Die Geschichte beginnt im März 1969 in der Ostpreußenhalle am Berliner Funkturm. Der Sozialdemokrat Gustav Heinemann wird mit äußerst knapper Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt. Die Ära Brandt ist damit eingeläutet. Der Ich-Erzähler versucht Kindern den mühseligen Weg hin zu einem fortschrittlichen Deutschland am zögerlichen Gang einer Schnecke zu veranschaulichen:
Als die Schnecke, Fühler voraus, die Zielmarkung ahnte, zögerte sie: sie wollte nicht ankommen, wollte unterwegs bleiben, wollte nicht siegen. Nur eine Nachtschnecke. Mein langwieriges Prinzip. Erst als ich ihr versprach, ein neues Ziel zu stecken, als ich ihr Zukunft als Fraß scheibenweis schnitt, schob sie sich über die gedachte Linie und verließ die Ostpreußenhalle, ohne den Beifall der sogleich wieder anwesenden Mehrheit, ohne das Schweigen der Minderheit abzuwarten.
Hinter dem Ich-Erzähler verbirgt sich der hochambitionierte Wahlkämpfer Günter Grass, auf Werbetour für die SPD unterwegs in sechzig Wahlkreisen. Im ständigen Kampf gegen übersteigerte Reformerwartungen, besserwisserische Schriftstellerkollegen und Pfeifkonzerte von Achtundsechzigern wappnet sich der SPD-Trommler literarisch-metaphorisch - mit einer Schnecke, die nur knapp und selten siege, wie er schreibt, und:
… durch zugige Lehrgebäude, abseits schöngelegener Theorien und vorbei an versandeten Revolutionen ihre rasch trocknende Gleitspur zeichnet.
Zwar haben wir kein Endziel, aber ein Wahlkampfziel, Ablösung der Großen Koalition durch eine sozialliberale. Acht Sitze Mehrheit genügen, zwölf wären besser.
Die Schnecken-Eloge ist eine Absage an die extremen Ränder der Gesellschaft, die sich resignativ oder euphorisch verhalten, zwischen täglichen Ausbrüchen in die Utopie und Rückfällen in melancholische Klausur schwankend. In der Sozialdemokratischen Wählerinitiative lernt man auch die kleinen alltäglichen Freuden als Fortschritt zu schätzen:
In unserem Büro wird so getan, als gäbe es nur noch Schnecken. Jeder meldet kaum merkliche Fortschritte. Und Erdmann Linde erzählt von Erfolgen beim letzten Galopprennen. Immerhin den Einsatz zurück. Immerhin, Kinder, nehme ich dabei ab. Auch wenn es anstrengt macht es immerhin Spaß. Immerhin ist jetzt nicht Lübke, sondern Heinemann dran. Immerhin soll das Städtebauförderungsgesetz…Schneckendeutsch: Immerhin.
Das kam seinerzeit gut an im sozialdemokratischen Umfeld: Ein Literat, der die Langsamkeit der Politik bedichtet. So stieg die folgende Sentenz zu der SPD-Poesie der 1970er Jahre auf.
Nur wer den Stillstand im Fortschritt kennt und achtet, wer schon einmal, wer mehrmals aufgegeben hat, wer auf dem leeren Schneckenhaus gesessen und die Schattenseite der Utopie bewohnt hat, kann Fortschritt ermessen.
Der Widerspruch konnte nicht ausbleiben. So geißelte der langjährige Herausgeber des "Merkur", Karl Heinz Bohrer, die Schneckenmetapher" als eine unliterarische "Gegenutopie". Jene Bestimmung von Fortschritt gehorche dem faden Spießerprinzip, unliebsame Kritiker der bundesdeutschen Verhältnisse in die DDR, vormals: Ostzone, zu verwünschen, damit sie den heimischen Status quo wieder zu schätzen lernten.
Der Realist Grass erörtert nichts Denkbares, was der wirkliche Anspruch des Utopikers ist, sondern er erörtert die ideologischen Zerrbilder von Denkbarem.
Er verwechselt Utopie, was eine Denkform ist, mit der kulturrevolutionären Psychologie von Jugendlichen.
Utopisches Verhalten regrediert zur schlimmen Psychopathie von Jugendlichen:
1. Als Krankheit, die man fürsorglich heilen muss.
2. Als Unreife des noch nicht erwachsenen Menschen.
Am Ende sollte es gerade Günter Grass sein, der sich am meisten an seinem Schneckenprinzip versündigen sollte. So klagte er ein Vierteljahr nach Brandts triumphaler Wiederwahl, Anfang 1973, er habe damit gerechnet, dass nunmehr Ernst mit dem demokratischen Sozialismus gemacht würde. Stattdessen erlebe er aber "ein uninspiriertes Vor-sich-Hinwursteln". Also seine Schnecke im Kanzleramt. Willy Brandt sollte es dem häufig so nervigen Hofpoeten noch zurückgeben. In seinen letzten Erinnerungen 1988:
Von Grass stammt das Bild, dass die Schnecke den Fortschritt symbolisiere. Das konnte niemand von den Stühlen reißen und war doch eine sehr willkommene reformistische Wegbegleitung. Im Laufe der Jahre habe ich mit der Schnecke immer weniger anfangen können: In welche Richtung kriecht sie? Und weiß ich, wer sie zertritt? Jedenfalls war immer noch einmal zu lernen, dass es zwangsläufigen Fortschritt nicht gibt. Und dass zum geschichtlichen Prozess Rückschläge wie Sprünge gehören. Springen kann die Schnecke nun mal nicht.
Günter Grass: "Aus dem Tagebuch einer Schnecke"
Deutscher Taschenbuch-Verlag (1998)
328 Seiten, 12 Euro; ISBN: 978-3-423-12593-2
Als die Schnecke, Fühler voraus, die Zielmarkung ahnte, zögerte sie: sie wollte nicht ankommen, wollte unterwegs bleiben, wollte nicht siegen. Nur eine Nachtschnecke. Mein langwieriges Prinzip. Erst als ich ihr versprach, ein neues Ziel zu stecken, als ich ihr Zukunft als Fraß scheibenweis schnitt, schob sie sich über die gedachte Linie und verließ die Ostpreußenhalle, ohne den Beifall der sogleich wieder anwesenden Mehrheit, ohne das Schweigen der Minderheit abzuwarten.
Hinter dem Ich-Erzähler verbirgt sich der hochambitionierte Wahlkämpfer Günter Grass, auf Werbetour für die SPD unterwegs in sechzig Wahlkreisen. Im ständigen Kampf gegen übersteigerte Reformerwartungen, besserwisserische Schriftstellerkollegen und Pfeifkonzerte von Achtundsechzigern wappnet sich der SPD-Trommler literarisch-metaphorisch - mit einer Schnecke, die nur knapp und selten siege, wie er schreibt, und:
… durch zugige Lehrgebäude, abseits schöngelegener Theorien und vorbei an versandeten Revolutionen ihre rasch trocknende Gleitspur zeichnet.
Zwar haben wir kein Endziel, aber ein Wahlkampfziel, Ablösung der Großen Koalition durch eine sozialliberale. Acht Sitze Mehrheit genügen, zwölf wären besser.
Die Schnecken-Eloge ist eine Absage an die extremen Ränder der Gesellschaft, die sich resignativ oder euphorisch verhalten, zwischen täglichen Ausbrüchen in die Utopie und Rückfällen in melancholische Klausur schwankend. In der Sozialdemokratischen Wählerinitiative lernt man auch die kleinen alltäglichen Freuden als Fortschritt zu schätzen:
In unserem Büro wird so getan, als gäbe es nur noch Schnecken. Jeder meldet kaum merkliche Fortschritte. Und Erdmann Linde erzählt von Erfolgen beim letzten Galopprennen. Immerhin den Einsatz zurück. Immerhin, Kinder, nehme ich dabei ab. Auch wenn es anstrengt macht es immerhin Spaß. Immerhin ist jetzt nicht Lübke, sondern Heinemann dran. Immerhin soll das Städtebauförderungsgesetz…Schneckendeutsch: Immerhin.
Das kam seinerzeit gut an im sozialdemokratischen Umfeld: Ein Literat, der die Langsamkeit der Politik bedichtet. So stieg die folgende Sentenz zu der SPD-Poesie der 1970er Jahre auf.
Nur wer den Stillstand im Fortschritt kennt und achtet, wer schon einmal, wer mehrmals aufgegeben hat, wer auf dem leeren Schneckenhaus gesessen und die Schattenseite der Utopie bewohnt hat, kann Fortschritt ermessen.
Der Widerspruch konnte nicht ausbleiben. So geißelte der langjährige Herausgeber des "Merkur", Karl Heinz Bohrer, die Schneckenmetapher" als eine unliterarische "Gegenutopie". Jene Bestimmung von Fortschritt gehorche dem faden Spießerprinzip, unliebsame Kritiker der bundesdeutschen Verhältnisse in die DDR, vormals: Ostzone, zu verwünschen, damit sie den heimischen Status quo wieder zu schätzen lernten.
Der Realist Grass erörtert nichts Denkbares, was der wirkliche Anspruch des Utopikers ist, sondern er erörtert die ideologischen Zerrbilder von Denkbarem.
Er verwechselt Utopie, was eine Denkform ist, mit der kulturrevolutionären Psychologie von Jugendlichen.
Utopisches Verhalten regrediert zur schlimmen Psychopathie von Jugendlichen:
1. Als Krankheit, die man fürsorglich heilen muss.
2. Als Unreife des noch nicht erwachsenen Menschen.
Am Ende sollte es gerade Günter Grass sein, der sich am meisten an seinem Schneckenprinzip versündigen sollte. So klagte er ein Vierteljahr nach Brandts triumphaler Wiederwahl, Anfang 1973, er habe damit gerechnet, dass nunmehr Ernst mit dem demokratischen Sozialismus gemacht würde. Stattdessen erlebe er aber "ein uninspiriertes Vor-sich-Hinwursteln". Also seine Schnecke im Kanzleramt. Willy Brandt sollte es dem häufig so nervigen Hofpoeten noch zurückgeben. In seinen letzten Erinnerungen 1988:
Von Grass stammt das Bild, dass die Schnecke den Fortschritt symbolisiere. Das konnte niemand von den Stühlen reißen und war doch eine sehr willkommene reformistische Wegbegleitung. Im Laufe der Jahre habe ich mit der Schnecke immer weniger anfangen können: In welche Richtung kriecht sie? Und weiß ich, wer sie zertritt? Jedenfalls war immer noch einmal zu lernen, dass es zwangsläufigen Fortschritt nicht gibt. Und dass zum geschichtlichen Prozess Rückschläge wie Sprünge gehören. Springen kann die Schnecke nun mal nicht.
Günter Grass: "Aus dem Tagebuch einer Schnecke"
Deutscher Taschenbuch-Verlag (1998)
328 Seiten, 12 Euro; ISBN: 978-3-423-12593-2