Der Rechtsphilosoph Christoph Möllers lernt bei Thomas Mann: Man müsse versuchen, die Demokratie-Skeptiker zu verstehen. Denn die Demokratie lebt gerade durch diejenigen, die von ihr überzeugt werden müssen. Allerdings nur, solange diese Skeptiker nicht das Fundament der Demokratie untergraben: den Anspruch auf Wahrheit, warnt Michael Zürn, Experte für Internationale Beziehungen. Gefühlte Wahrheiten, Fake News, Lügen, das Leugnen wissenschaftlicher Fakten gehören nicht zu jener Skepsis, die den öffentlichen Diskurs weiterbringt. Christine Landfried, Expertin für Europäische Integration, zeigt, wie Bürger untereinander sowie Bürger und Politiker wieder strukturiert und lösungsorientiert miteinander diskutieren können: in Bürgerkonferenzen.
Das Projekt „55 Voices for Democracy“ des Thomas Mann House in Los Angeles regt dazu an, über die Demokratie in der Gegenwart nachzudenken und erinnert damit an die 55 Radioansprachen, mit denen sich Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs an Hörer in Deutschland, der Schweiz, Schweden, den besetzen Niederlanden und Tschechien wandte. Medienpartner sind der Deutschlandfunk, die L.A. Review of Books und die Süddeutsche Zeitung. Die Videos sind online bei der Villa Aurora Thomas Mann House veröffentlicht.
Christoph Möllers:
„Democracy depends precisely on those who doubt it and need to be convinced.“
„Democracy depends precisely on those who doubt it and need to be convinced.“
Christoph Möllers, geboren 1969, hat seit 2009 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Der Staat“ und war Bevollmächtiger der Regierungsorgane in Prozessen zum BKA-Gesetz, zur Vorratsdatenspeicherung und zum NPD-Verbotsverfahren.
Michael Zürn:
„And here we go back to the regulative idea of truth.“
„And here we go back to the regulative idea of truth.“
Michael Zürn, geboren 1959, ist seit 2004 Direktor der Abteilung „Global Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Professor für Internationale Beziehungen an der FU Berlin sowie Sprecher des DFG-Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“.
Christine Landfried:
„This is why citizen’s assemblies are a crucial step on the long way towards a revival of democracy.“
„This is why citizen’s assemblies are a crucial step on the long way towards a revival of democracy.“
Christine Landfried, geboren 1949, ist emeritierte Professorin für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Hamburg. Zu ihren Interessengebieten zählen die Verfassungspolitik, die internationale Gerichtsbarkeit, die europäische Integration sowie die politische Korruption.
In der Demokratie braucht es gerade die, die an ihr zweifeln und von ihr überzeugt werden müssen. In einer Diskussion, in welcher es die Wahrheit als Kriterium zu achten gilt. In Dialogen, wie sie vielleicht Bürgerkonferenzen schon vorgemacht haben. Willkommen zu einer Sendung, in der wir ergründen, wie wir das erhitzte Klima im öffentlichen Diskurs abkühlen und womöglich konstruktiv nutzen können. Mit Christoph Möllers, Michael Zürn und Christine Landfried – drei Stimmen für die Demokratie von insgesamt „55 Voices for democracy – 55 Stimmen für die Demokratie“ – so heißt eine Veranstaltungsreihe der Villa Aurora Thomas Mann House in Los Angeles. Hier denken Intellektuelle und Kunstschaffende in ihren Vorträgen über die Demokratie nach. Der Deutschlandfunk sendet einige dieser Vorträge in loser Folge als Medienpartner, Vorträge ganz im Sinne von Thomas Mann, der von 1940 bis 1945 aus dem Exil in Kalifornien Radioansprachen hielt – Reden, mit denen Thomas Mann die Demokratie erneuern wollte. Reden, die sich an die Menschen in Nazideutschland und in den besetzten Gebieten richteten und sie aufforderten, Widerstand zu leisten.
Christoph Möllers: Mann war nicht unpolitisch
Den Anfang in dieser Sendung heute macht Christoph Möllers. Er lehrt Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Zunächst stellt Möllers klar: Thomas Mann umflort noch immer die Aura des Unpolitischen, desjenigen, der eher über den deutschen Geist als konkret über demokratische Institutionen schrieb, so wie etwa seine Zeitgenossen Max Weber oder Ernst Troeltsch. Doch der Eindruck ist falsch und oberflächlich, arbeitet Christoph Möllers heraus. Von Mann lässt sich sogar noch heute lernen, wie man mit seinem politischen Gegner ins Gespräch kommen sollte – und warum:
„Vor diesem Hintergrund ist es interessant, noch einmal Manns erstes großes Bekenntnis zur Demokratie zu lesen, die Rede ‚Von deutscher Republik‘, die Mann zum 60. Geburtstag von Gerhart Hauptmann am 13. Oktober 1922 in Berlin hielt. Dort wird man neben einigem recht kruden, etwa einer demokratiepolitischen Rechtfertigung männlicher Homosexualität (hier wären mindestens drei Ausrufezeichen fällig), auch einen interessanten Umgang mit den Feinden der Republik entdecken. Diese sieht Mann ganz ähnlich wie Weber in seiner Rede zu ‚Politik als Beruf‘ und in Übereinstimmung mit der nachfolgenden historischen Forschung vor allem in der zeitgenössischen Jugend.
Ein besonderer Kniff der später veröffentlichten Fassung besteht darin, dass Mann eine protestierende Reaktion der rechten Studenten, das Scharren mit den Füßen, als hinzugedichtete Reaktion in den Text aufnimmt. So bekommt dieser mitunter fast etwas Dialogisches. Mann zeigt einem republikkritischen Publikum, dass er zur Kenntnis nimmt, wo seine eigenen Äußerungen schmerzhaft werden. Diese zugewandte Form wird inhaltlich unterfüttert. Er versucht, die demokratische Ordnung durch den Verweis auf deutsche Dichter und Denker zu rechtfertigen, deren weltanschauliche Glaubwürdigkeit namentlich bei Konservativen, zu denen er ausdrücklich auch sich selbst zählt, außer Zweifel steht.
So geraten Novalis, Nietzsche und George zu Zeugen der Vereinbarkeit einer als genuin deutsch verstandenen Ideologie mit der republikanischen Staatsform. Als liberal oder westlich verdammte Institutionen, vom Welthandel bis zum Völkerrecht, werden durch solche Zitate als mit dem deutschen Wesen kompatibel behauptet. Natürlich kommt uns diese Argumentation heute befremdlich vor. Die Essentialisierung der deutschen Kultur wirkt ebenso eigenartig wie die Annahme, mit den genannten Dichtern wäre eine moderne Demokratie zu begründen – wenn man auch zugestehen muss, dass die Zitate allesamt gut sitzen. Es muss letztlich auch offenbleiben, ob dieses Vorgehen von Mann als Strategie, gewissermaßen als politische List zu verstehen ist, oder ob er glaubt, was er sagt.
Mann spricht über und zu sich selbst
Interessanter als solche Motivforschung ist es aber, dass Mann in dieser Rede seine eigene politische Entwicklung dazu nutzt, um andere von der Demokratie zu überzeugen. Er spricht nicht als Politiker oder als echter Demokrat, sondern als jemand, der sich selbst davon überzeugen musste, dass die eigene ästhetische Existenz in einer demokratischen Ordnung möglich ist – und der, nachdem er sich davon überzeugt hat, auch andere davon überzeugen will. In den völkischen Studenten, deren Reaktion er in die Rede aufnimmt, sieht Mann eben auch sich selbst.
Man muss diesen Zugriff nicht über Gebühr idealisieren, um zu erkennen, dass hier etwas zu lernen ist. Zum Ersten, dass man sich für die schwierige Frage, wie man mit Gegnern der Demokratie umgehen soll, auch an die wenden sollte, die wissen, wie es ist, einer zu sein. Dabei geht es nicht um gefühlige Empathie, sondern um Verständnis in einem beschreibenden, nicht rechtfertigenden Sinn – und vielleicht auch um politische List.
Zum Zweiten, dass es gerade in Krisenzeiten kontraproduktiv sein könnte, so zu tun, als sei eine tiefe demokratische Gesinnung der einzige Weg, zu einem Unterstützer der Demokratie zu werden. Hier ist Mann deutlich politischer als seine demokratisch übererfüllenden Kritiker. Er unterstützt die Republik nicht, weil er sie für einen moralischen Selbstzweck hält, sondern weil sie es ihm ermöglicht, das kunstzentrierte Leben zu führen, das er leben will, und weil sie mit den kulturellen Wurzeln, auf deren Erhalt er besteht, vereinbar ist.
Mann zeigt handfesten Pragmatismus
Hinter den zu vielen, zu kunstvollen Worten dieses Vortrags verbirgt sich ein recht handfester Pragmatismus. Dies als ‚Herzensmonarchismus‘ eines Autors zu beschreiben, der zum ‚Vernunftrepublikanismer‘ geworden ist, erscheint doppelt verfehlt. Zum einen wird es dem gerade aus der Perspektive der republikkritischen Weltsicht argumentierenden Text nicht gerecht, der die Unvernünftigen einzufangen sucht. Zum anderen stellt sich die Frage, was genau das Problem mit ‚Vernunftrepublikanismus‘ sein sollte, was also gegen eine Anhänglichkeit an die Republik aus guten Gründen spricht. Wären Gefühlsrepublikaner zuverlässigere Demokraten?
Der Umgang seiner Kritiker mit Manns Politik unterstellt, dass man immer schon auf der richtigen Seite gewesen sein muss, um als Demokrat anerkannt zu werden. Wer sich hat überzeugen lassen, haftet dagegen Zeit Lebens für seinen politischen Irrtum. Der vermeintliche ‚Vernunftrepublikaner‘ Mann erinnert uns in seiner Rede übrigens daran, dass er als Sohn eines Lübecker Senators einer der im Deutschen Reich recht seltenen Geburtsrepublikaner war. Er hält eine weitere Lehre bereit: Die Demokratie ist gerade auf die angewiesen, die an ihr zweifeln und von ihr überzeugt werden müssen.“
Ein sehr zentraler Gedanke am Ende des Vortrags von Christoph Möllers: In der Demokratie wird Kritik nicht verboten oder tabuisiert, sondern eingebunden. Das treibt den Austausch der Ideen voran und schützt davor, dass sich Fronten bilden, die verhärten, dass die Diskussion erstarrt.
Christoph Möllers hat seinen Vortrag am 26. Oktober 2021 in der Villa Aurora Thomas Mann House in L.A. gehalten.
So positiv Möllers den Zweifel auch bewertet für die Demokratie – da gibt es ein Problem: Was, wenn die Skepsis so radikal ausfällt, dass sie den Diskurs selbst angreift?
Michael Zürn: Am Konzept der Wahrheit festhalten
Das gibt Michael Zürn in seinem folgenden Vortrag zu bedenken.
Michael Zürn ist unter anderem Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Und er führt zu Anfang aus:
In einer Gesellschaft, in der wir Probleme lösen wollen, indem wir miteinander reden, ist es wichtig, am Konzept der Wahrheit festzuhalten. Behauptungen müssen belegbar sein – eine erste Säule der liberalen Erkenntnislehre. Wir müssen uns gegenseitig Wahrhaftigkeit unterstellen können. Wir müssen annehmen dürfen, dass die anderen nicht einfach bloß empfundene oder erfundene Wahrheiten verbreiten – eine zweite, sozusagen intersubjektive Säule der liberalen Erkenntnislehre. Und die dritte Säule: Wir müssen uns Experten unterordnen, Experten, die mühselig errungene Wahrheiten unserer Zivilisation besser beurteilen können und sozusagen verwalten – gemeint sind Wissenschaftler.
Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, gibt es zwischen diesen Säulen Stress: Das subjektive Empfinden steht gegen die empirische Forschung, die Weisheit der Masse gegen das Wissen der Experten. Und wer sich im Diskurs nicht vertreten fühlt, der zweifelt grundsätzlich an, ob die Ergebnisse aus den öffentlichen Diskussionen überhaupt rational, fair, wahrhaftig zustandegekommen sind. Der Weg aus diesem Schlamassel führt wieder über die Wahrheit und die Weisen, wie wir mit ihr umgehen, analysiert Michael Zürn:
„Es bedarf zweier Rahmenbedingungen, unter denen potenzielle Spannungen zwischen den Säulen der liberalen Erkenntnislehre produktiv verarbeitet werden können. Die Akzeptanz des von Karl Popper so bezeichneten Falsifikationsprinzips ist an erster Stelle zu nennen. Popper bindet dieses ‚kritische Prinzip’ unmittelbar an die liberale Tradition an und verwirft damit die Idee ewiger Wahrheiten. Aussagen und Thesen mit empirischer Untermauerung können demnach nur so lange als gültig angesehen werden, wie sie nicht empirisch widerlegt oder falsifiziert worden sind. Das gilt nun nicht nur für die Wissenschaft, sondern in einem erweiterten Verständnis für alle drei Säulen der liberalen Erkenntnislehre.
Unabhängigkeit von Wissenschaft und Medien
Die zweite wichtige Rahmenbedingung ist die Annahme der politischen Neutralität und gesellschaftlichen Unabhängigkeit der Wissenschaft und der Qualitätsmedien. Die Rolle der Letzteren bezieht sich vor allem auf den Prozess der politischen Auseinandersetzung, sie fungieren zudem als Transferriemen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die Wissenschaft wiederum soll eine kritische Perspektive auf staatliche Macht bieten, dort ideologiekritisch überkommene Wahrheitsansprüche entlarven; und sie soll gleichzeitig technische Lösungen für die von der Politik definierten Probleme liefern.
Jetzt lässt sich leicht sehen, dass viele zeitgenössische Gegner der liberalen Demokratie deren Erkenntnislehre infrage stellen. Am offensichtlichsten trifft das auf den neuen religiösen Fundamentalismus zu. Im Kern handelt es sich dabei um Skripte, die alten Schriften den Status einer absoluten Kosmologie zuweisen, die keiner Kritik und Falsifikation ausgesetzt werden darf. Der religiöse Fundamentalismus ist keinesfalls auf den Islam beschränkt. Es gibt auch nach wie vor christlichen Fundamentalismus, der sich vor allem auf dem amerikanischen Kontinent großer Beliebtheit erfreut.
Die zweite grundlegende Herausforderung der liberalen Erkenntnislehre verbindet sich mit einer Ideologie, die man als autoritären Populismus bezeichnen kann. Dessen Infragestellung der liberalen Erkenntnislehre zeigte sich zuletzt etwa durch die Coronaleugner und durch die Leugnung der Wahlniederlage durch das Trump-Lager. Die Infragestellung des Klimawandels bot ebenso ein frühes Anzeichen für diese Entwicklung wie die permanente Rede von der ‚Lügenpresse’, die darauf abzielt, die Schiedsrichterfunktion der Qualitätsmedien im öffentlichen Diskurs infrage zu stellen. In diesen Kampagnen wird das politische Wort zu einer Waffe, mithin komplett von seiner Wahrheitsbindung befreit.
Wenn den Medien aber die Schiedsrichterfunktion abgesprochen wird, welche Mittel in der Auseinandersetzung erlaubt sind und welche nicht, besteht die Gefahr, dass öffentliche Auseinandersetzungen zu einem Schlachtfeld der Worte werden, die von ihrem Wahrheitsbezug komplett befreit sind.
Parallel dazu erklärt die ‚tribale Epistemologie’ die Republik der Wissenschaft als einen Verbündeten der liberalen und kosmopolitischen Klasse, die die Politik kontrolliert und es sich auf Kosten der einfachen Leute gut gehen lässt. Der Populismus erweist sich also genau dann als grundlegende Herausforderung und externe Anfeindung des liberalen Skripts, wenn er einer ‚tribalen Epistemologie’ folgt und die liberale Erkenntnislehre infrage stellt.
Auch gesellschaftskritische Positionen zielen zunehmend auf das liberale Wahrheitsregime. Teile der poststrukturalistischen und postkolonialen Theorie sprechen gerne von einer Pluralität von Wahrheitsregimen. In dieser Perspektive ist die liberale Erkenntnislehre nur ein Wahrheitsregime unter vielen, das dominant geworden ist, weil es aus der Perspektive kapitalistischer und kolonialer Zentren formuliert wurde. Deswegen sei in ihm auch der Imperialismus, der Rassismus und die Reproduktion von Ungleichheit und Diskriminierung eingeschrieben. Die Kritik an all diesen historischen und aktuellen Dominanzmechanismen, die Gesellschaften hervorgebracht haben, die sich selbst als liberal sehen, ist wertvoll.
Wer Diskriminierung kritisch anprangert, muss ein Verständnis von Toleranz und Gleichheit haben, das als solches als richtig zu gelten hat. Und hier sind wir wieder bei der regulativen Idee der Wahrheit.
Demokratie braucht Wahrheit
Die liberale Demokratie braucht die regulative Idee der Wahrheit und die Institutionalisierung von Instanzen für die Ermittlung von vorübergehenden, falsifizierbaren Wahrheiten. Ohne sie kann die liberale Demokratie nicht langfristig funktionieren. Die öffentliche Debatte macht ohne die Prämisse, dass es als wahr anzusehende Zusammenhänge und richtige Überzeugungen geben kann, keinen Sinn. Wenn alle empirischen Behauptungen und alle moralischen Überzeugungen gleichermaßen gültig oder ungültig sind, wird die öffentliche Debatte und die Suche nach dem Gemeinwohl zum fake.
Die Gefahren, die sich mit der Infragestellung der liberalen Erkenntnislehre verbinden, hat Thomas Mann in Pacific Palisades bei der Abfassung seiner Rede über Deutschland und die Deutschen nachgezeichnet. Demnach beruhe die ‚Tiefe’ der deutschen Seele auf dem, ‚was man Innerlichkeit nennt, das heißt: dem Auseinanderfallen des spekulativen und des gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und der völligen Prävalenz der ersten vor dem zweiten’.
‚Eine höchst positiv zu wertende Anlage’, so Mann weiter, ‚die aber durch eine Art dialektischen Umschlag sich ins Böse verkehrte. Die Deutschen ließen sich verführen, auf ihrem eingeborenen Kosmopolitismus den Anspruch auf europäische Hegemonie, ja auf Weltherrschaft zu gründen, wodurch er zu einem strikten Gegenteil, zum anmaßlichsten und bedrohlichsten Nationalismus und Imperialismus wurde.’
Wer eine Wiederholung vermeiden möchte, sollte das liberale Wahrheitsregime hochhalten, das die subjektive Innerlichkeit mit der öffentlichen Deliberation und den wissenschaftlichen Einsichten in Einklang bringt. Dann bringt uns die Opposition in der und die Kritik an der liberalen Demokratie weiter.“
Ein starkes Plädoyer für die Wahrheit als Fundament der Demokratie – in den Worten des Berliner Politikwissenschaftlers Michael Zürn. Er hat seinen Vortrag am 8. November 2021 in Los Angeles gehalten. So notwendig das Konzept ist, so abstrakt bleibt es allerdings auch. Der Diskurs in Michael Zürns Ausführungen scheint vor allem ein Diskurs zwischen großen, abstrakten Institutionen – Wissenschaft, Medien, Politikbetrieb.
Wie aber genau kommen Institutionen und Bürger, aber auch Bürger untereinander ins Gespräch? Und wie wird das, was man in der Diskussion erkennt, in politisches Handeln umgesetzt? Ganz im Sinne von Thomas Mann, der sagte: „Demokratie ist Denken; aber es ist ein dem Leben und der Tat verbundenes Denken.“
Christine Landfried: Bürger brauchen mehr Möglichkeiten, sich einzubringen
Hier hilft uns nun Christine Landfried aus. Sie ist emeritierte Professorin für vergleichende Regierungslehre an der Universität Hamburg.
Mit Michael Zürn ist sie sich in der Diagnose einig: In Europa und in USA bröckele das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger – in die politischen Eliten und sogar in die Institutionen an sich. Die Gesellschaft falle immer mehr auseinander, spalte sich in kulturelle Sphären und Informationsblasen auf, vor allem aber in Schichten: Die Globalisierung und Liberalisierung ab den 1970er Jahren habe die Ungleichheit vergrößert. Die politische Elite habe sich abgeschottet, die Möglichkeiten zur Mitwirkung begrenzt, analysiert Christine Landfried. Sie wünscht sich für die Bürger mehr Möglichkeiten, sich einzubringen, zum Beispiel in Form von Bürgerkonferenzen:
„Welche Reformen müssen wir auf den Weg bringen? Zwei große Reformvorhaben sind nötig, um die Demokratie zu erneuern: Zum einen müssen wir Wege finden, die es ermöglichen, die Debatte zwischen den Bürgern untereinander, als auch zwischen den Bürgern und den politischen Eliten zu beleben. Zum anderen brauchen wir eine effektive nationale, europäische und internationale Politik, die das inakzeptable Ausmaß an Ungleichheit bekämpft, das innerhalb der Nationalstaaten und zwischen den Nationalstaaten herrscht. Ich werde mich darauf beschränken, die erste Reform zu erörtern.
Um den Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Politik zu stärken, wurden in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten neue Formen der Bürgerbeteiligung eingeführt. Bürgerinnen und Bürger, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden und die Gesellschaft in all ihrer Vielfalt repräsentieren, nehmen an einer informierten Diskussion über politische Probleme und Konflikte teil und erarbeiten auf dieser Grundlage Vorschläge für Lösungen. Solche Bürgerversammlungen gibt es schon auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene. Ein Beispiel ist die Konferenz zur Zukunft Europas. Diese Konferenz stellte am 9. Mai 2022 ihre Empfehlungen vor. Sie gibt uns einen Einblick in die Arbeitsweise von Bürgerversammlungen.
Am Anfang wurden Bürgerinnen und Bürger per Zufall ausgewählt, erhielten einen Telefonanruf und wurden eingeladen, an der Konferenz teilzunehmen. Viele dachten zunächst, da erlaube sich jemand einen Spaß. Wie zum Teufel sollten ausgerechnet sie Vorschläge zur Zukunft Europas machen? Schließlich haben 800 Bürgerinnen und Bürger aus 27 EU-Mitgliedsstaaten an der Konferenz teilgenommen. In vier Foren von jeweils 200 Teilnehmern erarbeiteten sie an drei Wochenenden Vorschläge zu den Themen Klimawandel, Digitalisierung, Gesundheitssystem, Migration, Kultur und Bildung sowie zur Verbesserung der Demokratie in der EU.
Zufällig ausgewählte Bürger, beeindruckende Debatten
In diesen Foren bestand ein Drittel der Teilnehmer aus jungen Leuten, die zwischen 16 und 25 Jahren alt waren. Das Niveau der Debatten war beeindruckend. Die Bürger analysierten komplexe Probleme und konnten bei Bedarf auf Expertenwissen zurückgreifen. Sie hörten einander zu, respektierten unterschiedliche Ansichten, arbeiteten an Kompromissen und rangen um die richtige Formulierung und die richtige Übersetzung. Man darf nicht vergessen, dass die EU 24 Amtssprachen hat! Im Anschluss an die Panels gab es Plenarsitzungen und Arbeitsgruppen, in denen die Bürger mit Politikern diskutierten. Und auch hier bewiesen die Bürger kommunikative Kompetenz. Sobald die Politiker ihre Vorschläge bis zur Unkenntlichkeit veränderten, protestierten sie. Dieser Austausch zwischen Bürgern und gewählten Vertretern war das eigentliche Novum der Konferenz. Es ist ein Ansatz, der dazu beitragen kann, die repräsentative Demokratie durch Bürgerbeteiligung zu stärken.
Für den Erfolg der Konferenz wird es entscheidend sein, dass die Vorschläge umgesetzt werden. Wenn man die Bürger befragt, muss man ihre Antworten ernst nehmen! Dennoch hat die Konferenz bereits jetzt einen wichtigen Einfluss auf die europäische Politik gehabt: Einige der Vorschläge können auf Grundlage der bestehenden Verträge umgesetzt werden, während andere, wie die Einführung des Mehrheitsprinzips in der europäischen Außenpolitik, eine Änderung der europäischen Verträge erforderten. Damit haben die Bürger die überfällige Debatte über Vertragsänderungen durch einen Konvent und damit einen Neustart Europas auf die Tagesordnung gesetzt. Die politischen Eliten hingegen haben eine solche Debatte stets vermieden und es vorgezogen, das europäische Regieren in jeder neuen Krise durch intransparente Ad-hoc-Maßnahmen zu verändern. Dank der überzeugenden Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger wird dies nun nicht mehr so einfach möglich sein.
Die Konferenz zur Zukunft Europas hat den Dialog und damit den demokratischen Wert des Denkens aktiviert. Denn es ist der Dialog, so die Philosophin Hannah Arendt, der den demokratischen Wert des Nachdenkens hervorbringt. Demokratie verwirklicht sich im Prozess des Denkens, im Reflektieren über uns selbst, im Konfrontieren eines Argumentes mit einem Gegenargument und im Austausch unterschiedlicher Perspektiven in der Öffentlichkeit.
Bürgerversammlungen können Prozesse in Gang bringen
Neue Formen der Bürgerbeteiligung werden die wirtschaftliche Ungleichheit nicht verringern. Aber Bürgerversammlungen könnten einen Prozess in Gang setzen, in dem die politischen Eliten begreifen, wie hoch die politischen Kosten der Ungleichheit sind. Bürgerversammlungen eröffnen öffentliche Räume, in denen der dringend benötigte Dialog zwischen Bürgern und Politikern stattfinden kann, in denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und sozialen Schichten miteinander in Kontakt kommen und in denen die Menschen das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zurückgewinnen. Deshalb sind Bürgerversammlungen ein entscheidender Schritt auf dem langen Weg zur Wiederbelebung der Demokratie.”
Bürgerkonferenzen – ein Weg, die Gräben in der Gesellschaft zu überwinden, miteinander ins Gespräch zu kommen und die politische Willensbildung vom Einzelnen bis in die EU‑Institutionen hinein zu gestalten. Das ist die Vision der Politikwissenschaftlerin Christine Landfried, in einem Vortrag in der Villa Aurora Thomas Mann House in Los Angeles, gehalten am 5. Juli 2022. Eine Vision, die auch Christoph Möllers gefallen dürfte, der ganz am Anfang der Sendung zu Wort kam: Vielleicht lassen sich die Skeptiker und Zweifler ganz konkret in Bürgerkonferenzen einbinden. Einen Versuch wäre es wert, gerade auf örtlicher Ebene, ob im Dorf, in der Kleinstadt oder im Großstadtbezirk.
Damit geht Teil fünf der 55 Stimmen für die Demokratie zuende.
In der nächsten Woche hören Sie den sechsten Teil unserer Reihe zu den 55 Voices. Mit Vorträgen von Andreas Reckwitz, Walter Katz und Birte Meier.
Dann loten wir aus, wie Demokratien mit Erfahrungen von Verlust umgehen. Ob nun heute, wenn Inflation, Arbeitslosigkeit, Pandemien und andere Krisen das Versprechen von Wohlstand und Fortschritt auffressen – oder sogar seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten, wenn ganze Bevölkerungsgruppen benachteiligt wurden und Verlusterfahrungen für sie Alltag sind.
Alle Vorträge finden Sie auch im Netz bei Essay & Diskurs sowie auf den Seiten des Thomas Mann House, Los Angeles.