellt hatten. Das hat potenzielle Wähler nicht nur verunsichert, sondern auch abgeschreckt und beim Mittelstand zuvor erarbeitetes Vertrauen zerstört. Dabei lautete das Ziel der Wahlkampfstrategie eigentlich, neue Wählergruppen zu erschließen.
Man habe die Menschen schlicht überfordert, räumt nun auch der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Jürgen Trittin, ein:
"Ja, wir haben Fehler gemacht, ich habe Fehler gemacht. Wir hätten das Motto des letzten Parteitages "Deutschland ist erneuerbar" ernster nehmen müssen. Wir hätten härter darum streiten müssen, wie mit der Energiewende umgegangen wird. Und so wichtig Kosten sind, wir hätten auch und gerade über den Sinn und den Zweck und das Ziel der Energiewende stärker reden müssen. Wir haben uns gemeinsam zu sehr in einen ergebnislosen, aber folgenreichen Streit um Steuer verwickeln lassen, statt über Bildung, Investitionen und Geld für globale Gerechtigkeit zu sprechen. Ja, und wir haben die Veränderungsbereitschaft dieser Gesellschaft überschätzt, gerade in Zeiten einer guten Wirtschaftslage."#
Winfried Kretschmann widerspricht: Die Veränderungsbereitschaft sei - im Gegenteil - sehr groß. Aber auch hier gelte es Angebote zu machen und keine Vorschriften. Die Steuerpolitik habe schlicht nicht in die Zeit gepasst. Diese Kritik hatte er bereits im Wahlkampf geäußert. Der wirtschaftsfreundliche Realpolitiker fand die Kampagne zu links, zu sehr auf Umverteilung fokussiert. Als einziger grüner Ministerpräsident findet er in der Partei zwar viel Gehör seine Positionen und seine Parteikritik sind jedoch nur selten mehrheitsfähig. Kretschmann legt in Berlin noch einmal nach. Die Partei habe Vertrauen in die Bürgerschaft und die Wirtschaft vermissen lassen:
""Es geht der Situation, in der wir sind, darum, das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft neu zu ordnen und wir sind historisch die Partei, die aus der Zivilgesellschaft entstanden ist sowie ja die ökologische Frage überhaupt aus der Zivilgesellschaft auf die Agenda der Politik gesetzt wurde und nicht irgendwo her kam."
Eine Rückbesinnung auf das grüne Kernthema - die Umweltpolitik, also inbegriffen die Energiewende und der Klimaschutz - das wird bei dieser Bundesdelegiertenkonferenz oft gefordert. Das bedeute nicht, dass man eine Ein-Themen-Partei sei, betont der Bundesvorsitzenden Cem Özdemir:
"Die ökologische Frage und die ökologische Modernisierung - das ist der Markenkern von Bündnis 90/Die Grünen, und davon ausgehend schlagen wir Brücken zu anderen Themen."
Selbstbespiegelung und Selbstfindung nach der Wahlschlappe. Es wird vieles beteuert, was die Grünen nicht seien, eben keine Ein-Punkt-Partei, keine Verbotspartei, keine dritte Linkspartei. Und die Grünen gestehen sich immer wieder ein, dass ihr Programm viel zu ambitioniert, viel zu detailliert und starr war. Katrin Göring-Eckardt:
"Wir hatten Antworten auf Fragen, die uns überhaupt niemand gestellt hat."
Die Folge - überforderte Wähler und Wahlkämpfer. Die Grünen haben schmerzlich erkannt, dass die Devise der CDU, möglichst viele Themen abzudecken, bei den Vorhaben aber möglichst allgemein zu bleiben, offenbar Erfolg versprechender ist.
Und die CDU, vielmehr die Union, ist dann auch Thema, als es darum geht, warum es Schwarz-Grün im Bund jetzt nicht geben kann, in Zukunft aber schon.
Immer wieder betonen die Delegierten in dieser Debatte die Eigenständigkeit, die sich die Grünen bei einer solchen Öffnung bewahren müssten. Wobei der Begriff viele verschiedene Definitionen erfährt. Die Delegierte Marie Dazert ärgert das. Die 21-Jährige hat im Kreisverband Hamm für ein Bundestagsmandat kandidiert.
"Wenn man das positiv besetzte Wort Eigenständigkeit dafür nutzt, gegen eine linke Mehrheit und für ein bürgerliches Bündnis zu werben, finde ich das sehr schwierig."
Tarek Al-Wazir, der in Hessen noch mögliche Bündnisse für eine Regierungsbeteiligung ausloten muss und will, sieht das natürlich etwas anders.
"Eigenständigkeit kann man nicht beschließen, sondern Eigenständigkeit, muss man leben, die muss man als Haltung haben. Und das wird unser Job sein in den nächsten Jahren."
In den kommenden Wochen kann der hessische Fraktionsvorsitzende demonstrieren, was er damit meint.
"Wir sondieren mit allen, das heißt, wir gehen mit der SPD zur Linkspartei. Und wenn die hessische FDP sich aus ihrem selbst gebauten Turm verabschieden möchte, dann würden wir sogar mit denen reden. Und wir reden auch mit der CDU. Und ich kann euch sagen, natürlich haben wir in Hessen eine lange Geschichte von dem, was uns trennt. Aber wir sondieren ganz ernsthaft…"
Das bedeute, keine Differenzen zu erfinden, wo vielleicht gar keine mehr sind. Tenor der Debatte und letztlich auch Beschluss - die Grünen müssen sich künftig für andere Bündnisse öffnen als Rot-Grün. Etwa für Rot-Grün-Rot oder für Schwarz-grün. Warum es diesmal nicht gereicht hat für Schwarz-Grün? Inhaltliche Differenzen werden genannt. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende Trittin erläutert, die Union habe sechs der neun grünen Schlüsselprojekte, also der wichtigsten Vorhaben abgelehnt.
"Wer mit Grünen regieren will, der muss beim Klimaschutz mehr und nicht weniger tun."
Die Ablehnung einer schwarz-grünen Koalition kommt bei Trittin daher, als trage sie den Merkel-Stempel "alternativlos"- eine Herangehensweise, die die Grünen ja eigentlich nicht wollen. Trittin setzt auf Abgrenzung - auf Alleinstellungsmerkmale der Grünen - seine Definition von Eigenständigkeit, auch nach dem Wahlkampf.
Aber auch Grüne sind erneuerbar - zumindest teilweise.
Jürgen Trittin wird nach seiner Rede als ehemaliger Spitzenkandidat und Fraktionsvorsitzender im Bundestag verabschiedet – mit standing ovations. Die Dankesrede hält seine Wahlkampfkollegin Katrin Göring-Eckardt.
"Das Erneuerbare Energien-Gesetz, das sich fast 50 Länder zum Vorbild genommen haben, ein echter Exportschlager. Und auch das haben wir Dir zu verdanken."
Sie würdigt Trittins politische Leistungen, und es klingt ein bisschen wie eine Grabrede, zumindest aber wie eine Verabschiedung in den Ruhestand, dabei sitzt der Partei-Linke weiterhin in der Fraktion.
"Du bist ja noch da,"
bemerkt dann auch Katrin Göring-Eckardt - nach ihrer Rede erheben sich die Delegierten ein weiteres Mal, Applaus für Jürgen Trittin und ein Blumenstrauß. Göring-Eckardt bleibt als Fraktionsvorsitzende in der ersten Reihe, er zieht sich nach hinten zurück. Einige in der Partei finden das ungerecht und unverständlich. Schließlich tragen beide Spitzenkandidaten eine Verantwortung für das Wahlergebnis. Mit der Vorstandwahl verhält es sich ähnlich. Etliche Delegierte äußern zudem den Unmut, nicht wirklich die Wahl zu haben. Zwei Kandidaten für zwei Posten - nach Flügelproporz ausgewählt, der bislang unbekannte Gegenkandidat ist chancenlos.
"Ich denke, es ist immer gut, wenn wir auch Auswahl haben. Wir sind eine basisorientierte Partei. Wichtig ist, dass es auch keine Niederlage ist, wenn man mal nicht gewählt wird. Ich würde mir das wünschen, dass wir mehr Kandidaten im Angebot hätten."
"Ich denke, dass die Leute, die fähig sind, sich auch beworben haben. Da kann man auch die Leute raussuchen."
"So wirklich ein personeller Austausch ist es nicht unbedingt. Also, da hätte man, finde ich, noch krasser verjüngen und erneuern können, als es jetzt so der Fall ist, finde ich."
Die Hälfte des Bundesvorstandes wird ausgetauscht. Und das ist eine echte Zäsur in der Geschichte der Grünen, denn Claudia Roth wird nicht mehr Teil der Parteispitze sein.
"I am what I am and what I am needs no excuses.”"
Schrill, bunt, bioenergiegeladen - laut, polarisierend: So ist Claudia Roth und so feiern und verabschieden die Grünen ihre langjährige Vorsitzende. Über die Leinwände auf der Bühne flimmert ein liebevoll zusammengestellter zehnminütiger Film über Stationen einer politischen Karriere, wechselnde Haarfarben und Kleidungsstile.
Im November vergangenen Jahres hatte eine BDK Claudia Roth noch mit großer Mehrheit wiedergewählt – nachdem sie zuvor als Spitzenkandidatin durchgefallen war. Standing Ovations diesmal auch für sie, der Saal ist voll und tobt, Roth ringt mit den Tränen.
"Du verkörperst die emotionale Wahrheit unserer grünen Politik wie niemand sonst."
Der Bundestagsabgeordnete Frithjof Schmidt hält eine der beiden Dankesreden.
Wieder gefasst tritt Roth ein letztes Mal als Vorsitzende ans Rednerpult. Mit der für sie typischen Vehemenz zählt sie alles Anliegen und Gruppen auf, für die die Grünen sich nach wie vor einsetzen sollten.
"Also lasst uns zusammen mit den Umweltverbänden gegen die Kohlekraft kämpfen. Lasst uns mit Bäuerinnen und Bauern gegen die Massentierhaltung kämpfen. Lasst uns mit Männern für die volle Gleichberechtigung von Frauen kämpfen."
Claudia Roth will Bundestagsvizepräsidentin werden, sie liefert eine fast staatstragende Rede über ihren Auftrag - ihr Erbe als Parteichefin - vorgetragen wie eine Antrittsrede:
"Lasst uns mit den Kirchen für die Schwächsten und gegen die Globalisierung der Gleichgültigkeit kämpfen…"
Eine lange Rede, Winfried Kretschmann in der ersten Reihe reibt sich bereits die Augen. Im Anschluss stehen noch einmal alle Delegierten auf, Roth nimmt Applaus, Jubel und Umarmungen entgegen, dann greift sie nach Handtasche, Blumenstrauß und Mantel und verlässt rasch die Bühne. Wenn eine Kamera auf sie zu kommt oder sie angesprochen wird, lächelt sie, dann wird ihr Gesicht wieder traurig und ernst, der Abschiedsschmerz ist ihr anzusehen.
Länger als eine Stunde dauert der Programmpunkt - Abschied von Claudia Roth. Sie war mehr als 11 Jahre lang die Galionsfigur der Partei - ein Polit-Promi, eine Celebrity. In ihre Fußstapfen zu treten, wird schwer. Wie gut, dass Roths Nachfolgerin ganz anders ist. Das wird es ihr und der Partei leichter machen. Simone Peter war Umweltministerin in der saarländischen Jamaika-Koalition, sie hat die Agentur für Erneuerbare Energien mit aufgebaut, sie ist Biologin, also durch und durch Fachpolitikerin für das grüne Kernthema. Eine unaufgeregte, pragmatische Frau, die mit diesen Eigenschaften vielleicht einmal mit Angela Merkel auf Augenhöhe über eine Zusammenarbeit verhandeln könnte.
"In den kommenden Jahren entscheidet sich, wem die Zukunft der Energie gehört - uns allen oder RWE und Co., der Kohle oder der Sonne. Das ist die Machtfrage."
Die 47-Jährige wird mit knapp 76 Prozent der Stimmen zur neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Ihr Landtagsmandat im Saarland gibt sie zurück.
Und dann wird es noch einmal typisch grün auf dem Parteitag - die viel beschworene Vielfalt zeigt sich in Person von Thomas Austermann. Das unbekannte Essener Parteimitglied bewirbt sich um den Posten des Bundesvorsitzenden. Austermann, etwas ungepflegt, übergewichtig und eher unkonzentriert, hat nicht wirklich Ambitionen auf das Amt, sondern eine Botschaft:
"Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg von deutschem Boden."
Zwei Prozent der Stimmen bekommt er letztlich. Bei Cem Özdemir, dem Kandidaten der es ernst meint, reicht es für eine solide Bestätigung im Amt des Bundesvorsitzenden. Für mehr aber auch nicht. Ein bisschen Strafe muss sein. 71 Prozent der Delegierten stimmen für ihn.
Integrativ will er künftig wirken. Die beiden Flügel sowie Bundes-, Länder- und Europapolitiker mehr zusammenbringen. Mit Blick auf die anstehenden drei Landtagswahlkämpfe im kommenden Jahr, auf einige Kommunalwahlen und die Europawahl.
"Also lasst uns aufhören damit, von denen in den Ländern versus denen im Bund zu sprechen versus denen in Europa. Wir sind eine gemeinsame Partei und so sollten wir auch auftreten in Zukunft."
Özdemir wird in Zukunft nicht mehr im Schatten von Claudia Roth oder anderen altgedienten Polit-Promis stehen. Nach seiner Wiederwahl bittet er die teilerneuerte Partei- und Fraktionsspitze auf die Bühne zum Gruppenbild -
"Ja, kommt mal weiter nach vorn, ist besser fürs Bild."
Und eröffnet vier Jahre Oppositionsarbeit. Die Zeit des Rückzugs, des Wunden Leckens - zumindest für diese vier, für Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, Simone Peter und Cem Özdemir, ist sie jetzt vorbei.