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Mit vollem Bart und charakteristischem Nuscheln

"Der Rote Platz wird einem ohne ihn leer vorkommen", schrieb die taz, als der langjährige ARD-Korrespondent Gerd Ruge 1993 in den Ruhestand ging. Der bald 85-Jährige hat nun seine politischen Erinnerungen verfasst. Otto Langels über die Memoiren eines Mannes, der viel gesehen und darüber berichtet hat.

Von Otto Langels |
    "Die Panzer beginnen zu schießen, feuern in die Luft, versuchen die Barrikaden wegzuräumen. Die jungen Leute springen auf, mit Planen, um den Fahrern die Sicht zu versperren. Einer fällt runter, wird überrollt, mehrfach, das ist der erste Tote."

    Eine Reportage von Gerd Ruge aus dem Jahr 1991, als er für die ARD aus Moskau live über den Putschversuch gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow berichtete. Jahrzehntelang war er einer der profiliertesten Journalisten im deutschen Fernsehen, ein markantes, unverwechselbares Gesicht auf dem Bildschirm und ein ebenso charakteristisches Nuscheln beim Sprechen. Seine Erinnerungen, die er jetzt vorlegt, sind eine lesenswerte Reise durch die Welt des Kalten Krieges. Gerd Ruge hatte ein Gespür für politische Entwicklungen und das notwendige Glück, als Auslandskorrespondent von wichtigen Schauplätzen und dramatischen Ereignissen berichten zu können, insbesondere aus den USA, der Sowjetunion und China, jenen Großmächten, die der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufdrückten. Eine wichtige Konstante seiner journalistischen Laufbahn war die Neugier, fremde Länder und Menschen kennenzulernen.

    "Kurz nach dem Krieg, die ersten fünf Jahre oder zehn Jahre, war ja die einzige Möglichkeit, sich zu informieren über das, was im Rest der Welt passierte, dass man in irgendeinen Kontakt mit den Siegermächten kam."

    Der von den Engländern betriebene NWDR, aus dem später der NDR und der WDR hervorgingen, bot ihm die Möglichkeit, der professionellen Neugier nachzugehen. Bereits im Alter von 21 Jahren reiste er 1950 als erster deutscher Journalist nach Jugoslawien. Fünf Jahre später begleitete er Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau, um von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion zu berichten. Gerd Ruge schildert prägnant – ganz im Stil seiner Hörfunk- und Fernsehreportagen - das politische Geschehen jener Jahre, ohne selbst als Geschichtsschreiber aufzutreten. Er liefert keine neuen historischen Erkenntnisse, sondern konzentriert sich darauf, Ereignisse und Personen zu skizzieren und den Arbeitsalltag eines Korrespondenten zu beschreiben.

    "Wir hatten damals, als ich in Moskau anfing, da hatten wir noch eine Sekretärin, die machte nichts als Telefonnummern drehen nach Deutschland. Und es dauerte immer ungefähr zwei Stunden, bis ein Gespräch durchging nach Deutschland. Das ist so geblieben bis zum Ende der Sowjetunion."

    Gerd Ruge traf bekannte Politiker und Künstler wie Robert Kennedy, Boris Pasternak, Willy Brandt, Joan Baez oder Michail Gorbatschow, mit manchen war er befreundet, aber er erliegt nicht der Versuchung, sich in seinen Erinnerungen in den Vordergrund zu stellen. Ihn interessieren die gesellschaftlichen Veränderungen und der Alltag der Menschen.

    "Als ich 1976 das erste Mal das Dorf Hua Xi besuchte, war die politische und militärische Erziehung der Stolz der Gemeinde. Die Bauernfamilien, die hier lebten, kannten für Chinesen schwer auszusprechende Namen wie Marx und Engels, Dühring und Lassalle und hatten gelernt, dass Marx immer recht hatte. Als ich zweiundzwanzig Jahre später wieder nach Hua Xi kam, sprach man immer noch von einem Dorf, aber mittlerweile ragten viele Fabrikschornsteine auf. Die Bauernfamilie, bei der ich damals gewohnt hatte, war ausgezogen, und nun diente das Haus als Unterkunft für Wanderarbeiter. Von dem neuen Haus, in dem Frau Chaos Familie lebte, hätte bei meinem ersten Besuch niemand zu träumen gewagt: 450 Quadratmeter Wohnraum, so viel, dass in einigen der Räume gar keine Möbel standen."

    Solche Einblicke waren nicht immer und überall möglich. Der Autor hat häufig erfahren müssen, wie schwierig es gerade in Diktaturen ist, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen.

    "Wenn man im Ausland war, mit den Russen, dann war man natürlich in der schwierigen Lage, dass man gar keinen Zugang hatte zu dem, was die eigentlich selber überlegten und planten. In Peking, wenn Sie so wollen, noch stärker. In Peking waren wir ja alle von Informationen in einer Weise abgeschnitten, wie es ganz unmöglich war."

    Nach seinen Jahren in Peking ging Gerd Ruge für ein Jahr an die Harvard-Universität in den USA, um Material für ein Buch über China zu sammeln und Seminare zu geben. Es war ein großer Sprung von Peking nach Amerika, schreibt Ruge, und eine erstaunliche Erfahrung:

    "Hier an der Universität standen mir unendlich viel mehr Unterlagen zur Verfügung, als ich in China selbst je hätte bekommen können: Statistiken, Texte der innerparteilichen Auseinandersetzungen, Leitartikel lokaler Zeitungen, Politikerbiografien, Veröffentlichungen über wirtschaftliche Entwicklungen – es gab Unmengen detailliertesten Materials."
    Mit seinen knapp 85 Jahren blickt Gerd Ruge auf ein reichhaltiges Berufsleben zurück. Hin und wieder ist er noch im Ausland unterwegs und dreht Fernsehreportagen. Dies bietet ihm die Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen eines Korrespondenten vor 50 Jahren und heute zu vergleichen.

    "Die wesentlichen Veränderungen sind natürlich die enorme Menge von Informationen und die Geschwindigkeit der Informationen, die man nicht nachprüfen kann. Und der Korrespondent ist in der schwierigen Lage, das auswerten und ausschlachten zu müssen, und hat sehr oft kaum die Zeit dazu."

    Nicht zufällig hat Gerd Ruge sein Buch im Untertitel politische Erinnerungen genannt. Persönliches erfährt der Leser kaum, nur im Kapitel über seine Jugend im Nationalsozialismus erwähnt er beiläufig seine Familie und einige Freunde. Der Autor konzentriert sich ganz auf seine Erlebnisse und Erfahrungen als Journalist. Dabei gelingt ihm eine interessante Mischung aus politischen Beobachtungen und subjektiven Eindrücken, Alltagsbegegnungen und Beschreibungen weltpolitischer Ereignisse. Trotz seiner vielfältigen Erfahrungen tritt Ruge nicht als Welterklärer auf, er verzichtet auf tiefschürfende Analysen und verkündet keine Gewissheiten. Sein Fazit: Neugier und gesunde Beine seien das Wichtigste im Journalistenleben, und:

    "Das Leben besteht aus Fragen und Antworten und Fragen und Antworten, die zur nächsten Frage führen."

    Gerd Ruge: "Unterwegs. Politische Erinnerungen." Hanser Verlag, 328 Seiten, 21,90 Euro ISBN: 978-3-446-24369-9